Ulli Sima, Stadträtin in Wien für Innovation, Stadtplanung und Mobilität (SPÖ)
Faktencheck

SPÖ im Faktencheck: Ohne Stadtstraße keine Wohnungen? Naja.

Die Wiener SPÖ behauptet: Würde die vierspurige Straße im Bezirk Donaustadt gestoppt, könnte Wohnraum für 60.000 Menschen nicht gebaut werden. Das ist nicht ganz richtig.

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An der Stadtstraße hängen Wohnungen für 60.000 Menschen. (…) Das ist behördlich in der UVP (Umweltverträglichkeitsprüfung, Anm.) vorgeschrieben. 

Ulli Sima, Stadträtin in Wien für Innovation, Stadtplanung und Mobilität (SPÖ) gegenüber ORF Wien am 5. Juli 2021

Die Stadtstraße soll zwar gerade einmal 3,2 Kilometer lang werden – und doch ist um das vierspurige Bauprojekt im Wiener Bezirk Donaustadt ein regelrechter Propagandakrieg entbrannt. Umweltschützer machen gegen das, wie sie es nennen, „Wahnsinns-Projekt aus der Betonzeit“ mobil und halten die Baustelle mit einem Protest-Camp besetzt. Die Wiener SPÖ wiederum will den Abschnitt um jeden Preis asphaltieren - schließlich sieht das rot regierte Rathaus in der Stadtstraße einen zentralen Puzzlestein für das größte Stadtentwicklungsgebiet Wiens: Im Bezirk Donaustadt, am östlichen Stadtrand Wiens, soll in und neben der Seestadt Aspern zusätzlicher Wohnraum für Zehntausende Menschen entstehen. 

Allerdings sind diese Gebiete in Transdanubien verkehrstechnisch nicht wirklich gut erschlossen. Dafür braucht es die Stadtstraße Aspern, meint die Stadt. Warum aber ist der Bau so umstritten? Das liegt zum Teil daran, dass die Straße auch als Zubringer zum viel diskutierten Lobautunnel gedacht ist - siehe KarteDas Kalkül der Umweltaktivisten: Noch bevor die finale Entscheidung über die Untertunnelung des Nationalparks Lobau fällt, soll der Bau der Stadtstraße zumindest gestört werden. Dass die 435 Millionen Euro teure Stadtstraße die Ortskerne von Hirschstetten, Stadlau und Breitenlee entlasten soll, lassen sie nicht gelten. 

    Keine Wohnungen ohne Straße?

    Politiker, die flammende Appelle für Straßenbauprojekte halten, sind selten geworden. Damit gewinnt man in Zeiten der Klimakrise wenig. Um nicht wie „Betonierer“ dazustehen, setzen die SPÖ-Politiker auf eine andere ArgumentationslinieEin Stopp des Stadtstraßen-Baus würde laut Bürgermeister Michael Ludwig einen massiven Einschnitt für die Entwicklung der gesamten Ostregion bedeuten, vor allem für den Wohnraum. SPÖ-Planungsstadträtin Ulli Sima formulierte es Anfang Juli noch deutlich konkreter: „An der Stadtstraße hängen Wohnungen für 60.000 Menschen.” (Zur Orientierung: Das entspricht etwa der Bevölkerungszahl von Villach oder St. Pölten.) Und Sima sagte: „Das (der Konnex von Straße und Wohnbau, Anm.) ist behördlich in der UVP (Umweltverträglichkeitsprüfung, Anm.) vorgeschrieben.“ So ist es auch auf der offiziellen Website der Stadtstraße formuliert. Und auch der Verkehrssprecher der SPÖ-Wien, Erich Valentin, schreibt in einer Aussendung vom August: „Stadtstraße ist Auflage der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) für den Bau von Wohnungen für 60.000 Menschen.“  

    Aber stimmt das auch? 

    Auf profil-Anfrage, wie die Stadt Wien auf diese Zahlen kommt, listet ein Sprecher von Bürgermeister Michael Ludwiauf: 

    • Seestadt Aspern Nord: Wohnungen für 17.500 Menschen
    • Heidjöchl: Wohnungen für 14.250 Menschen
    • Berresgasse: Wohnungen für 7.500 Menschen
    • Oberes Hausfeld: Wohnungen für 10.000 Menschen
    • Süßenbrunnerstraße Nord: Wohnungen für 3.000 Menschen
    • Hausfeld Süd & West: Wohnungen für 15.000 Menschen 

    Diese Stadtentwicklungsgebiete entlang der U2-Linie mit Wohnungen für insgesamt 67.250 Menschen würden alle an der Stadtstraße „hängen“Das sei in der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) so „vorgeschrieben”, meint Sima. 

    Ist die Umweltverträglichkeitsprüfung wirklich „Bedingung”? 

    Bei einer, von der SPÖ ins Treffen geführten, „UVP“ werden die Auswirkungen eines Vorhabens auf die Umwelt beschrieben und beurteilt. Von der jeweiligen Landesregierung wird dann entschieden, ob und unter welchen Voraussetzungen ein gewisses Projekt genehmigt wird. Für die Seestadt Aspern Nord hat es bereits ein solches Verfahren gegeben. Im Bescheid der Wiener Landesregierung ist bestimmt:

    Das heißt, für die Seestadt Aspern Nord mit Wohnungen für 17.500 Menschen ist die Stadtstraße tatsächlich Voraussetzung. Konkret wird im Bescheid geschlussfolgert, dass der derzeit ansässigen Wohnbevölkerung eine Mehrbelastung auf den bestehenden (kleinen) Straßen nicht zumutbar sei. Verkehrswissenschaftler Martin Fellendorf von der TU Graz erklärt: „Die Anbindung alleine über die U2 ist nicht ausreichend. Für die Seestadt Aspern ist eine verkehrliche Anbindung über die Straße zwingend notwendig.“ 

    Rechtliche Einordnung 

    Nun drängt sich selbstverständlich die Frage auf, wie es um die restlichen Wohnungen in den anderen von der Stadt genannten Gebieten geht? Dort ist Wohnraum für weitere 49.750 Menschen vorgesehen. Verkehrsplaner Harald Frey von der TU Wien, der auch im Aufsichtsrat der Autobahngesellschaft Asfinag sitzterläutert: „Für die anderen Bauvorhaben gibt es derzeit keine rechtliche Verknüpfung über eine städtebauliche UVP.“ Konkret auf die Aussage der SPÖ bezogen, ergebe sich daraus laut Frey, „dass die Abhängigkeiten für die anderen Stadterweiterungsgebiete konstruiert sind und zumindest rechtlich nicht bestehen.“ Denn für die Gebiete HeidjöchlBerresgasse, Oberes Hausfeld, Süßenbrunnerstraße Nord und Hausfeld Süd & West gibt es noch keinen rechtskräftigen Bescheid beziehungsweise mitunter sogar noch nicht einmal ein Verfahren – und somit auch nicht die UVP-Bedingung „Stadtstraße“. Im Übrigen ist bei manchen Projekten noch nicht einmal klar, ob es überhaupt eine Umweltverträglichkeitsprüfung braucht – wenn nicht, dürfte es auch keine derartige UVP-Bedingung geben. 

    Blick in die Zukunft 

    Rechtlich gesehen sind derzeit also keineswegs alle Wohnungen zwingend an den Bau der Stadtstraße gebunden – nur Wohnungen für 17.500 Menschen in der Seestadt Aspern Nord. Damit konfrontiert, bestätigt die Stadt Wien, dass es für die anderen Stadtentwicklungsgebiete tatsächlich keine abgeschlossenen UVP-Verfahren gebe. Thomas MadreiterPlanungsdirektor der Stadt Wien, erklärt gegenüber profil, dass der „Grundmechanismus“ dort jedoch dem der Seestadt Aspern Nord gleichen würde: „Die Aussage, Wohnungen für 60.000 Menschen seien betroffen, basiert daher darauf, dass die selbe Problematik auch für einen Teil der anderen geplanten Entwicklungen gilt, der die selben bestehenden Straßen belasten würde.“ Er meint damit: Eine allfällige Umweltverträglichkeitsprüfung würde zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Bemerkenswert an dieser Ausführung ist, dass Madreiter dezidiert nur von einem „Teil der anderen geplanten Entwicklungen“ spricht. Einige Wohnungen hängen aber auf jeden Fall von der Stadtstraße abwie viele es sind, lässt Madreiter offen: „Logischerweise werden Gebäude, die direkt neben einem geplanten Tunnel der Stadtstraße gebaut werden sollen, möglichst nicht vorher errichtet, da sonst die Errichtung des Tunnels verkompliziert würde. Auch diese Bauvorhaben sind daher von der Errichtung der Stadtstraße abhängig und daher in diese Schätzung eingeflossen.“ 

    Notwendig für alle Wohnungen? 

    Umweltjurist und Rechtsanwalt Dieter Altenburger von der Kanzlei „Jarolim Partner“, die mit der Rechtsvertretung der Stadt Wien in mehreren UVP-Verfahren diesbezüglich betraut ist, ist der Ansicht, dass die Stadtstraße für die anderen Gebiete Bedingung sein wird: „Wenn schon die Seestadt nur unter der Prämisse weiter errichtet werden darf, dass auch die Stadtstraße errichtet wird, dann muss dies naturgemäß für alle weiteren ‚großen Stadtentwicklungen‘ in diesem Raum ebenfalls gelten.“ Er schickt jedoch ein „Aber“ hinterher: „Was damit natürlich nicht beantwortet ist, ist die Frage, ob es eine geringe Anzahl an zusätzlichen Wohnungen gäbe, die gerade noch genehmigungsfähig wäre. Oder anders formuliert: wo der break-even-point der Stadtentwicklung ist, bis zu dem noch neue Wohnungen errichtet werden dürften.“ Das bedeutet: Laut dem Fachmann könnten durchaus auch ohne Stadtstraße Wohnungen für eine gewisse Anzahl an Menschen errichtet werden. Wie viele, müssten Genehmigungsverfahren erst klären. 

    Mit solchen Verfahren kennt sich Karl Schönhuber aus. Als Sachverständiger ist der Verkehrs- und Umweltplaner darin häufig eingebunden – auch in Wien. Zur Stadtstraße konkretisiert er: „Das Gebiet Berresgasse kann allenfalls auch ohne Stadtstraße erschlossen werden. Ein Beschwerdeverfahren ist beim Bundesverwaltungsgericht anhängig. Für die anderen Stadtentwicklungsgebiete sind je nach Lage und Verkehrserschließung und unter Voraussetzung weitreichender Mobilitätsmaßnahmen Teilentwicklungen möglich.“ Das soll heißen: Eine gewisse Anzahl an Wohnungen könnte laut Schönhuber auch ohne Stadtstraße gebaut werden  wenn andere Maßnahmen getroffen werden, wie etwa die Schaffung einer guten Anbindung im Radverkehr oder Car-Sharing-Konzepte. Wie viele Wohnungen das genau betrifftsei allerdings nicht seriös vorauszusagen, so der Experte.

    Kritik an Dimension 

    Für diesen Faktencheck hat die faktiv-Redaktion einen Teilaspekt der Stadtstraße Aspern beleuchtet. Es gibt viele weitere Argumente für und gegen den Baudenen sich das faktiv-Team annehmen will. Ein Kritikpunkt an der Stadtstraße, die laut Plan bis 2026 fertiggestellt werden soll, ist jedenfalls deren Dimensionierung: Sie soll vierspurig sein. Harald Frey von der TU Wien erklärt, dass im UVP-Bescheid diesbezüglich nichts normiert sei: „Es geht um eine adäquate Straßenverbindung. Da ist nicht festgelegt, dass es so eine Straße braucht.“ Außerdem bemängelt der Experte: „Die Stadt zäumt das Pferd von hinten auf.“ Es sei ein „klassischer Zirkelschluss“, zu sagen, dass es die Straße gebe und diese notwendig für die Stadtentwicklungsgebiete sei. Vielmehr sei zu überlegen: „Die Gebiete gibt es – was braucht es für eine Straße?“ 

    Fazit 

    Rechtlich gesehen besteht derzeit nur für die Seestadt Aspern Nord mit geplantem Wohnraum für 17.500 Menschen eine rechtliche Verknüpfung mit dem Bau der Stadtstraße. Das ist behördlich in der UVP vorgeschrieben. Für die anderen Stadtentwicklungsgebiete mit Wohnraum für 49.750 Personen gibt es keine derartigen Bescheide. 

    Worin sich Experten und die Stadt Wien nun aber einig sind: Für neue Wohngebiete bräuchte es auch zusätzliche Verkehrsanbindungen. Ob das zwingend die Stadtstraße in ihrer jetzigen Ausgestaltung sein muss, ist derzeit rechtlich nirgendwo bestimmtDass ein gewisser Anteil an Wohnungen wohl auch ohne Stadtstraße gebaut werden könnte, haben Experten gegenüber profil bestätigt. Die Aussage, dass Wohnraum für 60.000 Menschen direkt an der Stadtstraße hängtist daher unbelegt.  

    Katharina Zwins

    Katharina Zwins

    war Redakteurin bei profil und Mitbegründerin des Faktenchecks faktiv.

    Jakob   Winter

    Jakob Winter

    ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.