Hamas-Terroristen nach der Zerstörung eines israelischen Panzers.
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Das Geheimnis des 7. Oktober 2023

Warum der Terror-Überfall der Hamas bisher nicht von einer staatlichen Kommission untersucht wurde.

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Der 7. Oktober 2023 war der blutigste Tag in der Geschichte Israels, niemals seit dem Holocaust sind innerhalb so kurzer Zeit so viele Juden ermordet worden. An diesem Dienstag, dem zweiten Jahrestag des Überfalls der palästinensischen Terrororganisation Hamas, gedenkt ganz Israel der rund 1200 Todesopfer und hofft, dass die verbliebenen 48 Geiseln (rund 20 von ihnen sollen noch am Leben sein) dank eines Friedensabkommens, das derzeit in Ägypten verhandelt wird, nach Hause zurückkehren.

Die enorme Bedeutung, die der 7. Oktober für Israel hat, steht jedoch einem seltsamen Versäumnis gegenüber: Bis heute wurde der Terror-Überfall der Hamas von keiner staatlichen Kommission untersucht. Die Fragen, die beantwortet werden sollten, sind mehr als drängend: Wie konnte es der Hamas gelingen, einen so großangelegten Angriff, an dem rund 6000 Personen beteiligt waren, unbemerkt von den israelischen Geheimdiensten vorzubereiten? Warum waren die Sicherheitsmaßnahmen an der Grenze zwischen Gaza und Israel an diesem Tag völlig ungenügend? Weshalb dauerte es so lange, bis die israelischen Streitkräfte die Situation in der überfallenen Region wieder unter Kontrolle brachten?

Staatspräsident Isaac Herzog erklärte mehrfach, weshalb die Einsetzung einer Untersuchungskommission unerlässlich sei: „Wir müssen die Fehler und die Katastrophe studieren, um zu verstehen und daraus zu lernen.“ Zudem sei eine solche Aufarbeitung „der Beginn des Heilungsprozesses, den die israelische Gesellschaft und die Familien, die ihre Liebsten verloren haben, so dringend brauchen.

Keine staatliche Kommission einzusetzen, bedeutet, die Katastrophe des 7. Oktober wird wieder und wieder passieren.

Jair Lapid, Oppositionschef

Nach einem so folgenschweren Terroranschlag eine Untersuchungskommission einzusetzen, ist international üblich. Nach den islamistischen Anschlägen des 11. September 2001 in New York und Washington ermittelte die 9/11-Kommision, ein parteiübergreifender Ausschuss des Kongresses. Auch das französische Parlament setzte nach den islamistischen Anschlägen des Jahres 2015 eine Untersuchungskommission ein.

In Israel brachten mehrere Organisationen Petitionen beim Höchstgericht ein, um die Regierung zu zwingen, eine staatliche Untersuchungskommission an die Arbeit gehen zu lassen. Doch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wehrt sich. Er argumentiert, dass der 7. Oktober erst untersucht werden könne, wenn der Krieg in Gaza zu Ende sei. Außerdem möchte die Regierung die gesetzlichen Regeln ändern, wie die Mitglieder einer Untersuchungskommission ausgewählt werden. Doch für all das sei jetzt keine Zeit, so Netanjahu: „Jetzt ist unser Ziel der Sieg.“

So lange zu warten, ist erstens unüblich, denn auch der Krieg der USA in Afghanistan und die Jagd auf Al-Kaida-Chef Osama bin Laden waren noch viele Jahre im Gange, als die 9/11-Kommission ihren Endbericht längst fertiggestellt hatte. Außerdem warnt Israels Generalstaatsanwältin, dass eine Verzögerung die Qualität der Untersuchung beeinträchtige.

Oppositionsführer Jair Lapid urteilt scharf: „Keine staatliche Kommission einzusetzen, bedeutet, die Katastrophe des 7. Oktober wird wieder und wieder passieren.“ Resultat eines Untersuchungsberichtes sind neben der Aufklärung, was genau passiert ist, auch Empfehlungen, wie dies in Zukunft verhindert werden kann.

Netanjahu wird verdächtigt, eine Untersuchung möglichst lange hinauszuschieben, um zu verhindern, selbst die politische Verantwortung übernehmen zu müssen. Andere haben dies bereits getan: Aharon Haliva, Chef des Militärgeheimdienstes, trat 2024 mit den Worten zurück, er habe „die Aufgabe, die mir anvertraut wurde, nicht erfüllt“. Auch Generalstabschef Herzi Halevi reichte Anfang dieses Jahres seinen Rücktritt ein. Er habe „dabei versagt, die Bürger Israels zu schützen“, bekannte er.

Sollte der Krieg in Gaza tatsächlich bald zu Ende sein, wird die Forderung nach einer staatlichen Untersuchungskommission nicht mehr so leicht abzuschmettern sein. Dann wird Israel erfahren, warum das Desaster des 7. Oktober nicht verhindert wurde.

Robert Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur