Hungergeschichten?
Jeder Zeit ihren Kafka. Galt jahrzehntelang die Regel vom Eigenbrötler mit schwerer Schlagseite zur Schwermut, bröckelt erfreulicherweise das Kafka-Image als lebensfremder Prosa-Dunkelmann. Kafka war Mitglied in einem Ruder- und Schwimmverein, fuhr Motorrad und spielte Tennis, laborierte an Verstopfung, ließ sich den Magen auspumpen, litt an Zahn- und Kopfschmerzen, suchte gern das Bordell auf. Er konnte bis zur Schnappatmung lachen, war als heikler Gourmet mit sehr speziellen Wünschen verschrien.
„Wir haben uns Franz Kafka immer als ein kleines buckliges Männchen aus Prag vorgestellt“, schreiben die Medizinerin Eva Gritzmann und der Literaturkritiker Denis Scheck als Herausgeber der Rezeptsammlung „Kafkas Kochbuch“: „Nichts könnte irriger sein.“ Abwegig auch der Hinweis in Gilles Deleuzes und Félix Guattaris einflussreicher Untersuchung „Kafka. Für eine kleine Literatur“ (1976), in der die K.-Prosa zur „langen Hungergeschichte“ verklärt wurde.
„Kafkas Kochbuch“ ist die von Gritzmann und Scheck gewählte Kurzform für einen antiquarischen Reprint mit Endlostitel (plus neuem, kenntnisreichem Vorwort): „Hygienisches Kochbuch zum Gebrauch für ehemalige Kurgäste von Dr. Lahmanns Sanatorium auf Weißer Hirsch bei Dresden“. Kafkas Eltern finanzierten ihrem Sohn 1903 nach der ersten bestandenen juristischen Staatsprüfung einen vermutlich zweiwöchigen Aufenthalt in Dr. Lahmanns Heilstätte in Dresdens Stadtteil Weißer Hirsch. Alle Gäste erhielten zum Abschied das rein vegetarische Kochbuch mit 544 (!) Rezepten, zusammengestellt von Küchenchefin Elise Starker, von der heute nicht viel mehr als deren Name bekannt ist. Kafka kochte nicht selbst – er ließ sich im bürgerlichen Haushalt von Köchin Františka und Haushaltsangestellter Fanny à la Dr. Lahmann bekochen.
Kastanien, Datteln, Feigen
Seine Diät beschrieb Kafka im November 1912 in einem Brief ausführlich seiner Verlobten Felice Bauer: „Ich esse dreimal im Tag, in der Zwischenzeit gar nichts, aber nicht das Geringste. Früh Kompott, Cakes und Milch. Um ½ 3 aus Kindesliebe so wie die andern, nur im Ganzen etwas weniger als die andern und im Einzelnen noch weniger Fleisch als wenig und mehr Gemüse. Abend um ½ 10 im Winter Joghurt, Simonsbrot, Butter, Nüsse aller Art, Kastanien, Datteln, Feigen, Trauben, Mandeln, Rosinen, Kürbisse, Bananen, Äpfel, Birnen, Orangen. Alles wird natürlich in Auswahl gegessen und nicht etwa durcheinander wie aus einem Füllhorn in mich hineingeworfen. Es gibt kein Essen, das für mich anregender wäre als dieses.“ Das dürfte auch für das Allerlei an Puddings im „Kochbuch“ gelten: Blumenkohl-, Erbsen-, Gemüse-, Grieß-, Grünkern-, Hirse-, Käse-, Kartoffel-, Kirsch-, Möhren-, Nudel-, Pilz-, Quark-, Saure-Sahne-, Spargel- und Spinatpudding.
Kafka als früher Pionier (flexibler) vegetarischer Ernährung, der in seinen Tagebüchern und Briefen von „Vegetarianismus“ schrieb. Es wäre aber nicht Kafka, drehte er den Spieß nicht elegant um. „Es bekommt in fremden Augen leicht etwas Berufsmäßiges“, schrieb er im April 1920 an seine Schwester Ottla: „von Beruf Vegetarianer“.
Rotrüben- und Rapünzchensalat
„Kafkas Kochbuch“ macht Appetit – auf „Sauerampfersuppe“, „Morchelpastetchen“, „Saure Linsen“, „Molkenquarkknödel“, „Rotrüben- und Rapünzchensalat“ sowie „Hahnenkämme“: 1 großer Pilz, Eiweiß, geriebene Semmel, Salz und Öl als Zutaten; den gewaschenen Pilz in gesalzenem Eiweiß und geriebener Semmel umdrehen und in Öl auf allen Seiten braun backen.
Einmal in der Woche mussten Františka und Fanny einen Guglhupf zum Frühstück backen, zuweilen gab es „Watte ums Herz“: ½ Liter eingekochter Erdbeersaft,
½ Liter Wasser, 100 Gramm Stärkemehl, 10 Eiweiß, ½ Liter Schlagobers, 2 Esslöffel Zucker, ½ Päckchen Vanillin. Erdbeersaft, Wasser und Stärkemehl unter beständigem Rühren kochen, Eierschnee unterheben und die Masse in eine Glasschüssel, das mit Zucker und Vanille vermischte Schlagobers kranzförmig um die Schüssel geben.
„Laubfrösche“ nach Küchenchefin Starker: Man wasche große Spinatblätter, übergieße sie mit kochendem Wasser und lege sie auf ein Sieb; dann schäle man 5 Semmeln, weiche sie in Milch ein und drücke sie anschließend gut aus. 1 Zwiebel schneiden, mit Petersilie in Butter dünsten; 4 Eier zu Rührei verarbeiten und mit 4 weiteren Eiern alles zu einer lockeren Fülle vermengen; je 1 Löffel davon auf ein Spinatblatt; die gefüllten und gerollten Blätter in eine gebutterte Pfanne geben und für ¼ Stunde in den Ofen schieben.
Fische verschonte Kafka. Überliefert ist die Anekdote vom Besuch des Aquariums im Berliner Zoo und Kafkas Worte am Wasserbecken: „Da sprach er zu den Fischen in den leuchtenden Kästen: ‚Jetzt kann ich euch schön ruhig anschauen, ich esse euch nicht mehr.‘“ Mahlzeit!