Desinformation

Russische Propaganda zur EU-Wahl: Die Schlacht vom 9. Juni

Europawahl 2024. Russlands Desinformations-Kampagnen werden professioneller – und zielen auf die Schwachpunkte der Union ab.

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Der Mann liegt auf dem Rücken im Dreck, den Blick flehentlich nach oben gerichtet, die Hände gefaltet. Das Bild, das vergangene Woche auf der Kurznachrichtplattform X verbreitet wurde, zeigt offenbar einen russischen Soldaten, der um sein Leben fleht. Chris Tomlinson findet es „traurig“, dass so viele Menschen auf X „Töten als Kriegserfolg“ sehen. Der konservative britisch-kanadische Journalist transportiert damit eine Erzählung, die Russlands Präsident Wladimir Putin gern weltweit verbreiten möchte: dass Russland Frieden wolle, während die Ukraine in dem Krieg der wahre Aggressor wäre – und ein Land, dessen Soldaten selbst einem flehenden Burschen kein Erbarmen schenken.

Wörtlich sagt Tomlinson das nicht. Aber er lässt Raum für genau solche Schlussfolgerungen. Es sind subtile, aber mit 22.655 Followern durchaus einflussreiche Stimmen wie seine, die den virtuellen Raum durchfluten und mit prorussischen Spins den Diskurs formen. Zigtausende solcher Accounts triggern EU-Skepsis, die Wut auf Brüssel und vor allem ein tiefes Unverständnis für die europäische Unterstützung der angegriffenen Ukraine.

Chris Tomlinsons Reichweite beschränkt sich nicht auf X. Er arbeitete – zumindest in der Vergangenheit – für „Voice of Europe“, eine Online-Nachrichtenplattform, die von Tschechien aus operierte und im März als russische Propagandamaschine entlarvt und daraufhin gesperrt wurde. Enthüllungen des tschechischen Geheimdienstes zeigen, dass Europa längst zu einem fruchtbaren Boden für Desinformation geworden ist. Wie profil berichtete, ist die Website seit 10. April wieder zugänglich – und wird mittlerweile von Kasachstan aus betrieben.

Politisch motiviert oder einfach unzufrieden?

„Russland nimmt jede Gelegenheit wahr, um in den Informationsraum Europas vorzudringen“, sagt Anton Shekhovtsov. Der Politikwissenschafter an der Central European University in Wien beobachtet, wie der Kreml mit europäischen Influencern kooperiert. Im deutschsprachigen Raum verbreitet wohl niemand so erfolgreich die prorussische Propaganda wie Alina Lipp. Die 30-Jährige aus Hamburg stellt sich als Friedensjournalistin dar; für ein Publikum von aktuell 186.210 Abonnenten übersetzt sie russische Beiträge und Kriegsupdates ins Deutsche – ohne erkennbare Distanz zu Putins Machtapparat. Ob Alina Lipp dafür Geld aus Moskau erhält, ist unklar.

Kremlfreundliche Blogger besetzen häufig auch aufgeheizte politische Debatten – und sprechen problematische Themen mit Konfliktpotenzial an. Die Proteste der europäischen Bauern sind ein Beispiel dafür, wie Putin innereuropäische Debatten für seine Zwecke ausnutzt: Seit dem Beginn des Angriffskrieges im Februar 2022 war die Ukraine immer wieder Opfer von Angriffen auf Lebensmittellager oder Blockaden von Häfen am Schwarzen Meer. Es ist ein Versuch Putins, den Transport von Getreide zu verhindern. Der Hintergrund: Kurz nach dem Angriffskrieg befreite die EU die Ukraine von Einfuhrzöllen, um ihre Wirtschaft zu stärken.

Politikwissenschafter Anton Shekhovtsov

„Russland nimmt jede Gelegenheit wahr, um in den Informationsraum Europas vorzudringen.“

Politikwissenschafter Anton Shekhovtsov

Doch Russlands Blockaden führten dazu, dass zeitweise kein Weizen aus dem Land gebracht werden konnte. Das trieb die Preise in die Höhe. Sie fielen wieder, seitdem Russland den globalen Getreidemarkt flutete. Die Zollbefreiungen der Ukraine waren deshalb vielen Bauern, vor allem im Osten Europas, ein Dorn im Auge – sie fürchteten ein Preis-Dumping. Die EU einigte sich, zollfreie Importe von Agrargütern auf eine bestimmte Menge zu reduzieren.

Bei ihren Protesten agierten die europäischen Bauern zwar nicht als manipulierte Desinformationstrolle. Dennoch nutzte Russland die Demos, um das Narrativ zu verbreiten, die EU kümmere sich nicht genug um die Agrarwirtschaft.

Elena Crisan

Elena Crisan

Wenn sie nicht gerade für den Newsletter "Ballhausplatz" mit Politiker:innen chattet, schreibt sie im Online-Ressort über Wirtschaft und Politik.