Nach der WM-Qualifikation: Erfolgsgeheimnisse und Baustellen
Warum Österreich erstmals seit 28 Jahren wieder zu einer WM fährt – aber dort wohl nicht Weltmeister wird. Die Bausteine des Erfolgs. Ein paar Baustellen. Und: Welche Chancen das Nationalteam tatsächlich hat.
Ein Deutscher wurde zum Psychotherapeuten des österreichischen Fußballs – und befreite diesen von alten Traumata. Zuerst diese großkopferte Spielweise, dann der EM-Gruppensieg 2024 vor Frankreich und den Niederlanden; und jetzt fährt Ralf Rangnick mit Österreich auch noch zur WM – erstmals seit fast drei Jahrzehnten. Ganz nebenbei verhilft Rangnick jenen Fußballlegenden, die ihn immer wieder kritisiert hatten und lieber einen Österreicher beziehungsweise einen Haberer auf seinem Posten gesehen hätten, zur WM-Euphorie-Dauerpräsenz. Prohaska, Ogris, Krankl erklären nun beinahe minütlich und zähneknirschend, dass man Rangnick mögen kann oder nicht, aber Erfolg bringt er nun mal, der knorrige Piefke.
Dabei sah es fast so aus, als wäre Österreichs Fußball in seinem fast 30-jährigen WM-Abstinenz-Alptraum gefangen. Beim Grande Finale um die WM-Teilnahme gegen Bosnien kassierte das Nationalteam ein frühes Gegentor, bekam dann ein eigenes Tor aberkannt. Fehlendes Glück und ein bisserl Pech. So kannte man das.
Es ist nun aber doch etwas anders. Die Mannschaft wollte, ganz Rangnick-gehirngewaschen, einfach nicht aufgeben – und erzielte am Ende das erlösende 1:1. Marko Arnautović forderte schon Sekunden nach dem Abpfiff, den Freudentag zum gesetzlichen Feiertag zu erheben. „Die Leute sollen alle feiern. Das ist nicht nur unser Sieg, es ist auch euer Triumph.“ Nüchterner blieb Herbert Prohaska, der etwas angesäuert erklärte: „Wir haben nicht gewonnen – das Glück war, dass das Unentschieden gereicht hat.“
Österreich holte in acht Qualifikationspartien 19 von 24 Punkten, erzielte 22 Tore, kassierte nur vier. Wer makellose Perfektion erwartet hatte, wurde enttäuscht – aber so schlecht war das dann auch wieder nicht. Rangnicks Truppe ist zudem Kassenschlager. 1,4 Millionen Zuschauer verfolgten das Entscheidungsspiel im TV, 48.000 im Stadion, der ORF änderte tags darauf sein Hauptabendprogramm. Nun bricht sie über Österreich herein: die Euphorie-Welle, die schnell alle Grautöne wegspült.
profil analysiert die Bausteine des Erfolgs – und die Baustellen. Und: Welche Chancen Österreichs Fußballer bei der WM 2026 in den USA, Mexiko und Kanada tatsächlich haben.
Ralf Rangnick ist eine Art Anti-Österreicher. Er strebt immer nach mehr, sucht keine Ausreden – und setzt sich Ziele, die ihm selbst wahnwitzige Journalisten vom Schreibtisch aus nie und nimmer aufbürden würden. Rangnick wollte 2024 am liebsten Europameister werden. Nun will er wahrscheinlich Weltmeister werden.
Das war lange ganz anders. Der ÖFB stand für Duckmäusertum und Ausredenkultur. Die WM 2022 verpasste Österreich klar – und landete in der Qualifikations-Gruppe hinter Dänemark, Schottland und Israel (!) auf dem vierten Platz. In Israel ging man 2:5 unter. Der damalige Teamchef Franco Foda ließ meist übervorsichtig spielen, Sportdirektor Peter Schöttel meinte bloß resignierend, dass es ein neuer Teamchef ähnlich schwer haben werde, weil die Trainingslehrgänge eben nur aus ein paar vereinzelten Tagen bestünden. Sprich: Nichts zu machen!
Dann kam Rangnick – und bewies das Gegenteil.
Beinahe wäre der Deutsche nicht Teamchef geworden. Denn obwohl die Spieler intern und öffentlich ihren Unmut über Fodas ungeliebte Spielweise kundtaten, wollte ihnen Sportdirektor Schöttel seinen Freund Peter Stöger vor die Nase setzen, der für ein ähnlich defensives Spiel steht und das mit Rapid Wien gerade wieder einmal exemplarisch unter Beweis stellt. Bei Rangnick hatte Schöttel nur lose angefragt. Der Vertrag mit Stöger war bereits aufgesetzt, die Pressekonferenz geplant – da rief Rangnick an und erklärte, dass er trotz bescheidener Gehaltsaussichten Bock auf den Job habe, weil er davon überzeugt sei, dass in diesen Spielern mehr steckt.
Seither hat er dem FC Bayern und einem kolportierten Zehn-Millionen-Salär abgesagt, ebenso Borussia Dortmund und Hertha BSC. Rangnick läuft nicht dem Geld hinterher, sondern dem Gewinnen. Und sein Plan geht auf.
Rangnick ist nicht nur ein Mann großer Worte, sondern auch großer Taten. Und er hat keine Scheu, sich für den Erfolg mit den Mächtigen im ÖFB anzulegen. Für seine Spieler präsentiert er sich als Löwenmutter, die dafür kämpft, dass es ihren Jungen an nichts fehlt. Er orderte neues Personal in seinem Stab, kümmerte sich um geeignete Spielstätten, Trainingsplätze und die passende Musik im Stadion. Er gibt seinen Kickern Freiheiten und gewährt ihnen Mitsprache. Sie seien ja „erwachsene Männer“, betont er. Vor den Spielen ließ er für alle Spieler Schlüsselanhänger mit kleinen WM-Pokalen anfertigen, damit sie immerzu an eines denken: das große Ziel.
Baustein 2: Spielweise und Selbstbewusstsein: Segen und Fluch
Rangnick hat dem Land erfolgreich vermittelt, dass man sich nicht immer kleinmachen muss. Und alle folgen ihm. Unter Ex-Teamchef Foda konnte in keinem Pflichtspiel ein besser klassierter Gegner geschlagen werden. In Rangnicks Amtszeit wurden bereits Kroatien, Deutschland, Italien und die Niederlande besiegt. Rangnick hat dem österreichischen Fußball ein neues Gesicht gegeben. Zuerst, indem er Red Bull Salzburg zu einem europäischen Vorzeigeklub pimpte, der überall mutig und angriff auftrat – und 2018 das Halbfinale der Europa League erreichte. Aus der dortigen Fußballschule gingen zahlreiche heimische Spieler hervor wie Konrad Laimer vom FC Bayern oder Xaver Schlager und Nicolas Seiwald von RB Leipzig, die heute gemeinsam mit anderen RB-geprägten Spielern wie Christoph Baumgartner oder Marcel Sabitzer das Gerüst der Nationalmannschaft bilden. Rangnick wusste bei seinem Amtsantritt, dass mit dieser Mannschaft sein dominanter Fußballstil umsetzbar ist. Prompt stand Österreich nicht mehr für Angst, sondern für Angriff.
Michael Gregoritsch nach seinem Treffer zum 1:1 gegen Bosnien-Herzegowina
Österreich wurde vom Außenseiter zum Favoriten. Man stieg in den elitären Kreis der Spitzenteams auf und wurde für die WM-Qualifikation aus dem ersten Lostopf gezogen, neben Weltmächten wie Spanien, England, Deutschland oder Frankreich. Nun traf Österreich, wie es sich für ein echtes Kaliber gehört, auf Außenseiter aus Bosnien, Rumänien, Zypern und San Marino. Aber: Vermeintlich leichte Gruppen waren in der Vergangenheit kein Garant für Erfolg. Vor der WM 2018 scheiterte Österreich an Serbien und Irland, vor der WM 2022 an Dänemark, Schottland und Israel. Aber nun, mit dem neuen Anspruchsdenken im Land, hieß es: Wenn Rangnick das nicht schafft, hat er genauso versagt wie seine Vorgänger.
Rangnicks hehre Ambition schien sich in einen Fluch zu verwandeln. Denn die Favoritenrolle bringt nicht nur Vorteile. Große Kaliber versuchen in der Regel selbst das Spiel zu dominieren und geben Rangnicks Truppe die nötigen Räume für ihr Spiel. Nun trat man vermehrt gegen Außenseiter an, die Österreich den Ball überließen, sich vor dem eigenen Strafraum verbarrikadierten und das Nationalteam vor neue Herausforderungen stellten. Man konnte die Bälle nicht mehr hoch erobern, sondern musste das Spiel mit dem Ball gestalten. Das gelang aber zu selten. Österreich wirkte immer noch stärker als in den Jahren vor Rangnick – aber das Land war verwöhnt von extrem dominantem, angriffigem und begeisterndem Fußball. Knappe Siege – etwa gegen Rumänien, 2024 immerhin EM-Achtelfinalist – wurden nun wie Niederlagen bewertet. In jedem Spiel wurde ein Fußballfest erwartet, viele Tore, ein hoher Sieg. Am Ende hielt Österreichs Team dem Erfolgsdruck stand und holte aus acht Partien sechs Siege und ein Remis.
Baustein 3: Die Spieler
Österreich ist mehr als Alaba und Arnautović. Ein Großteil des Kaders spielt in europäischen Topligen. Etwa Kevin Danso bei Tottenham Hotspur, Konrad Laimer beim FC Bayern und Christoph Baumgartner in Leipzig. Dazu schreibt die Mannschaft das alte romantische Märchen von den elf Freunden am Feld neu. Teamspieler behaupten reihenweise, sie verstünden sich wie Brüder – und Rangnick sei der liebende Vater. Das klingt kitschig, entspricht aber wohl tatsächlich der Wahrheit. Nach dem Sieg gegen Bosnien standen Arnautović, Baumgartner und Torhüter Alexander Schlager mit feuchten Augen und eng umschlungen vor den TV-Kameras, tätschelten einander, streichelten und küssten sich. „Wie wir uns gegenseitig lieben, kann man mit Worten gar nicht beschreiben“, erklärte Baumgartner.
Die Spieler sind als Team zusammengewachsen. Das trifft sich gut, denn Österreich verfügt eben nicht über zehn Brasilianer am Feld, die mit technischer Brillanz für ein Tiki-Taka geeignet wären. Es gibt vor allem robuste Innenverteidiger und Pressing-Maschinen. Das Gute: Rangnicks Spielweise und die Stärken der Spieler befruchten einander. Jeder läuft für den anderen. Sogar der alte Arnautović. Österreich trat in den letzten Jahren zuweilen wie eine Klubmannschaft auf, die wie aus einem Guss spielt. Das bringt Österreich auf Augenhöhe mit Teams, die über weit bessere Kader verfügen – aber eben die Puzzlesteine (sprich: Spielweise und Spieler) nicht perfekt zusammengesetzt haben. Norwegen, das von Österreich vor einem Jahr 5:1 aus dem Stadion geschossen wurde, verfügt etwa über den 180-Millionen-Mann Erling Haaland von Manchester City und zahlreiche Topspieler in Topligen. Österreichs teuerste Kicker, Laimer und Danso, sind bloß 25 Millionen wert. Ein anderes Beispiel: Die Schweden, die in ihrer Qualifikationsgruppe mit nur zwei Punkten Letzter wurden, haben Topstürmer von Liverpool und Arsenal in ihren Reihen – und einen Kaderwert von über 500 Millionen. Jener von Österreich liegt bei bloß 215 Millionen.
Kapitäne Arnautovic und Alaba. Die Mannschaft hat unter Rangnick wirklich zu sich gefunden.
Die entscheidende Frage: Kann Österreich Weltmeister werden?
Die Euphorie vor einer WM kann groß werden. Am Ende steht Österreich dann gern als Geheimfavorit da – zumindest im eigenen Land. Aber was ist 2026 tatsächlich möglich?
Nach allen gängigen Parametern zählt Österreich nicht zur Weltelite. Das ÖFB-Team hat auch Schwächen. Man tut sich gegen defensive Gegner ziemlich schwer; wenn sich das auch bis nach Amerika herumspricht, wird es dort nicht einfacher. Aber: Man verfügt mit der Rambazamba-Spielweise weiterhin über eine gute Waffe, hat gute Spieler und in der Partie gegen Bosnien Reife bewiesen, indem das nötige 1:1 in den letzten Minuten eiskalt ins Ziel gespielt wurde. Das mag auch dem Alter und der Erfahrung geschuldet sein; immerhin ist das ÖFB-Team im Schnitt mittlerweile 28 Jahre alt – und zählt damit zu den betagteren in Europa. Dem kräfteraubenden Pressing-Spiel auf dem Feld kommt das auf Dauer nicht entgegen. Stars wie David Alaba (33), Marko Arnautović (36), Michael Gregoritsch (31) oder Marcel Sabitzer (31) gehen der Sportlerpension entgegen. Arnautović und Gregoritsch spielen dazu mittlerweile ihre Abschiedstournee in Belgrad und bei Bröndby, also weit weg von der internationalen Spitze. Arnautović hat zwar in acht Partien zuletzt acht Treffer erzielt, aber ausschließlich gegen „Pizzabäcker“ (O-Ton Toni Polster) aus San Marino und Zypern. Dennoch ist er weiterhin der mit Abstand auffälligste und gefährlichste Stürmer des Landes. Das macht die Probleme dahinter offensichtlich. Junge Top-Spieler drängen kaum nach oben. Einzig der 19-jährige Nikolaus Wurmbrand, der in dieser Saison vier Treffer für Rapid Wien erzielte und dabei einen starken Eindruck hinterließ, spielte sich in den Kader. Vergleichbare Nationen, etwa die Türkei, verfügen über mehrere Topstars Anfang 20. Davon ist Österreich weit entfernt.
Talente wären freilich vorhanden. Bei der U-17-WM stiegen Österreichs Nachwuchs-Kicker vor wenigen Tagen mit einem 4:0 (!) gegen England ins Viertelfinale auf – doch in der heimischen Bundesliga haben sich die Topklubs offenbar darauf verständigt, den eigenen Talenten möglichst wenig Spielzeit zu geben. Dort läuft man gerade vielfach dem schnellen Geld hinterher, verpflichtet reihenweise Legionäre, versucht einen raschen Meistertitel einzufahren und die Kicker dann möglichst teuer zu verkaufen. Ralf Rangnick hat – wie könnte es anders sein – schon Protest angemeldet. „Irgendwas stimmt im Staate Österreich nicht“, beklagte er zuletzt.
Für die WM im nächsten Jahr ist der Teamchef dennoch zuversichtlich wie immer. Wer ihn kennt, weiß: Dabei sein ist nichts. „Ich traue uns bei dieser WM einiges zu“, betonte Rangnick gleich nach dem Spiel. Und Mittelfeldturbo Patrick Wimmer hielt fest: „Zu einer WM fährt man nicht, damit man einfach dabei ist. Wir haben große Ziele.“
Eine erfolgreiche WM ist durchaus vorstellbar. Österreichs Team ist erfahren, ehrgeizig und im Bewusstsein, dass dieses Turnier für einige die letzte Chance auf einen großen Moment ist. So sieht das offenbar auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Auf die Forderung von Marko Arnautović, am Tag des Bosnien-Spiels künftig einen Feiertag einzuführen, hielt er ihm in einer Videobotschaft ein Bild des WM-Pokals entgegen und erklärte: Wenn dieser nächstes Jahr im Juli nach Wien gebracht werde, „dann könnten wir noch einmal darüber reden“.