Wladimir Putin

Wladimir Putin: Für immer Präsident

Der Ausgang der Präsidentenwahlen am kommenden Sonntag ist fix: Wladimir Putin wird zum vierten Mal Staatschef. Warum wählen die Russen seit der Jahrtausendwende immer den gleichen Mann, der die Demokratie eingeschränkt und die Korruption ausgebaut hat?

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So sieht ein Wahlkampffinale auf Russisch aus: Plakate für den Amtsinhaber und seine Herausforderer sind im Stadtbild von Moskau nur sehr vereinzelt zu sehen - dafür ist eine Parole flächendeckend affichiert: "Wir wählen den Präsidenten - wir wählen die Zukunft." Offenbar geht beim zentralen Wahlkomitee die Angst um, dass am kommenden Sonntag, 18. März, zu wenige der rund 144 Millionen Russen (Quelle: Statista) zu den Urnen gehen, weil die Wahlen allen egal sind - den Bürgern ebenso wie den Kandidaten.

Das liegt vermutlich daran, dass der Ausgang jetzt schon feststeht: Wladimir Putin wird gewinnen und zum vierten Mal in den Kreml einziehen. Diese Gewissheit zeigt sich auch darin, dass sich der 65-jährige Staatschef nicht in die Niederungen des Wahlkampfes herablässt. Er spricht nur manchmal vor und zu seinem Volk. Bei einer Rede vergangene Woche verkündete er, dass Russland eine neue Generation an Atomwaffen entwickelt habe. Beim nächsten Auftritt im Fußballstadium Luschniki, Russlands wichtigster Arena bei der Fußball-WM im Juni 2018, ließ er sich als Führer eines "starken Russlands" inszenieren.

Stabilität und Sicherheit - das sind auch die Losungen, die bei den Putin-Fans verfangen, die aus diesem Anlass ins Fußballstadion gekommen waren, um "unseren Präsidenten" anzufeuern. Wie Irina, eine 38-jährige Hausfrau aus Moskau. "Ein stabiles und sicheres Russland gibt es nur mit ihm", sagt sie: "Ich habe Putin immer gewählt und werde ihn auch immer wählen."

Genau wie Andrej, ein 19-jähriger Student aus der Stadt Kaluga bei Moskau: "Ich unterstütze Putin, weil die Menschen ihn respektieren. Er hat Russland nach den 1990er-Jahren wieder groß gemacht."

"Russland! Russland!"

Ein Fernsehstar nach dem anderen schwingt sich auf die Bühne, um seine Unterstützung für Putin zu versichern. "Wisst ihr, dass der Präsident zugleich der Oberbefehlshaber des Militärs ist?", fragt der Schauspieler und Oscar-Gewinner Nikita Michalkow unter Jubel in die Runde: "Ich kann mir einfach keinen anderen an seiner Stelle vorstellen als ihn!"

Der Moderator animiert die Menge immer wieder zu "Russland! Russland!"-Sprechchören. Es ist eine perfekt inszenierte Show für das Staatsfernsehen, bei der Putin auch selbst wie ein Stargast auf die Bühne kommt, um mit den russischen Olympioniken von Pyeongchang die russische Nationalhymne zu singen.

An Fernsehdiskussionen nimmt der Kremlherr selbstverständlich nicht teil, das wäre ihm zu unberechenbar. Dort steigt dafür die oppositionelle Kandidatin und TV-Moderatorin Ksenia Sobtschak unermüdlich in den Ring. Vor ein paar Tagen wurde sie bei einer Fernsehdebatte von Wladimir Schirinowski, dem 71-jährigen ultranationalistischen Chef der Liberaldemokraten, wüst beschimpft: "Halt's Maul, du dumme Ziege!" Worauf Sobtschak dem Rüpel ein Glas Wasser über den Anzug goss. Ob dieser Klamauk die Russen davon überzeugen wird, sich von Wladimir Putin abzuwenden? Wohl ebensowenig wie der Verdacht, dass der Kreml hinter dem Mordversuch an dem russischen Ex-Doppelagenten Sergej Skripal und seiner Tochter stecken könnte, die vergangene Woche bewusstlos in der englischen Kleinstadt Salisbury aufgefunden wurden. Das Attentat, ausgeführt mit Nervengift, ist nur einer von 15 mysteriösen Anschlägen mit Russland-Bezug, die in den vergangenen Jahren in Großbritannien registriert wurden.

Niemand bezweifelt, dass Putin rund 70 Prozent der Stimmen bekommen wird. Warum so viele Russen ihn wählen, obwohl sie sich keine Illusionen darüber machen, dass die Kreml-Kleptokratie das Land ausplündert und in seiner Entwicklung hemmt? Natasha Nusinova ist die Erklärung beim Zähneputzen eingefallen: "Warum kaufen die Leute Colgate und kein besseres Produkt?", fragt die Kuratorin, die nach der Geburt ihrer Zwillinge vor einem Jahr eine Babypause eingelegt hat. Unter den Gründen zählt sie auf: Gutes Marketing. Bequemlichkeit. Kein besseres Angebot. "So ist das mit Putin für viele eben auch." Nusinova selbst wird wohl Ksenia Sobtschak wählen.

Loyalität als höchstes Gut

Sobtschaks Stärken sind gleichzeitig ihre Schwächen. Sie ist die Tochter von Anatoly Sobtschak, dem legendären Bürgermeister von St. Petersburg, der als Förderer Wladimir Putins in den 1990er-Jahren maßgeblich zum Aufstieg des heutigen Kreml-Chefs beigetragen hat. Putin-Experten sagen, Loyalität sei für den Präsidenten das Wichtigste überhaupt. Fast alle, die neben ihm groß geworden sind, kennt der ehemalige KGB-Offizier aus seiner Zeit in Petersburg.

Deshalb wohl darf Sobtschaks Tochter bei den Präsidentenwahlen überhaupt antreten. Als Ksenia im Zuge von Dreharbeiten für einen Film über ihren Vater Putin vergangenen September im Kreml besuchte, eröffnete sie dem väterlichen Freund, dass sie bei den Wahlen am 18. März gegen ihn kandidieren wollte. Putin reagierte gelassen. Er wusste ja, dass sie keine Chance haben würde.

Viele halten Ksenia Sobtschak für nicht mehr als eine Marionette des Kreml. Ein hübsches Püppchen, eine kosmetische Behübschung von Putins Wiederwahl. Ksenia hat ihre Kindheit im Luxus verbracht und wurde dann Russlands erstes It-Girl. Sie hatte eine Fernsehshow, plapperte über Tratsch, Klatsch und ihre Einkaufstouren. 3000 Dollar für Kleidung ausgeben? Klar!"Weil ich einfach alles schön finde und haben will."

Jetzt muss Sobtschak doppelt so hart arbeiten, um als Politikerin ernstgenommen zu werden. Oder vielleicht sogar dreimal so hart, weil sie das ist, was es in Russlands politischer Führungsriege nicht gibt: eine Frau.

Auch ihr Wahlkampfteam repräsentiert eine neue Generation in der Politik Russlands. In der Zentrale, die in einem Shared Work Space neben dem Nowodewitschi-Friedhof liegt, krempeln junge Leute die Ärmel hoch, die ihr Land nicht den homophoben, sexistischen alten Männern überlassen wollen. Der 28-jährige Pressesprecher Sascha Baranovsky macht sich keine Illusionen über seinen Präsidenten: "Putin ist ein sehr talentierter Mann, der ein Hybrid-System entwickelt hat. Alles hat zwei Seiten: Wir haben ein Parlament, in dem vier Parteien vertreten sind. Deren Vertreter nicken aber bloß die Kremlpolitik ab." Ebenso wie die Gerichte, die oft nur der Papierform nach unabhängig urteilen. Es gibt kritische Medien wie die Radiostation "Echo Moskaus", wo Baranovsky zehn Jahre lang gearbeitet hat. Aber nur eine winzige Minderheit der Russen kann diesen Sender hören.

"Bei uns hat Revolution keine Chance"

Gerade weil Sobtschak Putins System von innen kennt, gibt ihr Spindoktor Vitaly Schkliarow der Kandidatin eine Chance, Russland in eine bessere Zukunft zu führen. Schkliarow hat seine Lehrjahre bei Barack Obama verbracht: "In Amerika war Obamas Wahlkampf vom Ruf nach ,Change' getragen. ,Yes we can!', riefen die Leute. In Russland aber ist Wandel ein Begriff, der den Leuten Angst macht. Bei uns hat eine Revolution keine Chance", meint der 41-jährige politische Berater.

Und die Regierung sorgt auch dafür, dass sie keine Chance bekommt. Die Bolotnaja-Proteste, bei denen der russische Mittelstand im Jahr 2012 auf den Straßen gegen Wahlbetrug und Korruption demonstriert hatte, wurden von Putin mit Gewalt niedergeschlagen.

Eine Revolte des Volkes ist deshalb derzeit als Option vom Tisch. Dennoch gibt der Führer der außerparlamentarischen Opposition, Alexej Nawalny, den Kampf nicht auf. Da er selbst als Kandidat nicht zugelassen wurde, ruft er zum Boykott der Wahlen auf. Ksenia Sobtschak unterstützt er nicht.

"Sabastowka","Streik" steht auf einem roten Schild im Fenster des Gassenlokals im Süden von Moskau, das Nawalny als Wahlkampfzentrale benutzt. Hier, etwa eine halbe Autostunde vom Roten Platz entfernt, ist alles auf den Chef getrimmt: Die Rückwand ist blau gestrichen, darauf prangt groß der Schriftzug "Nawalny 2018". In der Ecke kann man Nawalny-Pullis, Handyhüllen und Anti-Putin-Tassen erstehen.

"Nawalny ist der einzige Kandidat, der Putin wirklich herausfordert", sagt Sergej Bojko, der Kampagnenleiter: "Immerhin sind wir die Einzigen, die einen wirklichen Wahlkampf geführt haben." Nawalny hat im Vorjahr bei Anti-Korruptions-Protesten Zehntausende junge Russen im ganzen Land auf die Straße gebracht und in mehr als 80 russischen Städten Komitees gegründet, um seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen zu unterstützen. Um den Elan der Nawalny-Bewegung trotz des verhinderten Antritts nicht gleich wieder verpuffen zu lassen, sollen die "Nawalniki" jetzt zumindest als Wahlbeobachter ausschwärmen, um Fälschungen zu dokumentieren. Für diesen Job hätten sich schon knapp 50.000 Interessenten auf der Seite registriert, sagt Bojko. Jeden Tag finden im Stab Schulungen statt, die Kurse sind voll.

Unliebsamer YouTube-Clip

Auch Ksenia Pachomowa ist heute gekommen, um sich als Wahlbeobachterin ausbilden zu lassen. Sie wohnt in der westsibirischen Stadt Kemerowo, 3600 Kilometer östlich von Moskau. Von Nawalny hat sie das erste Mal gehört, als sie vergangenes Jahr ein vom Nawalny-Team produziertes Enthüllungsvideo über die Reichtümer des Premiers Dmitrij Medwedew sah. Der Clip über die teuren Domizile und Turnschuhe des Regierungschefs wurde auf You-Tube 26 Millionen Mal angeklickt. Politik habe sie eigentlich nie interessiert, sagt die 24-Jährige, aber dieses Video sei ein Schlüsselerlebnis gewesen. Dass jemand den Mut aufbringt, diese Missstände anzuprangern, habe ihr imponiert. Als auch Kemerowo ein Wahlkampf-Büro von Nawalny eröffnete, wurde die junge Frau dort aktiv.

Das blieb nicht ohne Folgen. Ihre Mutter wurde als Direktorin an der Kunstschule gefeuert. Und als Pachomowa im Januar einen nicht-genehmigten Protest in Kemerowo vorbereitete, landete sie selbst für zwei Tage in Haft. "Alles halb so schlimm", winkt sie heute lachend ab, als würde sie sich an eine schwere Prüfung erinnern, die sich als harmlos entpuppte: "Du kommst wieder raus, und dann arbeitest du einfach weiter. Das hat mich nur noch weiter in dem bestärkt, dass wir etwas ändern müssen."

Vergangenes Jahr gelang der Beweis, dass man sich zumindest auf kommunaler Ebene auch ohne Putins Segen wählen lassen kann. Sobtschaks Chefberater Schkliarow hat die Kampagne begleitet und 267 unabhängige Kandidaten gegen Putinisten durchgebracht: "Wir haben gezeigt, dass Politik möglich ist. Das hat der Opposition Auftrieb gegeben."

Alisa Goluenko ist dafür ein Beweis. Die 22-Jährige Journalistin ist im Herbst zu einer Bezirksabgeordneten im Moskauer Bezirk Choroschjowskij gewählt geworden. Nebenbei ist Goluenko auch Aktivistin der unabhängigen NGO "Golos" (auf Deutsch: Stimme), die Wahlen beobachtet und zuletzt vom Justizministerium als "ausländischer Agent" eingestuft wurde . Wie die meisten Unabhängigen hat Goluenko ihre Wähler mit einem Tür-zu-Tür-Wahlkampf angeworben. Wenn die Leute das Wort "Politik" hören, würden sie am liebsten die Tür zuknallen , sagt sie. "Aber wir haben versucht, ihnen klarzumachen, dass wir zumindest im Bezirk etwas gestalten können." Dass sie gewählt wurde, hieße freilich nicht, dass in Russland die Demokratie ausbricht. Aber nachdem die fetten Jahre des Ölbooms vorbei sind, hofft sie, dass sich die Leute wieder mehr für Politik interessieren und wenigstens auf lokaler Ebene mehr mitbestimmen wollen.

Stalin und Pussy Terror

Die Probleme des Putinismus erschließen sich oft erst nach dem zweiten Blick. 2015 wurde in Moskau ein Museum für das Gedenken an jene drei bis neun Millionen Menschen eröffnet, die Opfer Josef Stalins wurden - dass es keine allgemein gültige Zahl gibt, liegt an der von Putin nur halbherzig betriebenen Geschichtsforschung. Als Stalin tot war und Nikita Chruschtschow 1956 einen politischen Frühling einleitete, kehrten 1,2 Millionen Menschen aus den Straflagern des Gulag zurück. Sie wurden in den Jahrzehnten danach rehabilitiert.

In den Museumshallen ist es gespenstisch still, ein paar junge Mitarbeiterinnen löffeln im Café Suppe. Auf den Videowänden laufen Videos über Stalins Tod und Interviews mit Überlebenden des Gulag. An Stalins Terror wird mit Zellentüren, Briefen auf Verbandsmaterial und Fotos von seinen Opfern erinnert. Putin, der sonst lieber an Stalins siegreiche Rolle im Zweiten Weltkrieg erinnert, hat dieses Museum erlaubt.

Und dennoch fehlt etwas. Laut der Bürgerrechtsgruppe Memorial gibt es auch heute noch politische Gefangene. 143 genaugenommen. Das ist die andere Seite des Putinismus: Was er nicht sehen will, darf das Volk auch nicht sehen. Die drei Aktivistinnen von Pussy Riot saßen für einen Putin-kritischen Punksong am Altar einer Kathedrale in Moskau zwei Jahre lang im Straflager. Der ehemalige Oligarch Michail Chodorkowski verbrachte ein ganzes Jahrzehnt in Gefangenschaft, nachdem er in politisch motivierten Prozessen wegen Steuerhinterziehung und Betrug verurteilt worden war. Zurzeit wird Oleg Sentsov in Sibirien festgehalten. Der ukrainische Filmemacher stammt von der Halbinsel Krim und wurde wegen angeblicher terroristischer Aktivitäten zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Eine Anklage, die er als haltlos bezeichnet hat.

Wer bestimmt darüber, ob ein Politiker, ein Richter, ein Journalist richtig handelt? Ist es gerecht, dass Alexej Nawalny an den Wahlen nicht teilnehmen darf? "Das Gesetz besagt eben, dass nur kandidieren darf, wer nie gegen das Gesetz verstoßen hat", meint Sofia Pigina. Die 20-jährige Moskauerin studiert an der elitären Universität für internationale Beziehungen MGIMO. Es sei nicht immer einfach, zu klären, ob ein Richter unabhängig entschieden habe, aber: "Man kann sich nicht einfach über ein Urteil hinwegsetzen."

"Brauchen Zeit, uns zu entwickeln"

Sofia kennt keinen anderen Präsidenten als Putin. Knapp nachdem sie geboren wurde, kam Putin an die Macht. "Meinen Eltern war die Stabilität wichtig, die kannten noch die Sowjetunion und die Jelzin-Jahre. Uns Jungen aber ist Wohlstand eher egal, wir wollen unser Land zum Besseren verändern." Sie wird zum ersten Mal wählen gehen, das ist für sie selbstverständlich. Sie will noch die Parteiprogramme studieren. Nawalnys Videos über die Korruption fand sie sehr wichtig. Ksenia Sobtschak gefällt ihr, weil sie eine Frau ist. Die russische Verfassung ist gerade 30 Jahre alt, "wir sind ein junger Staat und brauchen Zeit, uns zu entwickeln", meint sie. Vor allem findet sie, dass "man nicht unbedingt provozieren muss, um etwas zu verändern."

Eines ist klar: Diese Amtsperiode sollte Putins letzte sein. Er war von 2000 bis 2008 zwei Mal Präsident, dann schob er seinen Statthalter Dmitri Medwedew auf den Chefsessel. 2012 konnte Putin wieder zurückkehren. Die Amtsperiode war per Gesetz auf sechs Jahre verlängert worden.

In drei Jahren, wenn eine neue Duma gewählt wird, ist Putin bereits ein Präsident auf Abruf, um dessen politisches und finanzielles Erbe verschiedene Gruppen ringen werden. Zentrale Figur ist Igor Setschin, offiziell Chef von Rosneft, dem staatlichen Energieriesen, der zerschlagene private Ölkonzerne wie Yukos oder TNK geschluckt hat. Inoffiziell gilt der 57-jährige Setschin als die graue Eminenz Putins und als Chef der Silowiki, der Männer aus den Sicherheitsministerien, die einen bestimmenden Flügel von Putins Machtzirkel bilden. Meisterstratege Putin aber unterstützt gleichzeitig nach dem Prinzip der alten Römer - teile und herrsche - die Fraktion der Liberalen um Premierminister Dmitri Medwedew.

Neben diesen klassischen Fraktionen ist inzwischen eine dritte Gruppe von möglichen politischen und finanziellen Erben entstanden. Sie besteht aus Kindern - in Putins Fall Schwiegersöhnen - der bisherigen Machthaber. Kirill Schamalow, Ehemann von Putins jüngerer Tochter Katarina, kontrolliert inzwischen die Gasverarbeitungsfirma Sibur. Der Sohn des ehemaligen Geheimdienst-Chefs Nikolai Patrushev, Dmitri, sitzt im Vorstand von Russlands sechstgrößtem Kreditinstitut, der Landwirtschaftsbank. Piotr Fradkow, Sohn von Ex-Premiers Michail Fradkow, leitet das russische Exportzentrum.

Zudem bugsiert Putin auch fähige Manager ohne Verwandtschaftsbeziehungen in hohe Staatsfunktionen. Die Mischung aus Nepotismus und Utilitarismus wird mit Bedacht gepflogen: "Unter diesem entstehenden System würde Russland ein Land, das von McKinsey-Beratern regiert wird, die Putin gegenüber loyal sind und seine Politik weiterführen, wenn er einst nicht mehr da sein sollte", schreiben die Russland-Experten Ivan Krastev und Gleb Pavlowski.

"Wo ist das ganze Geld hingekommen?"

Genau diese Fortführung des Putinismus will die neue Opposition verhindern. Ksenia Sobtschaks Spindoktor Vitali Schkliarow, der fließend Deutsch und Englisch spricht, möchte deshalb auf einige Maßnahmen des Westens hinweisen, die er für kontraproduktiv hält -etwa die Sanktionen: "Die internationale Isolierung macht es für Putin leichter, das Feindbild des Westens hier aufrechtzuerhalten." Gäbe es keinen äußeren Feind, wäre es für die Opposition leichter, den Menschen die Realität im Land näherzubringen: "Wieso hat Putin, dieser Mann mit unbegrenzter Macht und unbegrenzten Ressourcen Staat und Land in 18 Jahren nicht modernisiert? Wo ist das ganze Geld hingekommen?"

Die Wirtschaftsdaten sind niederschmetternd. In Putins bisher dritter Amtsperiode ist der Wert des Rubels auf die Hälfte gefallen. Die Wirtschaft schwächelt mit einem Wachstum von 1,2 Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt bei fünf Prozent, die Inflation bei drei Prozent - die Zahlen sagen aber wenig über die wahre Lage in der Bevölkerung aus: 20 Prozent der Russinnen und Russen leben in bitterster Armut.

In Moskau hingegen speist die betuchte Elite in eleganten Fresstempeln, in denen sich die besten Köche und Designer aus aller Welt mit russischem Talent mischen. Das glitzernde Zentrum der Metropole kann aber nur schlecht darüber hinwegtäuschen, dass viele der notwenigen Reformen in Russland nie angegangen wurden. Der Aufschwung in Putins ersten Amtsjahren hatte weniger mit seiner Politik zu tun, als mit steigenden Ölpreisen. Mit dem Reichtum wuchs auch die Korruption. Russland steht auf Platz 135 von 180 im internationalen Ranking von Transparency International. Jetzt sind die Ölpreise stark gefallen, die korrupten Geister aber wollen deshalb noch lange nicht in ihre Flaschen zurück.

Die Russen bekommen höchstens ihre persönliche Misere zu spüren, das Gesamtbild fehlt. Putin sitzt heute nicht zuletzt deshalb so fest im Sattel, weil er durch seinen Macht-und Medienapparat die Opposition im öffentlichen Raum praktisch abgeschafft hat. Ein potenzieller Nachfolger - oder eine Nachfolgerin - müsste diesen Umstand zu ändern wissen und sich erst einmal Gehör verschaffen.

Solange das nicht der Fall ist, regieren in Russland Putin - und ein gewisser Galgenhumor. Als vor Kurzem schwere Schneefälle über die russische Hauptstadt kamen und die Einsatzkräfte ihre liebe Not damit hatten, Straßen und Fußwege zu räumen, sprühte eine Moskauerin ein einziges Wort in grüner Farbe in den Schnee - eines, von dem sie annahm, dass es den Winterdienst zuverlässig auf den Plan rufen würde: Nawalny.

Wenige Stunden später war der Schnee an dieser Stelle tatsächlich weg, und der Name des verfemten Putin-Kritikers auch. Die Kunde von der wundersamen Räumung verbreitete sich blitzartig im Internet - und viele Russen im ganzen Land machten es der Moskauerin nach. Der Humor ist die Rache der Unterdrückten.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz