Valentin Inzko zum Ukraine-Krieg: "Wir waren zu gutgläubig"

Plant Moskau auch eine Eskalation am Balkan? Ein Gespräch mit Valentin Inzko, dem ehemaligen Hohen Repräsentanten in Bosnien Herzegowina.

Drucken

Schriftgröße

profil: "Diplomaten sind bezahlte Optimisten." So ein Zitat von ihnen. War ihr Berufsstand vor dem Krieg Russlands zu gutgläubig?

Valentin Inzko: Absolut. Und auch Angela Merkel, mit der ich mich einmal sogar ganz kurz auf Russisch unterhalten habe. Sie hat Wladimir Putin vertraut und mit ihr alle anderen: Die Diplomaten, die OMV, Gerhard Schröder. Wir Diplomaten sehen bei jedem Gespräch etwas Positives. Wir sind häufig die Obervertrauer, eher selten die Mahner. 

profil: Wann weiß man, dass man mit dem Reden aufhören muss?

Inzko: Wenn rote Linien überschritten werden. Dann muss man Charakter zeigen. So wie der kürzlich verstorbene Fußballtrainer Ivica Osim von Sturm Graz. Er war Nationaltrainer von Jugoslawien, als Sarajevo bombardiert wurde. Die Bombardierung seiner Stadt war seine rote Linie.

profil: Wie haben Sie Ivica Osim kennengelernt?

Inzko: Das war 1995, gegen Ende des Bosnienkriegs, aber vor dem Friedensvertrag von Dayton. Ich habe in Tschechien das österreichische Kulturinstitut gegründet und Sturm Graz spielte gegen Slavia Prag. Ein ehrenhaftes Unentschieden. Ich habe Osim gefragt, ob ich mich für die Stelle des österreichischen Botschafters in Sarajevo bewerben soll.

profil: Die Stelle haben Sie bekommen. Jetzt, nach 47 Jahren im diplomatischen Dienst, leben Sie wieder da, wo Sie geboren wurden: In Feistritz im Rosental in Kärnten. Wie kommt es, dass Sie nirgendwo anders sesshaft geworden sind?

Inzko: Ich habe auch drei Jahre in den USA gelebt. Dort war es ganz normal, alle paar Jahre den Wohnort zu wechseln. Das ist in Österreich undenkbar, wo wir Bauernhäuser erben, die fünfhundert Jahre alt sind.

profil: In so einem Bauernhaus sitzen wir jetzt. Wo früher der Heuboden lag, ist heute Ihr Wohnzimmer.

Inzko: Ich bin Kärntner Slowene. Wir wollen hier bleiben. Das ist unsere Urheimat.

profil: Die letzten 12 Jahre mussten Sie in die andere Richtung, nach Sarajevo. Wie sind Sie dorthin gependelt?

Inzko: Ich habe circa tausend Flüge mit der Adria Airways hinter mir. Das waren fünfzig Minuten nach Ljubljana mit dem Auto und dann und noch einmal 50 Minuten mit dem Flugzeug.

profil: Und dann ging die Adria Airways bankrott.

Inzko: Die letzten zwei Jahre bin ich fast jedes Wochenende mit dem Auto gefahren. Das waren hin und zurück zirka 1.200 Kilometer.

profil: Ein Hoher Repräsentant hat bestimmt einen Chauffeur.

Inzko: Nein, ich bin selbst gefahren. Aber nur bis zur bosnischen Grenze. Dort hat die österreichische Cobra auf mich gewartet.

profil: Sie haben im März in einem Gastbeitrag geschrieben, dass Putin den Krieg in der Ukraine verlieren wird. Was macht Sie da so sicher?

Inzko: Wenn du den eigenen Staat verteidigst, bist du im Vorteil. Moralisch auf jeden Fall, aber auch strategisch, weil du das Terrain kennst. Die Ukraine ist der größte Staat Europas. Wie soll man 600.000 Quadratkilometer besetzen? Das ist nicht möglich. Die Ukraine hat sich seit der Besetzung der Krim auch militärisch vorbereitet. Man hat die Ukrainer unterschätzt und die Russen überschätzt. Putin ist es nicht gelungen, Kiew einzunehmen, so wie es der jugoslawischen Armee und Milosević in drei Jahren nicht gelang, Sarajevo zu erobern. Vietnam oder Afghanistan sind auch gute Beispiele wie ein Schwächerer mit Heimvorteil gewinnen kann. 

profil: Am Anfang der Invasion in der Ukraine hieß es oft fälschlicherweise, das sei der erste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Inzko: Die breiten Bevölkerungsschichten haben die Jugoslawienkriege vergessen. Die Bosnier haben sich fantastisch in Österreich integriert. Einem Bonmot zufolge sogar besser als die Deutschen. Aber wir hätten unsere Lehren aus den Kriegen ziehen müssen. Rund um die Ukraine waren 120.000 Soldaten stationiert. Bis zum letzten Tag hat niemand geglaubt, dass sie angreifen werden. Aber die sind ja nicht als Touristen hingekommen mit ihren Panzern.

profil: Die Ukraine bekommt schwere Waffen geliefert. Das war in Bosnien Herzegowina damals nicht der Fall.

Inzko: In Bosnien hat man sogar ein Waffenembargo eingeführt. Latif, der ehemalige Chauffeur der österreichischen Botschaft, hat mir dazu eine Geschichte erzählt. Die Soldaten zogen mit grün angestrichenen Kaminrohren, Geschützrohre vortäuschend, demonstrativ und gut sichtbar durch den Wald, um den Gegner abzuschrecken. Denn sie hatten anfänglich keine Waffen.

profil: Das ist fast 30 Jahre her. Warum sollten wir uns in Friedenszeiten für den Balkan interessieren?

Inzko: Wir investieren dort Milliarden und wir haben ein großes Handelsvolumen. Im Fall von Bosnien Herzegowina stehen wir bei einer Milliarde und im Fall von Slowenien sogar bei fünf Milliarden. Jede Investition, die wir auf dem Balkan tätigen, rentiert sich. Und unsere Sicherheit beginnt am Balkan. Der Attentäter von Wien kam vom Balkan.

profil: Der Attentäter von Wien mag Wurzeln in Nordmazedonien gehabt haben. Aber er war Österreicher und somit hausgemacht. Kann es sein, dass wir Probleme gerne auf den Balkan abschieben?

Inzko: Man darf nicht generalisieren. Aber ich bleibe  dabei, dass der Balkan eine Sicherheitszone ist, auf die wir ein Augenmerk legen sollten.

profil: In Bosnien Herzegowina, so warnen Sie, waren die Spannungen seit dem Krieg noch nie so groß.

Inzko: So ist es. Milorad Dodik (Anm. Bosnisch-serbischer Politiker in der Republika Srpska, dem serbischen Landesteil von Bosnien Herzegowina) sorgt seit Jahren für Spannungen.

profil: Mit der Sezession zu drohen gehört bei Dodik zum Tagesgeschäft.

Inzko: Stimmt, gerade dieser Tage wieder. Aber diesmal ist Dodik einen Schritt weitergegangen. Er hat angekündigt, eine eigene Armee zu gründen. Dodik erkennt auch die staatliche Arzneimittelagentur nicht mehr an. Er hat zudem angekündigt, aus dem Steuersystem und sogar aus dem Justizsystem auszuscheren. Er will Urteile des Verfassungsgerichtshofs nicht anerkennen, wenn ihm ein Urteil nicht passt!

profil: Ein Hoher Repräsentant hat umfangreiche Befugnisse. Sie hätten Milorad Dodik einfach absetzen können.

Inzko: Ja, und das hätte er längst verdient. Er hat das Abkommen von Dayton (Anm. Der Friedensvertrag beendete 1995 den Krieg) verletzt und die bosnische Verfassung.

profil: Dodik pflegt gute Kontakte zu Putin. Er soll ihn über 20-mal getroffen haben.

Inzko: Nach meinen Aufzeichnungen hat er ihn zwölf Mal getroffen, aber ja: Die kennen einander gut.

profil: Kann es ein bosnisches Ukraineszenario geben, in dem Russland eine unabhängige Republika Srpska anerkennt?

Inzko: Viele warnen vor einem Szenario wie in Transnistrien, wo sich ein russisches Marionettenregime im Osten der Republik Moldau befindet. Nur: Im UN-Sicherheitsrat wurde die territoriale Integrität und Souveränität Bosniens bestätigt. Auch Russland hat für die Aufnahme Bosniens in die UNO gestimmt. Das war vor genau dreißig Jahren, am 22. Mai 1992.

Wir wissen nicht, was Moskau vorhat. Aber Bosnien Herzegowina und auch Serbien sind umgeben von NATO-Staaten. Wer dorthin will, muss sie erst einmal durchqueren.

profil: Positionen sind wandelbar.

Inzko: Wir wissen nicht, was Moskau vorhat. Aber Bosnien Herzegowina und auch Serbien sind umgeben von NATO-Staaten. Wer dorthin will, muss sie erst einmal durchqueren. Im Endeffekt würde auch Serbien die Republika Srpska nicht anerkennen. Erstens, weil Belgrad die Verbindung nach Brüssel und Berlin wichtiger ist, und zweitens, weil Serbiens Präsident Aleksandar Vučić ja auch nicht will, dass Staaten den Kosovo anerkennen. Dodik spricht ständig vom Serbentum und wie bedroht es angeblich sei. Das sind alles Märchen. Die Serben in Bosnien Herzegowina sind am ehesten von Politikern wie Dodik bedroht, die keine Wirbelsäule haben. Seine Politik hat die Republika Srpska isoliert und ärmer gemacht. Dodik ist steinreich, während die Bevölkerung arm geblieben ist.

profil: Vor dreißig Jahren haben Sie sich angeblich noch ganz gut mit ihm verstanden.

Inzko: Stimmt. Wir waren per Du. Dodik war eine Hoffnung des Westens. Damals hat er noch gesagt, dass es in Srbrenica einen Genozid gegeben hat. Heute sind Ratko Mladić und Radovan Karadzić für ihn Nationalhelden. Ja mehr noch: Sie gelten ihm als Gründungsväter der Republika Srpska.

profil: Beide sind bosnisch-serbische Kriegsverbrecher, die mittlerweile rechtskräftig verurteilt sind.

Inzko: In Bosnien gab es Schulklassen, die Grafittis von Ratko Mladić besucht haben, um Fotos zu machen. Nach meinem Gesetz hat sich das geändert. Es gibt jetzt 80 Prozent weniger Genozid-Leugnung.

profil: Kurz vor Ende ihrer Amtszeit, im Juli 2021, haben Sie das nationale Strafgesetzbuch geändert. Wer heute leugnet, dass in Srebrenica ein Genozid geschah, der kann bis zu fünf Jahre ins Gefängnis kommen. Gelingt so eine echte Aufarbeitung?

Inzko: Auch die Nürnberger Prozesse in Deutschland wurden von den Alliierten initiiert. Eine Gesellschaft hat nach großen Kriegen oft nicht die Kraft, das im Alleingang zu tun. Deswegen braucht es zumindest anfänglich den Beistand der internationale Gemeinschaft. Auch wir hatten bis 1955 Alliierte in Österreich. 

profil: Warum haben Sie mit dem Gesetz zwölf Jahre gewartet?

Inzko: Weil ich auf die rechtskräftige Verurteilung von Ratko Mladić im Juni 2021 gewartet habe. Ich wollte den lokalen Politikern aber auch eine Chance geben, das Gesetz selbst im Parlament zu verabschieden. Das ist jedoch mindestens vier oder fünf Mal gescheitert.

profil: Die Reaktionen fielen nicht nur positiv aus. Sie haben immer wieder Morddrohungen bekommen.

Ich wünsche mir jedenfalls das andere Bosnien. Das Bosnien der guten Nachbarschaft.

Inzko: In einem Brief stand, dass sich der Absender für den 28. Juni eine Pistole kaufen würde.

profil: Eine Parallele zum Attentat am österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo 1914.

Inzko: Damals hat mir die Cobra empfohlen, den ganzen Tag eine schusssichere Weste zu tragen. Damit muss man leben. Ich wünsche mir jedenfalls das andere Bosnien. Das Bosnien der guten Nachbarschaft. Dafür gibt es ein eigenes Wort: "Komšiluk".

profil: Was bedeutet das?

Inzko: Wenn du in den Urlaub fährst und deinen Schlüssel automatisch den Nachbarn gibst.

profil: Hinter mir an der Wand hängt ein Bild. Es zeigt eine orthodoxe und eine katholische Kirche sowie eine Moschee nebeneinander. Leben verschiedene Religionen in Bosnien heute friedlich zusammen?

Inzko: Ja, auch mit den Juden, die vor 500 Jahren zu Tausenden aus dem katholischen Spanien vertrieben wurden und unter anderem in Bosnien Aufnahme gefunden haben. Es fällt mir da eine schöne Anekdote aus meiner Amtszeit ein. Hasan, ein Muslim aus Tesanj, hat in seiner Stadt die katholische Kirche, die in einem schlechten Zustand war, renoviert. 

Ich sage immer: Auf niedriger Ebene gibt es viele kleine Nelson Mandelas. Zum Beispiel Kroaten und Muslime, die Spenden sammeln, um die serbisch-orthodoxe Kathedrale in Mostar, die im Krieg gesprengt wurde, wieder aufzubauen. Sie steht heute an sichtbarer Stelle in dieser schönen Stadt. Ich hoffe, dass dieses alte Bosnien wieder aufersteht. Sonst werden noch mehr Menschen das Land verlassen.

profil: Seit dreißig Jahren existiert eine Beitrittsperspektive für die Westbalkanländer. Vielen geht der Prozess nicht schnell genug. Sie wandern lieber aus als zu warten.  

Inzko: Eine Perspektive, die zu weit entfernt liegt, ist nicht attraktiv. Jetzt muss sich Europa andere Schritte überlegen, wie man die Länder an sich bindet. Die EU müsste viel flexibler agieren.

profil: Zum Beispiel?

Inzko: Man könnte die Kohäsionszahlungen schon jetzt ausschütten und nicht warten, bis die Länder Mitglieder sind. Man könnte die Kandidaten ohne Stimmrecht zu Sitzungen in Brüssel einladen, zum Beispiel beim Auswärtigen Rat. In Bosnien könnte man den Euro einführen, was in Montenegro und dem Kosovo bereits gut funktioniert. Bei der Integration der DDR oder bei der Aufnahme von Zypern waren wir noch kreativ und flexibel. Als Bulgarien und Rumänien aufgenommen wurden, hat man beim Thema Rechtsstaatlichkeit auch ein Auge zugedrückt.

profil: Aber ist nicht genau das das Problem? Der französische Präsident Emmanuel Macron warnt, dass man sich am Ende viele kleine Orbáns in die EU holen könnte.

Inzko: Vermutlich gibt es Widerstände in der französischen Bevölkerung. Und diese Menschen muss man mitnehmen und ihnen sagen, dass die Europäische Union bei jeder Erweiterung stärker geworden ist. Wir müssen aber vom Einstimmigkeitsprinzip abrücken. Im Moment ist es so, dass auch das kleine Malta einen Beschluss aufhalten kann.

profil: Kompromisse zu finden ist auch in Kärnten nicht ganz einfach. Jahrzehnte wurde über zweisprachige Ortstafeln gestritten. Woher kommt diese Wut?

Inzko: Insbesondere der Heimatdienst (Anm. deutschnationale Organisation, gegründet 1957) hat da eine sehr negative Rolle gespielt. Jahrzehntelang hat er die Atmosphäre in Kärnten vergiftet. Es gab Publikationen und Demonstrationen gegen die Kärntner-Slowenen. Man hat zum Beispiel das staatliche slowenische Gymnasium als Gift bezeichnet.

profil: Sie haben diese Schule selbst besucht.

Inzko: Ja und ich bin stolz darauf. Aber lange davor, in der Hitlerzeit, wie auch danach, hieß es: „Kärntner sprich Deutsch“. Und der letzte, der so etwas gesagt hat, war Jörg Haider.

profil: Sie kannten Haider persönlich.

Inzko: Kurz vor seinem Tod habe ich Haider am Bleiburger Wiesenmarkt getroffen. Und da meinte er, die ganze Ortstafel-Kampagne diene nur dem Wahlkampf. Nach der Wahl werde es eine großzügige Lösung geben. 

profil: Immerhin eine ehrliche Antwort.

Inzko: Ich habe Haider in einem offenen Brief das Du-Wort entzogen. Er hat behauptet, dass Kärnten einsprachig wird. Damit wäre die slowenische Sprache verschwunden. Außerdem hat er Ausländer beschimpft, und meine Frau ist Ausländerin. Eine Slowenin aus Argentinien.

profil: Haben Sie in Bosnien etwas über das Zusammenleben von Volksgruppen in Kärnten gelernt?

Inzko: Dass niemand seine Identität aufgeben muss. Niemand muss in der Republika Srpska das Serbentum aufgeben oder den orthodoxen Glauben. Aber man soll auch die Gemeinschaft pflegen und die Kultur der anderen. Meine Hoffnung ist, dass dieses alte Bosnien mit den vier Religionen wieder aufersteht, aber in einem europäischen Rahmen.

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.