Nirgendwo in der EU werden Homosexuelle und Transmenschen so offen diskriminiert, wie in Ungarn. Jetzt hat Viktor Orbán auch noch die Pride verboten. Ist er damit zu weit gegangen?
Betritt man das Büro von Andrea Sztraka, 33, dann steht man vor einem Stapel Kisten in Regenbogenfarben. Die Schachteln sind aus Karton – und alle leer. Vor wenigen Stunden haben Sztraka und ihre Mitstreiter den Inhalt der Polizei von Budapest übergeben: Listen mit 120.000 Unterschriften aus ganz Europa. Alle Unterzeichnerinnen und Unterzeichner haben sich im Rahmen einer Petition der Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ dafür ausgesprochen, dass die Polizei an diesem Samstag, dem 28. Juni, keine Gewalt gegen Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Regenbogenparade anwendet. Die Sorge ist berechtigt. Denn die Veranstaltung ist illegal.
Viktor Orbán, der rechtsnationalistische Ministerpräsident Ungarns, hat die Parade bereits im März verbieten lassen. Die Veranstalter wollen sie am Samstag dieser Woche dennoch abhalten. Wer hingeht, der riskiert eine Geldstrafe von bis zu 500 Euro. Dafür soll auch Gesichtserkennung zum Einsatz kommen. Der ungarische Justizminister hat in einem Schreiben an die Botschaften mehrerer EU-Länder klargestellt, dass die Pride „eine gesetzlich verbotene Versammlung“ sei.
Andrea Sztraka wird am Samstag trotzdem hingehen und mit ihr wohl eine Rekordzahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Ungarn und ganz Europa. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in einem Video ihre Solidarität mit der Pride ausgedrückt. Allein aus dem EU-Parlament reisen über 70 Abgeordnete unterschiedlicher Fraktionen an. Die Bürgermeisterin von Amsterdam wird da sein und der Bürgermeister von Brüssel. Aus den Niederlanden reisen der Bildungsminister und eine Staatssekretärin an, aus Spanien der Kulturminister. Aus Österreich nehmen unter anderem der NEOS-Klubobmann Yannick Shetty sowie der SPÖ-Gleichbehandlungssprecher Mario Lindner teil.
Die Pride, das ist der jährliche Marsch der sogenannten LGBTQ-Gemeinde, also von Schwulen, Lesben, Transpersonen und generell allen nichtheterosexuellen Menschen, auch als queer bezeichnet. Natürlich nehmen auch Heterosexuelle daran teil. Seit 30 Jahren findet ein solcher Umzug auch in Budapest statt.
Andrea Sztraka war 2017 zum ersten Mal dabei. Ihr Coming-out als lesbische Frau hatte sie da bereits hinter sich. Als Jugendliche, erzählt sie im Interview mit profil, habe sie keine Vorbilder gehabt, zu denen sie aufblicken konnte. „Ich hatte keine Vorstellung, dass ich als lesbische Frau ein glückliches Leben führen und eine Familie haben kann“, sagt sie.
Die 33-Jährige engagiert sich bei "Labrisz", einer seit den 90er Jahren existierenden Lesben-Organisation in Ungarn. Seit dem 2021 verabschiedeten Propaganda-Gesetz kann Andrea keine Workshops mehr an Schulen abhalten.
Tabuthema an Schulen
Sztraka wollte, dass es der jüngeren Generation besser geht als ihr damals. Sie begann, sich als Freiwillige bei „Labrisz“ zu engagieren, der ältesten Lesben-Organisation Ungarns. Gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Community ging sie in Schulen, erzählte von ihrem Coming-out und beantwortete Fragen. „Wir wollten damit zeigen, dass es okay ist, homosexuell zu sein“, sagt Sztraka.
Genau das ist in Ungarn seit vier Jahren nicht mehr möglich.
Ein im Juni 2021 verabschiedetes Gesetz macht es de facto unmöglich, in Schulen über nichtheterosexuelle Lebensweisen zu sprechen. Und nicht nur das. Auch die Werbe-, und Medienbranche ist betroffen. Buchhandlungen, die sich im Umkreis von 200 Meter einer Schule, einer Kirche oder einer Jugendeinrichtung befinden, müssen Bücher, die gleichgeschlechtliche Liebe thematisieren, in Plastikfolie einpacken. Filme, in denen ein schwules Paar zu sehen ist, dürfen erst spätabends, etwa nach 22.00 Uhr, gezeigt werden. Im Jahr 2022 strich der Privatsender RTL deswegen auch das Webvideo der Budapest-Pride aus seinem Programm. Coca-Cola geriet in die Kritik, weil auf seinen Plakaten zwei Männer zu sehen waren, die sich über eine eisgekühlte Flasche verliebt in die Augen schauen.
Die Räume für Menschen wie Sztraka werden kleiner und kleiner. „Wir haben das Gefühl, dass uns die Luft zum Atmen genommen wird“, sagt sie.
In Bezug auf Schulen bleibt das Gesetz vage. Was genau heißt „Homosexualität propagieren“? Wenn man es gutheißt? Oder reicht es schon, wenn man völlig wertneutral darüber spricht? „Immer mehr Lehrerinnen und Lehrer betreiben Selbstzensur. Sie haben Angst, überhaupt erst das Wort schwul oder lesbisch zu sagen“, beobachtet Sztraka. Das ist ein Klima, das an das Russland von Wladimir Putin erinnert, wo seit 2013 ein ähnliches Gesetz existiert, das Propaganda für Homosexualität unter Strafe stellt. Mit dem Unterschied, dass Ungarn Mitglied der Europäischen Union ist.
Sztraka nennt ein Beispiel, das an ihre Organisation herangetragen wurde.
In einer ungarischen Klasse wird über Beziehungen diskutiert. Jemand erwähnt, dass sich auch zwei Männer ineinander verlieben können. Die Lehrerin stimmt dem zu und sagt, dass das in Ordnung ist. Am nächsten Tag bekommt sie einen Anruf von der Schuldirektorin und wird zurechtgewiesen. Offenbar hat sich ein Elternteil beschwert.
„Das erinnert mich an die kommunistische Zeit, als Menschen einander denunziert haben“, sagt Ádám Kanicsár. Der 35-Jährige sitzt im Hinterhof eines Kulturzentrums und trinkt Club Mate mit viel Eis. Nicht viel ist bekannt über den Ablauf der Pride am Samstag. Sicher ist nur, dass es sehr heiß sein wird. Die Veranstalter rufen schon jetzt dazu auf, genügend Wasserflaschen auf die Straße mitzunehmen. Kanicsár ist seit Jahren in der Community unterwegs, weiß aber auch nicht, was ihn am Samstag erwarten wird. Die Veranstalter hüllen sich bezüglich der genauen Details in Schweigen. Sicher ist nur: Der Bürgermeister von Budapest, Gergely Karácsony, unterstützt die Veranstaltung und ruft Bürgerinnen und Bürger dazu auf, mit ihm durch die Stadt zu marschieren. Kanicsár ist hoffnungsvoll. „Das wird die größte Pride in der Geschichte Ungarns sein“, sagt er, „und ich glaube, das ist der Anfang vom Ende der Fidesz-Herrschaft.“
„Das wird die größte Pride in der Geschichte Ungarns sein"
Fidesz, die Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán, ist seit 15 Jahren ohne Unterbrechung an der Macht. „Sie haben mir meine besten Jahre gestohlen“, sagt Ádám Kanicsár, „zuerst meine Zwanziger, und wer weiß, vielleicht auch noch meine Dreißiger.“ Als schwuler Mann fühle er sich zunehmend als Bürger zweiter Klasse, sagt er. Einfach deswegen, weil er nicht in das von Orbán verbreitete Narrativ eines „echten“ und „guten“ Ungarns passe: „Ihm schwebt ein Ungarn vor, in dem alle weiß und heterosexuell sind, mindestens drei Kinder haben und wo Männer und Frauen ganz genau wissen, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. Aber Ungarn ist viel bunter als das.“
Auch er sei ein „echter Ungar“, sagt Kanicsár. Er liebe sein Land und wolle sich seinen Patriotismus nicht absprechen lassen, nur weil er schwul ist.
Ádám Kanicsár wurde 1990 geboren, ein Jahr, nachdem der Eiserne Vorhang an der ungarisch-österreichischen Grenze eingerissen wurde. Als er ein Baby war, zog die Sowjetunion ihre Truppen aus Ungarn ab. Der junge Viktor Orbán gab sich damals liberal und westlich. Er warb für Meinungs-, und Pressefreiheit und studierte mit einem Stipendium des Milliardärs George Soros an der britischen Universität Oxford. Derselbe Orbán hat heute die Presse auf Linie gebracht, das Fach „Genderstudies“ in Ungarn verboten und die renommierte „Central European University“ (CEU) aus dem Land vertrieben. Seit Jahren propagieren er und die ihm nahestehenden Medien und Thinktanks ein christliches Familienbild.
Der Bevölkerungsrückgang in der Gesellschaft soll nicht mit Zuwanderung abgefedert werden, sondern durch mehr Geburten. Frauen in erster Ehe, die viele Kinder bekommen, bekommen günstige Kredite und andere Bezüge. Diese familienbezogenen Leistungen gelten freilich nur für heterosexuelle Paare. Für Homosexuelle hingegen wird es immer schwieriger, Kinder gemeinsam großzuziehen.
Für immer auf der Adoptionsliste
Davon erzählt die Juristin Eszter Polgári, die für eine Organisation in Budapest homosexuelle Paare berät, die Kinder wollen. Schwanger zu werden, sei für lesbische Paare gar nicht das Problem per se, so Polgári. Sie können im privaten Umfeld einen Spender finden oder sich im Ausland befruchten lassen. Das Problem beginne erst, wenn sie ihr Kind in Ungarn registrieren. Nur die biologische Mutter gilt bei den Behörden als legaler Elternteil. Die zweite Mutter hat keine Rechte. Stößt der biologischen Mutter etwas zu, erhält ihre Partnerin etwa kein Sorgerecht für das gemeinsame Kind. Noch schwieriger haben es schwule Männer. „Ich vertrete Paare, die seit fünf Jahren warten und es noch immer nicht auf die Adoptionsliste geschafft haben“, sagt Polgári.
In der Realität gibt es natürlich Tausende Regenbogenfamilien in Ungarn, sagt die Juristin. Sie haben sich damit arrangiert, dass sie nicht dieselben Rechte wie heterosexuelle Paare haben. Und sie müssen mit einer Stigmatisierung leben, die vielen unter die Haut geht. Seit Jahren propagiert die Regierung in Budapest, dass Homosexuelle eine Gefahr für Minderjährige darstellen. Das ist auch der offizielle Grund, warum die Pride verboten wurde.
Unter dem Vorwand des Kinderschutzes
Im Jahr 2020 geriet Orbáns Fidesz in Erklärungsnot, nicht entschlossen genug gegen pädophile Straftäter vorzugehen – auch in den eigenen Reihen. Exemplarisch dafür steht der Fall des Diplomaten Gábor Kaleta, Ungarns ehemaligem Botschafter in Peru. Er war wegen des Besitzes von rund 19.000 kinderpornografischen Bildern verurteilt worden.
Ein Jahr später, im Mai 2021, brachten Fidesz-Abgeordnete einen Gesetzesentwurf „zu härteren Strafen für pädophile Straftaten“ im Parlament ein. Doch bereits kurz darauf, am 10. Juni 2021, wurden Passagen eingearbeitet, die gar nichts mit Pädophilie zu tun haben. Fortan sollte auch der Zugang zu Inhalten, die Homosexualität oder Transidentität „darstellen“ und „propagieren“, für Minderjährige unter 18 Jahren verboten sein.
Bereits in den Monaten davor lenkte Orbán den Fokus auf die LGBTQ-Gemeinde im Land. „Ungarn ist hinsichtlich der Homosexualität ein tolerantes, ein geduldiges Land. Doch gibt es eine rote Linie, die man nicht überschreiten darf: Lasst unsere Kinder zufrieden!“, lautet etwa ein Zitat von ihm.
Dahinter steckt auch Kalkül, glauben viele. „Die Strategie von Fidesz zielt darauf ab, immerzu neue Feindbilder zu schaffen“, sagt Ádám Kanicsár, der schwule Mann aus Budapest. Zuerst, erzählt er, waren es Migranten, die nach Westeuropa flüchten und die Orbán mit einem Zaun abzuhalten versuchte. Dann waren es „die Bürokraten“ in Brüssel. Seit dem Krieg in der Ukraine ist es Präsident Wolodymyr Selenskyj als Putins Gegenspieler. „Rund um das Jahr 2020 gingen Orbán die Feindbilder aus“, glaubt Kanicsár. Im selben Jahr wurde ein Gesetz verabschiedet, das es Transmenschen unmöglich macht, ihr Geschlecht amtlich zu ändern. Wieder ein Jahr später folgte das Propaganda-Gesetz. Dass Orbán 2025 auch noch die Pride verboten hat, hat mit den Wahlen im nächsten Frühling zu tun, glaubt Kanicsár. Denn mit dem Oppositionellen Péter Magyar, der selbst einmal Teil der Fidesz war, ist Orbán ein mächtiger Gegenspieler entwachsen. In Umfragen liegt Magyars Partei „Tisza“ auf Platz eins vor Fidesz.
Das Pride-Verbot sollte eine „Falle“ für Péter Magyar sein, glaubt Kanicsár. Nichts festigt die Macht besser als eine polarisierte Gesellschaft und gespaltene Opposition.
Kanicsár glaubt, dass Orbán am Ende über das Pride-Verbot stolpern wird. Denn immer mehr heterosexuelle Menschen in Ungarn verstehen, dass es dabei auch um sie geht. „Es geht darum, einen Protest abhalten zu dürfen. Heute trifft es uns, aber morgen trifft es andere Gruppen“, sagt er.