Endspiel in Kiew

Ukraine: Endspiel in Kiew - eine Analyse

Ukraine. Wer spielt auf Zeit? Wer hat am meisten zu verlieren?

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Die Opposition
Die Opposition scheint auf das Endspiel im Kampf um die Macht in Kiew gut vorbereitet. Sie hat in den vergangenen Wochen bewiesen, dass sie der Polizeigewalt ebenso trotzen kann wie der klirrenden Kälte und den Versuchungen, Lockangebote von Präsident Janukowitsch anzunehmen. Doch trotz ihrer bisherigen Erfolge weist die informelle Allianz Sollbruchstellen auf: Ideologisch reicht der Bogen vom Ultranationalismus der Swoboda-Partei unter Oleg Tjagnibok, der Kontakte zur rechtsextremen deutschen NPD nachgesagt werden, über die konservative Vaterlandspartei, die wegen der Inhaftierung der Parteivorsitzenden Julia Timoschenko von Arseni Jazenjuk geführt wird, bis zur pro-europäischen Anti-Korruptionspartei Udar von Vitali Klitschko.

Als präzise vorhersagbares Ablaufdatum der bisher währenden Geschlossenheit gilt der Zeitpunkt, an dem Janukowitsch zurücktreten sollte. Was dann? Die Roadmap der Opposition sieht für diesen ersehnten Moment „eine Verfassungsänderung und vorgezogene Präsidentschaftwahlen“ vor, sagt Andriy Shevchenko, Abgeordneter der Vaterlandspartei, gegenüber profil. Das würde „der größte Teil der Menschen“ akzeptieren, so der 37-Jährige. Mag sein. Aber die drei Oppositionsführer können sich bisher nicht einmal darauf einigen, wer dann Präsidentschaftskandidat sein soll – und mit welchem Programm?

So verlockend die unnachgiebige Haltung der Opposition gegenüber Janukowitsch sein mag, das Editorial Board der „New York Times“ riet den Anführern der Protestbewegung vergangenen Freitag, einen Kompromiss mit dem demokratisch gewählten Präsidenten zu suchen, anstatt das Land „ohne kohärenten Plan“ ins Chaos zu führen.

Klitschko, Jazenjuk und Tjagnibok müssen sich vorsehen, Janukowitsch nicht in die Falle gehen zu lassen. Dessen Ziel ist es, einen Keil zwischen die ungleichen Politiker zu treiben. Der Vorschlag des Präsidenten, die Opposition möge zwei Posten in der neuen Regierung besetzen, war wohl eine solche Finte. Hätte einer der drei ja gesagt, wäre er als Verräter der Protestbewegung dagestanden.

Die Oligarchen
Die mächtigen ukrainischen Oligarchen spielen im Richtungskampf von Kiew eine nicht unwichtige Rolle. Den Industriebaronen gehören Fernsehstationen und Zeitungen; wer nicht selbst politisch aktiv ist, verfügt über ergebene Parlamentsabgeordnete. Ein Teil der Oligarchen hat ein Interesse an der Sicherung des Status quo, um die Geschäfte nicht zu stören, andere sehen Janukowitsch als Risikofaktor – unter anderem auch, weil die Getreuen des Präsidenten in der Wirtschaft immer mächtiger werden. Beim Misstrauensvotum im Parlament standen sie noch hinter der Regierung, inzwischen hat der Milliardär und Kunst-Mäzen Viktor Pintschuk seine Sympathien mit den Demonstranten bekundet ebenso wie der „Schokoladekönig“ und Ex-Minister unter Janukowitsch, Petro Poroschenko: Die Oligarchen stellten sich auf ihre Seite, weil „sie ihr Land nicht weniger lieben als die Menschen auf der Straße“. Auch der Donezker Stahlbaron Rinat Achmetow, der reichste Mann der Ukraine und ehemalige Sponsor von Janukowitsch, teilte inzwischen über seine Holding SCM mit, dass „kategorisch jede Form der Gewaltanwendung“ abzulehnen sei. Das Unternehmen hoffe auf eine „starke und unabhängige Ukraine, die ein zuverlässiger Partner vor allem der EU und Russlands“ sein solle.

Staatspräsident Janukowitsch
Eine Krankmeldung ist um diese Jahreszeit keine ungewöhnliche Sache, zumal in Kiew, wo die Temperaturen bis auf minus 25 Grad Celsius fallen. Doch die Mitteilung, die am Donnerstag vergangener Woche, um 10.59 Uhr, auf der offiziellen Website des Präsidenten der Ukraine veröffentlicht wurde, hatte in ihrer Schlichtheit das Potenzial für nachhaltige geopolitische Verstörung: „Der Präsident der Ukraine ist aufgrund einer akuten Atemwegserkrankung, begleitet von Fieber, im Krankenstand.“

Ob Viktor Janukowitsch tatsächlich an einer bösen Bronchitis leidet oder aus strategisch-politischen Gründen auf Tauchstation gegangen ist, wird heftig diskutiert. Gründe, vorübergehend zu verschwinden, hätte er genug: Eine unbeugsame Demonstrationsbewegung, die seit nunmehr zehn Wochen den Maidan-Platz im Zentrum der Hauptstadt Kiew besetzt hält, will ihn stürzen, sein Land steht an der Kippe zu einem Bürgerkrieg. Ein Kompromissangebot, das eine Regierungsbeteiligung der Opposition im Tausch gegen eine Amnestie für verhaftete Demonstranten vorsah, wurde von Janukowitschs Gegnern abgelehnt und blieb ohne seine Unterschrift.
Hat der Präsident noch Trümpfe in der Hand? Durchaus. Eine Regierung der nationalen Einheit, die er und seine Gegner bilden könnten, würde von Brüssel bis Moskau für Erleichterung sorgen. Die Gefahr, dass die Ukraine in zwei Teile zerbrechen könnte, einen pro-europäischen Westen und einen pro-russischen Osten, wäre gebannt. Auch der freie Fall der ukrainischen Wirtschaft könnte so rasch gestoppt werden. Moskau würde seine – derzeit de facto eingefrorenen – Hilfsgelder freigeben, die EU könnte mit der neuen Regierung erneut über ein Assoziationsabkommen verhandeln.

Die Zeit läuft gegen Janukowitsch, weil seine Macht augenscheinlich schwindet. Fällt er, droht ihm ein Korruptionsprozess. Gleichzeitig läuft sie für ihn, denn je dramatischer sich die Situation zuspitzt, umso größer wird der internationale Druck auf die Opposition, sich mit Janukowitsch zu einigen. Spätestens dann wird der Präsident wohl aus dem Krankenstand zurückkehren.

Die Armee
Das Militär, das sich bisher weitgehend aus dem Konflikt herausgehalten hat, warnte zuletzt vor einer weiteren Eskalation der Lage und rief Präsident Janukowitsch dazu auf, dringende Maßnahmen zu treffen, um die Krise zu entschärfen. Die Besetzung staatlicher Gebäude durch Demonstranten sei unzumutbar. Der Präsident als Oberkommandant der Streitkräfte solle „im Rahmen der aktuellen Gesetze dringende Schritte ergreifen, um die Situation im Land zu stabilisieren“, heißt es in einer vergangene Woche veröffentlichten Erklärung. Verteidigungsminister Lebedew erklärte, das Militär werde sich nicht in den Konflikt einmischen, aber: „Die Armee wird die Verfassung genau befolgen, die ihre Rolle und Aufgaben ausführlich beschreibt – darunter Fälle, wo ein Einsatz möglich ist.“ Allerdings sympathisieren auch innerhalb der Armee manche mit der Protestbewegung: Der bisher bekannteste Überläufer ist Admiral Igor Teniukh, Oberbefehlshaber der ukrainischen Marine.

Die Protestbewegung
Die Massen am Maidan-Platz von Kiew und in anderen Städten sind nicht einfach die Gefolgschaft der Oppositionsführer. Keiner der drei Politiker kann die Demonstranten dirigieren; auch vereint könnten sie es nicht. Die Menge, die je nach politischer Lage an- und abschwillt, ist homogen in ihrer Ablehnung der herrschenden Führung, nicht aber in der Unterstützung der Oppositionspolitik. Das kann Vitali Klitschko, Arseni Jazenjuk und Oleg Tjagnibok in Verlegenheit bringen, etwa wenn sie mit dem Präsidenten etwas ausverhandeln, sich aber nicht sicher sein können, dass die Demons-tranten ihren Teil der Abmachung einhalten. Klitschko konnte vergangene Woche nur an die Besetzer des Justizministeriums appellieren, dieses wieder zu räumen, was sie schließlich taten – befehlen konnte er es ihnen nicht.

Zugleich ist die Autonomie der Protestierer auch ein Zeichen der Stärke gegenüber Janukowitsch. Er hat es nicht mit einer von Parteien gesteuerten Menge zu tun, sondern zu einem großen Teil mit aufgebrachten Bürgern. Als der Präsident extrem harsche Anti-Demonstrationsgesetze erließ und die Polizei am 22. Jänner brutale Zusammenstöße provozierte, stürmten tausende Ukrainer empört auf die Straße, um sich den Aktivisten anzuschließen.

Ende vergangener Woche war die Lage in den Straßen von Kiew und in den anderen Landesteilen ruhig, doch die Barrikaden, die Ausrüstung und die Organisation aufseiten der Demonstranten haben an Professionalität zugelegt – und damit an kriegerischer Potenz. „Ehre den Helden, Tod dem Feind“, ist der Gruß unter Demonstranten. Ihnen einen allfälligen Kompromiss schmackhaft zu machen, wird keine leichte Aufgabe.

Russland
Moskau steht hinter Präsident Janukowitsch – oder doch nicht? Russlands Präsident Wladimir Putin hat allen Grund, von seinem vermeintlich ergebenen Vasallen enttäuscht zu sein. Erst handelte dieser mit der EU ein Abkommen aus, dessen Abschluss Moskau erst im letzten Moment unterbinden konnte; dann erwies sich Janukowitsch in den Augen des Kreml als viel zu weich gegenüber der Revolte. Putin will die Ukraine im
russischen Einflussbereich halten, wohl weniger aus wirtschaftlichen Gründen denn aus solchen der Geopolitik und der lieb gewonnenen Idee eines Großreiches, das sich der Europäisierung – Zurückdrängen der Kirchen, progressive Gesellschaftspolitik – entzieht.

Moskau hat immer noch zwei gewichtige Argumente im Endspiel von Kiew: Geld und Gas. Doch ein geschwächter Janukowitsch, der immer größere Teile des Volkes gegen sich hat, taugt nicht, um diese Interessen auch durchzusetzen.

Die Ukraine kann es sich nicht leisten, Russland zum Feind zu haben. Außerdem sind vor allem in den Indus-triestädten des Ostens viele Ukrainer weiterhin der Meinung, dass eine Kooperation mit Russland für sie besser ist als die Öffnung des ukrainischen Marktes Richtung Europa.
Auch das spricht eher für eine Kompromisslösung. Zwar herrscht zwischen Moskau und Brüssel Eiseskälte, doch hinter den Kulissen wird nach Wegen gesucht, wie man das Entweder-Oder überwinden könnte, sodass die Ukraine sowohl mit der EU als auch mit Russland engere Beziehungen aufbauen kann.

Die USA
Als „Zirkus“ bezeichnete der russische Vizeministerpräsident Dmitri Rogosin das Treffen zwischen US-Außenminister John Kerry mit Führern der ukrainischen Opposition am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz vergangene Woche. Die USA erwogen nach gewaltsamen Polizeieinsätzen gegen Demonstranten in Kiew bereits im Dezember Sanktionen, die Visa mehrerer ukrainischer Behördenvertreter wurden bereits annulliert.

Verteidigungsminister Chuck Hagel hatte seinen ukrainischen Amtskollegen Pawlo Lebedjew bei einem Telefonat zuvor davor gewarnt, „in irgendeiner Art“ das Militär einzusetzen. Präsident Barack Obama betonte in der Rede zur Lage der Nation seine Unterstützung für die Protestbewegung: „Alle Menschen haben das Recht, sich frei und friedlich auszudrücken.“

Die EU
Die Europäische Union spielt in der ukrainischen Krise eine heikle Doppelrolle: Ihr geplantes Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, dessen Abschluss Präsident Janukowitsch im vergangenen November überraschend stoppte, war der Auslöser der Proteste. Damit ist die EU in dem Konflikt um die geopolitische Ausrichtung der Ukraine – pro-europäisch versus pro-russisch – zwangsläufig Partei. Gleichzeitig will sie jedoch den Part geben, der ihr am meisten liegt: jenen eines Vermittlers. Gernot Erler, der Russland-Koordinator der deutschen Bundesregierung, erläuterte vergangene Woche in Berlin die diplomatische Strategie: Die Besuche von Erweiterungskommissar Stefan Füle und der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton sollen dabei helfen, eine politische Lösung zu finden. Maßnahmen gegen Regierungsmitglieder will die EU nicht treffen, denn man könne nicht gleichzeitig Sanktionen verhängen und vermitteln. Ziel sei es, „so schnell wie möglich die Bildung einer handlungsfähigen Regierung in der Ukraine“ zu ermöglichen, so Erler.

Die Konfrontation mit Russland ist nicht zu leugnen, doch die EU hat großes Interesse, den Streit mit Moskau nicht eskalieren zu lassen. Sie braucht Russ­land bei der Bewältigung der Krisen in Syrien und bei den Verhandlungen mit dem Iran.

Sollte die Protestbewegung Janukowitsch stürzen, wird die EU der ukrainischen Wirtschaft rasch auf die Beine helfen müssen. Dann ist „soft power“ gefragt: Demokratisierung, Förderung des Rechtsstaates – also die eigentlichen Stärken Europas. Fraglich ist allerdings, ob die heute als „pro-europäisch“ bezeichneten Kräfte dann auch wirklich den Wertekanon der EU übernehmen wollen.

Mitarbeit: Simone Brunner, Michael Riedmüller, Christine Zeiner, Berlin

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur