Analyse

Anspruchslose Ansprüche: Wird Österreich unter Rangnick doch nicht Weltmeister?

Ralf Rangnick wird schon nach wenigen Trainingseinheiten und durchaus ansprechenden Partien gegen Weltklasse-Teams bloß an seinem Anspruch gemessen. Das ist unfair.

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In Österreich ist man sichtlich überrascht: Der neue Teamchef ist kein Messias. Ralf Rangnick hat Österreich entgegen aller Erwartungen noch nicht zum Weltmeister verzaubert – und auch nicht zum Weltmeister-Besieger (wiewohl das im Hinspiel vor kurzem fast gelungen wäre). Stattdessen verliert auch der Deutsche in Frankreich ganz weltlich 0:2. Etwas bedröppelt wirkte das ORF-Trio Rainer Pariasek, Herbert Prohaska und Roman Mählich in Paris. Werde man mit dem amtierenden Weltmeister doch nie mithalten können, fragte die Runde verdutzt. Wahrscheinlich werde das nie möglich sein, zog Mählich ein überfälliges Fazit. Noch am Tag des Spiels gegen Vizeweltmeister Kroatien rätselte der ORF-Fernsehkommentar, ob der Start Rangnicks als österreichischer Teamchef aufgrund der Niederlage beim Weltmeister nun doch nicht glänzend, sondern bloß matt sei. Ganz Österreich stellt sich derzeit die alles entscheidende Frage: Rangnick also doch nur ein Mensch?

Ralf Rangnick ist ein Mann der großen Worte und Visionen – keiner, der es sich hinter einer zurückgeschraubten Erwartungshaltung gemütlich macht. „Rangnick gibt Weltspitze als Ziel aus“, titelten die Gazetten vor wenigen Wochen. Man wolle bei der Europameisterschaft (für die man sich ab März nächsten Jahres erst qualifizieren muss) „nicht nur mitspielen, sondern eine richtig gute Rolle spielen“, betonte der neue Teamchef. In Österreich misst man Rangnick seitdem an seinem ausgerufenen Ziel – dabei ist der Mann erst seit wenigen Trainingseinheiten im Amt. Während Österreichs Nationalteam in den letzten Jahren noch von Ländern wie Israel deklassiert wurde und es Niederlagen gegen die wenig schillernden Nationen aus Wales, Schottland, Lettland und Rumänien setzte, muss jetzt dem Weltmeister im eigenen Stadion die Stirn geboten werden. Während kürzlich noch Wales im Playoff-Spiel um die WM-Teilnahme als Favorit bezeichnet wurde, soll Österreich nun die Weltspitze kurz und kleinspielen?

Rangnick startete seine Teamchefkarriere in einer denkbar undankbaren Hammer-Gruppe: gegen den Weltmeister, den Vizeweltmeister und den EM-Halbfinalisten. Kurze Rückblende: Vorgänger Franco Foda gelang in 35 Pflichtspielen kein einziger Sieg gegen einen besser klassierten Gegner. Foda traf in seiner gesamten Ära auf fünf Mannschaften, die in der FIFA-Rangliste vor Österreich rangierten: Bosnien, Polen, Dänemark, Italien und Wales. Man blieb sieglos.
Österreich, aktuell die Nummer 33 der FIFA-Weltrangliste, hat das unter Rangnick bereits im ersten Spiel seiner Amtszeit erledigt – mit dem 3:0-Sieg in Kroatien.

Zur nüchternen Analyse: Die ersten sechs Pflichtspiele unter Rangnick boten viel Licht, aber auch Schatten. Auf den 3:0-Sieg gegen Kroatien folgte ein beachtliches 1:1 gegen Frankreich und ein unglückliches 1:2 gegen Dänemark, bei dem Österreich aber bärenstark auftrat. Die zwei Auswärtsniederlagen in Dänemark und Frankreich riefen in Österreich beinahe Entrüstung hervor. Das ÖFB-Team war gegen die beiden Top-Teams in der Fremde chancenlos – und Rangnick offenbar entzaubert.

In Österreich kennt man zwischen Freudentaumel und Depression nicht viele Nuancen an Gefühlsregungen. Ist Rangnick doch kein Messias, fragt man sich nun im Land.

Nüchtern betrachtet hat Österreich unter Rangnick einmal den Vizeweltmeister besiegt, gegen den Weltmeister remisiert – und in vier von sechs Spielen einen packenden Auftritt hingelegt. Während Teamchef-Vorgänger Foda erst nach 22 (!) Pflichtspielen auf den ersten Top-Gegner traf (gegen Dänemark setzte es damals eine 0:4-Klatsche), hatte es Rangnick in seinen ersten sechs Partien ausschließlich mit Top-Mannschaften zu tun.

Das heißt nicht, dass Rangnick das Los-Pech, die starken Gegner, von jeglicher Kritik entbinden sollen. Was auffällig war: In den Hinspielen gegen Frankreich und Dänemark gelangen Österreich dominante Auftritte. In den Rückspielen schien der Rangnick-Code entzaubert. „Österreich hat uns in Wien vor deutlich größere Probleme gestellt als diesmal. Wir haben sie analysiert und einiges geändert“, betonte Frankreichs Teamchef Didier Deschamps. Ähnliche Aussagen traf der dänische Teamchef. Rangnick wird sein Team möglicherweise unberechenbarer orchestrieren müssen als ihm vorschwebt.

Rangnicks Spielidee bietet für das österreichische Team viele Vorteile. Giftiges Pressing passt zu einem Großteil der vorhandenen Kicker. Doch es gibt auch einen Nachteil: In der Gegneranalyse wird kein Kontrahent mehr vor ein großes Rätsel gestellt. Rangnick steht weltweit für Rambazamba-Fußball. Selten kann so klar eingeordnet werden, welchen Spielstil ein Trainer forciert. Trotzdem war Österreich in vier von sechs Spielen gegen Weltklasse-Teams über weite Strecken das überlegene Team – oder zumindest ein ebenbürtiger Gegner.

Ein weiteres Problemfeld: Rangnicks Spielstil kostet viel Kraft. Beim Spiel gegen Kroatien vergangenen Sonntag versuchte der Teamchef nach einer Stunde „frisches Blut“ einzuwechseln. Doch die drei Neuen und die veränderte Spielsystem (Rangnick veränderte die bis dahin bestens abgestimmte Fünferkette zu einer Viererkette) ließen das Spiel kippen. Aus starken Österreichern wurden fehleranfällige. Aus dem couragiert erspielten 1:1 wurde binnen Minuten ein 1:3-Rückstand.

Rangnicks Vorgänger hatte nach unglücklichen Eingriffen von der Seitenlinie immer dieselbe Ausrede parat: Das hatte nichts mit dem System zu tun, sondern mit individuellen Fehlern, die zu Toren führten. Dabei wurde verschwiegen, dass ein nicht sitzendes System Situationen auf dem Feld neu ordnet – und dadurch nicht aus der Pflicht genommen werden kann. Doch Schuld trug nie der Teamchef, sondern immer die Spieler, die vor dem Tor eben patzten. Nicht so unter Rangnick: Das Team habe nach seinen Umstellungen „Lücken“ aufgewiesen und sei „nicht mehr so kompakt wie davor“ gewesen, hielt der Deutsche selbstkritisch fest. Und: „Diese Umstellung würde ich nicht mehr machen, aber im Nachhinein ist man immer klüger.“

Rangnick versuchte „zu früh ‚all-in‘“ zu gehen, wie er selbst sagt. Kurz gesagt: Er wollte den 1:1-Spielstand nicht absichern, sondern auf Sieg spielen. In Erinnerung dürfte ihm dabei das Hinspiel gegen Kroatien gewesen sein. Damals stellte er von Fünferkette auf Viererkette um – was Österreich kompakter und angriffiger werden ließ. Das schwebte Rangnick vor, als er für Außenstehende ohne Not das Match zu Gunsten der Kroaten kippte.

Was man in Österreich aber nicht missverstehen darf: Das ÖFB-Team wird auch unter Teamchef Rangnick nicht Weltmeister werden.

Rangnick hat einen entscheidenden Fehler begangen, ihn aber auch unaufgefordert zugegeben. So viel Selbstkritik ist neu im traditionell schönfärberischen ÖFB.

Am 9. Oktober werden nun Österreichs EM-Qualifikations-Gegner gelost. Im November folgt ein Trainingslager in Spanien. Dann wird Rangnick seine Truppe erstmals etwas länger um sich haben. Bislang konnte er bloß wenige Trainingseinheiten abhalten. „Wir wollen mit unserem Fußball und unserer Art für Aufsehen sorgen“, betont er immer wieder. Dafür brauche sein Team eine „Turniermentalität“ sowie eine „Siegermentalität“.

Diese hat Österreich noch nicht unbedingt. Rangnick hat seine Mannschaft gegen Kroatien vergangenen Sonntag gut eingestellt, sodass Arnautovic, Baumgartner, Gregoritsch und Co. eine Stunde lang Chance um Chance herausspielten (und – altes Problem – auch vernebelten).

Aber: Die Gruppen-Gegner werden künftig nicht immer aus dem Weltmeister, dem Vizeweltmeister und dem EM-Halbfinalisten bestehen. Es besteht also Hoffnung für Rangnick und die „goldene Generation“, deren Bezeichnung dahingehend zu verstehen ist (und immer zu verstehen war), sich regelmäßig für große Turniere qualifizieren zu können (nein: zu müssen). Was man in Österreich aber nicht missverstehen darf: Das ÖFB-Team wird auch unter Teamchef Rangnick nicht Weltmeister werden.