Vorübergehende Phänomene: Fitnessstudios in aller Welt erleben Anfang Jänner ihren stärksten Neukundenzustrom, in den Google-Statistiken rauschen Suchbegriffe wie „Diät“ und „Nichtrauchen“ nach oben.

Neujahr: Vom Ende der guten Vorsätze

Warum Alkoholfasten und Fitnessvorhaben keine Zukunft mehr haben – und auch politisch irgendwie unzeitgemäß sind: Sebastian Hofer macht sich Sorgen um ein populäres Auslaufmodell.

Drucken

Schriftgröße

Mitte Jänner, es ist wieder diese Zeit im Jahr: Die neuen Vorsätze zerfließen langsam im Alltag, scheitern an den 
alten Hürden: Bequemlichkeit, Gewohnheit, wichtigere Termine. Ein besserer Mensch ist möglich, aber halt nicht unbedingt sofort, und auch nicht um jeden Preis. Aus dem Dry January wird I tried January. Auch die Wurstsemmel schmeckt wieder. Man ist sich eben selbst am nächsten – und bleibt es auch.

Der Mensch kann vor sich selbst leider nicht so einfach weglaufen, auch wenn es ihm der Jahreswechsel und der damit einhergehende Neuanfangsgedanke wieder einmal nahegelegt haben mag. Fitnessstudios in aller Welt erleben Anfang Jänner verlässlich ihren stärksten Neukundenzustrom, in den Google-Statistiken rauschen Suchbegriffe wie „Diät“ und „Nichtrauchen“ nach oben. Sogar der Aktienmarkt lässt sich immer wieder vom Neujahrsoptimismus anstecken (was aber auch steuerliche Gründe haben mag). Es handelt sich, wie wir alle wissen, um vorübergehende Phänomene. Der Februar kommt bestimmt (und eignet sich übrigens, rein von der Dauer her, ohnehin sehr viel besser als Alkohol-, Fleisch- oder sonstiger Fastenmonat). 

Aller guten Vorsätze sind drei: Da wäre der, den man sich vornimmt. Der, den man eine Zeitlang durchhält. Und der, den man wieder aufgibt. Früher oder später führt einer zum anderen. Der Mensch ist kein Wesen, das sich so einfach ändern lässt. Persönlichkeiten können stur sein, Verhaltensmuster eisern. Dabei wollte man doch einfach nur ein bisschen weniger man selbst sein. Sondern eben anders. So wie die anderen, die Fitten und Flotten, die Bewussten und Achtsamen. Leider lässt sich im Hamsterrad des Alltags keine Triathletenfigur antrainieren. Dieses Programm führt allenfalls zu Sorgenfalten – ein Sixpack für die Stirn. 

Zum Jahreswechsel 2020/21 befragte das IMAS-Institut rund 1000 Österreicherinnen und Österreicher nach ihren Neujahrsvorsätzen. Immerhin 35 Prozent gaben damals an, sich diesbezüglich etwas vorgenommen zu haben. Im Ergebnis zeigt die Studie – an sich wenig überraschend –, dass gute Vorsätze eine egozentrische Angelegenheit sind: Man denkt beim guten Vorsatz zunächst einmal an sich selbst. 44 Prozent nahmen sich „mehr Bewegung und Sport“ vor, 40 Prozent wollten „bewusster leben, mehr auf sich selbst schauen“, 29 Prozent sich gesünder ernähren, je 23 Prozent Gewicht verlieren oder mit dem Rauchen aufhören. Nur vier Prozent gaben in der besagten Umfrage an, sich zukünftig mehr politisch engagieren zu wollen, immerhin ein Drittel wollte „mehr Zeit für die Familie und Freunde aufwenden“.

Das Sample dieser Umfrage war repräsentativ für die österreichische Bevölkerung über 16 Jahre, wobei wir, ganz unwissenschaftlich, davon ausgehen, dass Neujahrsvorsätze für die Alterskohorte um die 20 eher keine Rolle spielen. Erstens verändert man sein Leben in dem Alter ohnehin ständig, und zweitens ist man weltanschaulich fest in Instagram und TikTok verwurzelt und weiß also, dass die Selbstoptimierung eine Lebensaufgabe ist, die man sich nicht nur Anfang Jänner stellt, sondern dauernd. Der gute Vorsatz heißt jetzt Challenge und ist ein ganzjähriger Wettbewerb. Man konkurriert nicht mehr nur mit dem eigenen inneren Schweinehund, sondern mit ganz Instagram, mit all den erfolgreichen, gut geschminkten Menschen, die sich hauptberuflich sehr gut verbiegen oder fasten können. Auf Instagram finden sich unter dem Hashtag #challenge fast 31 Millionen Beiträge. Beileibe nicht alle davon drehen sich ums Abnehmen oder Rauchenaufhören, es geht unter anderem natürlich auch ums Kreativerwerden und Bibellesen. Unter #new- yearsresolution sind dagegen keine zwei Millionen Beiträge verzeichnet. Allerdings lassen es sich die meisten Fitness-, Wellness- oder Ernährungs-Influencerinnen nicht nehmen, öffentlich etwas fürs neue Jahr vorzuhaben, schließlich ist das gut fürs Geschäft, viele von ihnen haben ihre je eigenen Fitness-, Wellness- und Ernährungsprogramme im Angebot, an denen man sich ein – teils kostenpflichtiges – Beispiel nehmen soll. 

Aber gute Vorsätze sind nicht nur gut fürs Geschäft. Gute Vorsätze sind immer auch ein Versuch, Sinn zu stiften, dem Leben ein Ziel zu geben und dadurch zumindest ein bisschen Ordnung zu schaffen. Wer sich für die Zukunft etwas vornimmt, fasst die eigene Biografie als Erzählung, die auf geradem Weg in ebendiese Zukunft strebt – und gibt ihr damit Form und Bedeutung. Das Leben, ein Märchen: Der Held, die Heldin dieser Geschichte absolviert eine Prüfung (neue Bauchmuskeln in 30 Tagen!) und wird mit einem Happy End belohnt (besseres Leben!). Der Drang, sich selbst als Teil einer sinnvollen Geschichte zu begreifen, ist bei den meisten Menschen so stark, dass er auch die hartnäckigsten Frustrationserfahrungen überwindet. Janet Polivy und C. Peter Herman haben das in einem berühmten Aufsatz das „Falsche-Hoffnung-Syndrom“ genannt: Wir nehmen uns ständig Dinge vor, an denen wir immer wieder scheitern – und versuchen es trotzdem stets aufs Neue, weil wir unsere unrealistischen Erwartungen bezüglich des Aufwands, aber auch der Konsequenzen solcher Vorsätze beim besten Wissen nicht loswerden. 

Nun ist der Aufsatz von Polivy und Herman schon deutlich vor dem März 2020 erschienen, also zu einer Zeit, in der Zukunftserwartungen zwar durchaus unrealistisch sein konnten, aber die Zukunft als solche doch einigermaßen stabil wirkte. Mit der Covid-19-Pandemie hat sich diese Stabilität leider aufgelöst. Prognosen, die kommende Zeit betreffend, scheinen heute schwieriger, als sie das in der Vergangenheit waren. Es kommt ja doch immer etwas dazwischen oder zumindest anders, als man dachte. Und welchen Sinn hat es nun, sich für eine solche diffuse Angelegenheit dünner oder nüchterner zu machen? 

Die Vorzeichen haben sich gedreht: Nach zwei Jahren Ausnahmezustand will man sein Leben nicht mehr ändern, man will einfach nur, dass sich das Leben nicht mehr dauernd ändert. Aber wie lässt sich das in gute Vorsätze gießen? Gute Vorsätze haben ja in der Regel einen rationalen Kern: Man wüsste schon, was für einen selbst oder auch für die Welt gut wäre. Aber wer weiß das heute noch? Wir leben in ziemlich irrationalen Zeiten, in denen die Vernunft dauernd an ihre Grenzen stößt – und jedes Argument schnell an sein Gegenargument. Im vorliegenden Fall zum Beispiel an dieses: Ist die individuelle Verbesserung von Mensch und Welt nicht vielleicht ein großer politischer Irrtum, womöglich sogar eine ideologische Verwirrung? 

Tatsächlich führt das Kleine in diesem Fall sehr schnell zum Großen: Eigentlich wollte man ja nur ein bisschen abnehmen – und schon steckt man mitten in einem fundamentalen Dilemma unserer Ära: dem der Selbstverantwortung. Jeder ist, so erscheint es uns, seines Glückes Schmied, und dabei außerdem auch noch für Wohl und Wehe der kompletten Menschheit zuständig. Ich will weniger Müll produzieren, öfter mit dem Fahrrad fahren und kein Fleisch mehr essen, weil sonst die Pariser Klimaziele nicht erreicht werden können. Und wenn ich es nicht mache, ziehe ich mir ganz selbstverständlich Schimpf, Schande und moralische Verurteilungen zu. Dass das Private so dermaßen politisch ist, kann man durchaus als Problem ansehen: Die Politik als solche, an die man die Lösung weltumspannender Probleme ja eigentlich per demokratischer Wahl delegiert (genau dafür wählt man sie ja, das nennt sich Repräsentation), hat auf magische Weise inzwischen offenbar weniger Verantwortung für das Ende der Menschheit als ich oder meine Nachbarn, die immer ihr Altpapier zum Restmüll schmeißen. 

Ein Vorschlag zur Güte: Nicht immer nur an morgen denken. Dafür heute mal eine lästige Mail ans Ministerium schreiben. Geht auch faul vom Sofa aus. 

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.