Ausland

Tschetschenen gegen ihren Willen im Ukraine-Krieg: „Munition müsst ihr euch selbst besorgen“

Tschetschenen, die aus Österreich abgeschoben wurden, müssen unter Androhung von Folter für die russische Armee gegen die Ukraine kämpfen. Ajub B., ein junger Tschetschene in Wien, verfolgt die Schicksale seiner Freunde. Ein Protokoll.

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Als es drei seiner Cousins erwischte, bekam Ajub B.* aus nächster Nähe mit, wie brutal die Mobilisierungstrupps in Tschetschenien vorgehen. Die Angst, von Ramsan Kadyrow, dem Präsidenten der russischen Teilrepublik und selbst ernannten „Fußsoldaten Putins“, in den Krieg geschickt werden, terrorisiert seit Wochen den Alltag junger Männer.

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Nun also Shamil*, 22, Yusuf*, 20, und Isa*, 18. Die Brüder sollten Einberufungspapiere unterschreiben, hätten sich geweigert und seien zusammengeschlagen worden.  Die Jüngeren studieren Jus und Medizin. Der Ältere arbeitet. Als er unlängst nach Hause kam, habe seine Schwester von Rauchfangkehrern berichtet, die an die Tür geklopft hätten. Shamil sei sofort klar gewesen, „dass es Agenten von Kadyrow waren“, und er habe ihr verboten, die Männer ins Haus zu lassen, sollten sie wiederkommen, erzählt Ajub B. 

profil traf den Tschetschenen, der Mitte 20 ist, in einem Schanigarten in Wien. Im Freien ist es kühl, aber man kann ungestörter reden. Er legt das Handy auf den Tisch, auf dem unablässig Nachrichten aus Tschetschenien aufflackern. Ajub B. hört Audiofiles ab, betrachtet Videos, liest Nachrichten. Unmittelbar danach löscht er alle Spuren der Kommunikation, um Verwandte und Freunde in Tschetschenien nicht zu gefährden. 

Wenig später, als die jüngeren Brüder von der Uni nach Hause kamen, seien die angeblichen Rauchfangkehrer erneut aufgetaucht. Die Schwester habe die Tür nicht aufgemacht. Sie seien über den Zaun gesprungen – zu viert oder fünft seien die Eindringlinge gewesen –, hätten sich gewaltsam Zutritt verschafft und ihre Brüder mit Schlagstöcken übel zugerichtet. Und sie hinterließen einen Befehl: Am 6. Oktober sollten Shamil, Yusuf und Isa  für den Krieg in der Ukraine gestellt sein. 

Zahllose Szenen wie diese ereigneten sich in diesen Tagen in Tschetschenien, „und während wir hier sitzen und reden, wird alles immer schlimmer“, sagt Ajub B. Was haben seine Cousins vor? Antwort: Sie seien Kadyrow-Gegner und würden sich „niemals in die Ukraine schicken lassen, um Unschuldige abzuschlachten“; wenn schon Krieg, „dann sicher nicht für den Teufel Putin, der unsere Vorfahren umgebracht hat“. 

Viele, die an die Front abkommandiert werden, entstammten widerständischen Familien. In jeder gäbe es Tote zu beklagen, Burschen und Männer, die in 
den zwei Tschetschenienkriegen zwischen 1994 und 2009 von Russen erschossen oder zu Tode gefoltert worden seien.

Nun versuche Kadyrow, Putins Vasall, sich aller zu entledigen, die ihm gefährlich werden könnten, indem er sie in den Krieg schicke. Männer im Alter von 18, 19 Jahren würden aus Bussen und Straßenbahnen gezerrt. Kadyrow-Schergen gäben sich als Lehrerinnen und Lehrer aus, die Unterschriften gegen den Krieg sammeln. Wer unterzeichne, werde zuerst eingezogen. Arbeitgeber setzten Mitarbeiter auf Rekrutierungslisten. 

Ramsan Kadyrow vor einem Putin-Gemälde

Die Kriegspropaganda schlägt sich in der Diaspora in Europa nieder.

Ajub B.s Cousins stünden bis zum 6. Oktober unter Hausarrest. Ihre Mutter weine sich „das Herz aus dem Leib“. Ihr Ältester habe kürzlich geheiratet. Flucht sei praktisch unmöglich. An jedem Pfad über die grüne Grenze seien Panzer und Soldaten postiert, sagt Ajub B. Anfang September habe man noch um 80 Euro in die Türkei fliegen können. Inzwischen müsse man dafür 14.000 bis 16.000 Dollar bezahlen. Bus-, Zug- und Fluggesellschaften dürften an 18- bis 65-Jährige keine Tickets verkaufen. Korruption und Bestechung stünden an der Tagesordnung. Aus dem Land schafften es nur mehr die Reichen. 

Drei von Ajub B.s Bekannten gelang es, sich mit gefälschten Studentenausweisen nach Georgien abzusetzen.

Auch mit ihnen hält er Kontakt. Die georgische Regierung sähe Tschetschenen ungern im Land, nicht zuletzt aus Angst vor eingeschleusten Kadyrow-Agenten. Flüchtlinge seien auf Hilfe aus der georgischen Zivilgesellschaft angewiesen. Seine Bekannten versuchten, über Aserbeidschan in die Türkei zu gelangen – und von dort nach Europa. 

Magomed* und Dzhokhar* hatten das bereits geschafft. Ajub B. kennt die beiden aus Wien. In Tschetschenien seien sie wegen eines regimekritischen Onkels regelmäßig vorgeladen, geschlagen und gefoltert worden. Das hätten sie den Asylbehörden in Österreich erzählt, doch man habe ihren Schilderungen nicht geglaubt. 2018 wurde Dzhokhar abgeschoben, zwei Jahre später Magomed. Seit 17. September kämpften sie gegen ihren Willen in der Ukraine.

„Wann kommt mein Bruder, mein Cousin, mein Onkel dran?“

Ajub B.

Als profil Ajub B. vergangene Woche trifft, ist die jüngste Nachricht von Dzhokhar wenige Stunden alt. Magomed, der zweite Bursche, antwortet nicht mehr. Es ist unklar, ob er noch am Leben ist: „Wenn ich ihm auf Signal (einer Chat-Plattform, Anm.) schreibe, kommt nur ein Hakerl. Er sieht meine Nachrichten gar nicht.“

Nach der Abschiebung hätten die beiden Tschetschenen Mühe gehabt, in ihrer Heimat Fuß zu fassen. Dzhokhar habe außer einem Onkel und einer Tante, die mit zwei im Rollstuhl sitzenden Kindern überfordert seien, niemanden gekannt.  Magomed fand über Bekannte einen Job, der nicht viel abwarf. Er baute in Schulen Regale zusammen. Als er angefangen habe, sich mit Krypto-Währungen ein Zubrot zu verdienen, seien Kadyrows Häscher aufmerksam geworden. Ständig hätten sie ihn finanziell geschröpft. Anfang September habe Magomed einen Einberufungsbefehl erhalten. Laut Ajub B. habe er sich widersetzt.

Anfangs hätte man junge Männer noch mit Geld an die Front gelockt. Ab Mitte September hätten Kadyrows Agenten die Gangart verschärft. 

Dzhokhar sei unterwegs gewesen, als seine Mutter angerufen habe, um ihm mitzuteilen, dass die Polizei ihn suche. Er sei am Revier vorstellig geworden und habe dort von seiner Einberufung erfahren. Auch er habe nicht unterzeichnen wollen. Die Polizisten hätten geschildert, wie sie seine Mutter und Schwestern vergewaltigen und Videos der Torturen in Umlauf bringen würden. Daraufhin habe Dzhokhar sich gebeugt.

Soldatenaufmarsch

Zeremonie am Roten Platz in Moskau anlässlich der Annexion ukrainischer Gebiete im September 2022

Er sei in derselben Kompanie wie Magomed gelandet. Die beiden seien getrennt worden, als ein Teil der Einheit abkommandiert worden sei. Eine Weile hätten die Burschen Kontakt gehalten, dann sei die Verbindung abgerissen. Wie ging es mit Dzhokhar weiter? Ajub B. sagt, sein Bekannter sei in einem schlechten Zustand; er habe von einer Hüftverletzung und brüllenden Schmerzen berichtet. Kameraden hätten eine Patrone aus seinem Becken gezogen. Nun drohten sie, ihn „nicht mehr lange mitschleppen“ zu wollen.

Autos fahren an dem Wiener Schanigarten vorbei. Mütter holen ihre Kinder aus den umliegenden Schulen. Büroangestellte strömen mittags in Lokale und zurück an ihre Schreibtische. Vis-à-vis findet ein Flohmarkt statt. Szenen friedlicher Urbanität. Ajub B. ruft ein Video auf. Man sieht zwei Männer in einem Stiegenhaus. Einer legt sein Bein auf die Treppe, der andere springt drauf. Ein Geräusch ist zu hören. Das Splittern eines Knochens.

Die Männer, über die Ajub B. spricht, sind in seinem Alter. Was täte er an ihrer Stelle? „Ich denke viel darüber nach“, sagt er. Es mehrten sich Berichte über Selbstverstümmelungen. Mitunter sollen sich zwangsweise an die Front geschickte Soldaten in der Ukraine absichtlich verwunden lassen, mit dem Kalkül, sich dann von ukrainischen Bataillonen gefangen nehmen zu lassen. Hier kämpfen auch tschetschenische Söldner gegen Putins Armee. 

Kürzlich habe Dzhokhan geschrieben: „Wenn du einen Bleistift auf ein dünnes Seil legst, musst du die richtige Stelle ganz genau erwischen, damit er hält. Ein Windhauch, und alles fällt zusammen.“ Auch seine Cousins hätten erwogen, zu Tschetschenen-Einheiten, die aufseiten der Ukrainer kämpfen, überzulaufen. Doch sie hätten den Plan verworfen, sagt Ajub B. Zu unberechenbar sei der Krieg. Lieber würden sie in Tschetschenien als in der Ukraine sterben: „Tausendprozentig.“

Dann ist da noch Alihan*, ein weiterer Cousin. Vor wenigen Wochen feierte er seinen 22. Geburtstag. Während der Pandemie habe er Essen und Medikamente an ältere Menschen verteilt. Viele, denen er geholfen habe, versteckten ihn nun vor den Mobilisierungseinheiten. Länger als zwei Nächte bleibe er nie an einem Ort, trotzdem rechne er jeden Moment damit, aufzufliegen, vertraute er Ajub B. an. Und dann? Sein Cousin gehe davon aus, „nie und nimmer in der Ukraine anzukommen“, sondern auf dem Weg dorthin „kaltgemacht“ zu werden. 

In oppositionellen Chatgruppen liest Ajub B. von eingezogenen Tschetschenen, die eine Waffe und ein Magazin mit 25 bis 30 Patronen in die Hand gedrückt bekommen. Im Falle eines Angriffs reiche das für 15 Minuten. „Munition müsst ihr euch selbst besorgen“, werde ihnen beschieden. Nur ausgewählte Rekruten, oft ehemalige Polizisten, kämen in Ausbildungscamps. Es ärgert Ajub B., wenn westliche Medien berichten, Kadyrow äußere sich abfällig über die militärischen Misserfolge Russlands, was als Kritik an Moskau zu deuten sei. Es passt nicht zu den Meldungen, die ihn jeden Tag erreichen. 

Der Mann einer Cousine habe ein Unternehmen gegründet, das gut laufe. Hier sei der 28-Jährige am helllichten Tag festgenommen worden. Nun sei er an die Front unterwegs – und entschlossen, sich ins Bein schießen und gefangen nehmen zu lassen. „Die Sache ist abgekartet“, sagt Ajub B. Seit kürzlich in Grosny Frauen vor Kadyrows Residenz dagegen protestierten, dass ihre Männer, Söhne, Brüder und Väter in die Schlacht ziehen müssen, würden auch Frauen angeworben. Unter dem Vorwand, an der Front würden Sanitäterinnen und Ärztinnen dringend gebraucht. Wer nicht freiwillig gehe, werde verschleppt, gefoltert, vergewaltigt. 

Ajub B. zeigt noch ein Video. Man sieht Kadyrow umringt von Gefolgsleuten. Unter ihnen Magomed Daudov, der im Juli in einem öffentlich gewordenen Filmmitschnitt Deutschland bedrohte – „Wenn uns Wladimir Putin nicht aufhält, so Gott will, werden wir auch Berlin erreichen“ – sowie der tschetschenische Politiker Adam Sultanowitsch Delimchanow, Mitglied der russischen Staatsduma für die Partei „Einiges Russland“. Kadyrow schimpft: „Wer nicht in den Krieg zieht, besitzt keinen Stolz und keine Ehre, ist kein Muslim und kein Mann.“ Daudov sekundiert, „Kämpfer in der Ukraine sterben für den Islam“, weil dort der Koran verbrannt werde.

Jede propagandistische Wende hallt in der tschetschenischen Diaspora wider. Erst habe man der Bevölkerung erklärt, die Ukraine sei Nazis in die Hände gefallen und müsse befreit werden, danach habe es gegolten, sich gegen einen NATO-Angriff zu verteidigen, nun würden Ehre und Religion beschworen. 
Auf dem Anti-Kadyrow-Kanal „1Adat“ tauchte eine Warnung auf: „Achtung!“, aus dem Kadyrow-Umfeld sei zu erfahren, dass Delimchanow „20 als Flüchtlinge getarnte Tschetschenen nach Europa schicken will“. Es soll sich um Männer Mitte 30 handeln, die „im Namen des Islam salafistischer Richtung“ Anschläge verüben und sich als „Anhänger von Itschkeria“ bekennen sollen, um Tschetschenen in Europa zu diskreditieren.  

Als Itschkeria bezeichnete sich die nach dem Zerfall der Sowjetunion ausgerufene Tschetschenische Republik, in der es ein – später von den Russen ausgeschaltetes – Parlament gab. 

In der Diaspora liegen die Nerven blank. „Buchstäblich jeder und jede, die ich kenne, ist so unter Druck, wie ich es noch nie erlebt habe“, sagt Ajub B. Jeder zermartere sich den Kopf: „Wann kommt mein Bruder, mein Cousin, mein Onkel dran?“ Und: „Was können wir von hier aus tun?“ Kurz vor Redaktionsschluss gibt es erneut Kontakt zu Dzhokhar. 20 Minuten habe er Zeit, schreibt er. Ajub B. erzählte von dem profil-Gespräch und fragt, wie es ihm gehe. „Eh bestens“, kommt zurück. Er habe sich nicht gemeldet, „weil zwei Kommandanten da waren“. 

Der Tschetschene lernte Deutsch, als er in Österreich lebte und textet, er sei eingezogen worden, nachdem er im Juli Papiere für einen Reisepass eingereicht habe: „Die haben gemeint, dass ich das wegen der Generalmobilisierung gemacht habe. Obwohl das schon Monate davor war. Und das haben sie als Grund genommen, um mich einzusperren und mich kurz danach in die Ukraine zu schicken.“ Er habe keine Chance gehabt, zu entkommen. Um sich in der Ukraine „ergeben“ zu können, müsse er „die perfekte Gelegenheit abwarten, weil man 24/7 von Bataillonsführern überwacht wird. Wenn sie auch irgendwie den Verdacht haben, dass ich mich den proukrainischen Widerständischen ergeben will, werden sie mich direkt kaltmachen.“ 

Kurz darauf reißt die Verbindung ab. „Ajub B. sagt: „Er gibt sich stark wegen dem Interview. Ich weiß, dass es ihm nicht ‚eh bestens‘, sondern total schlecht geht.“ Wie geht es ihm selbst? Er spüre Ohnmacht. Verzweiflung. Wut. Angst. Ajub B. sorgt dafür, dass seine Cousins und Bekannten nicht vergessen werden. Er würde gerne viel mehr tun.

*Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges