Anna Gasser beim Big Air Snowboard Finale

Olympia: Die besten Winterspiele aller Zeiten oder Propaganda-Farce?

Wo Medaillen sind, sind (mindestens) zwei Seiten – und dazwischen nur ein schmaler Grat.

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Von Michael Holzer

Götter sind auch nur Menschen. Deshalb: Lieber nicht überschätzen! Bitte fassen Sie das nicht als Sakrileg auf, es ist nur der Verweis auf eine semantische Unschärfe! Es geht um die Olympier: den griechischen Göttervater Zeus, seine fünf Geschwister (die Fescheste, Hera, hat er geheiratet) und sein Dutzend Gotteskinder, die beiden aus den Seitensprüngen miteingerechnet. Zeus’ Patchworkfamilie heißt Olympier, weil sie alle auf dem Olymp wohnten. Die semantische Unschärfe liegt nun darin, dass die Verantwortungsträger für die Olympischen Spiele der Neuzeit ebenfalls Olympier genannt werden.

So ein Überblendeffekt im Göttlichen hat noch nie zu etwas Gutem geführt – erst recht nicht für die Überblendeten. Wer sich auf Erden selbst vergöttert, mit dem fängt das Leben an, Blinde Kuh zu spielen: Aus göttlich Doppelbelichteten werden Unterbelichtete mit Augenbinden, denen Sinn und Sicht für die Wirklichkeit abhandenkommen. Also erfinden sie in ihrer Umnachtung beides.

Spintisieren sich als Normalsterbliche einen trügerischen Nimbus eigener Unsterblichkeit zusammen, irrlichtern in unstillbarem Durst nach Macht und Bestätigung herum – und stolpern, früher oder später, aber sicher immer. Kennen Sie jemanden, der jemanden kennt, der das kennt? 

Nach diesem Metalog am Anfang – beginnen wir mit der Schlusssequenz. Die XXIV. Olympischen Winterspiele in Peking sind Geschichte. „Na Gott sei Dank“, ist man nach 19 Tagen Newsfeed-Feuer geneigt, noch einmal kräftig zu jubeln. Oder tut es Ihnen leid, dass es schon wieder vorbei ist? Welche Namen, welche Sportgeschichten, die junge Menschen mit ihrer ganzen Hingabe im trostlosen Karst Chinas vor Mahnmälern der Gigantomanie verewigt haben, werden Sie ins Langzeitgedächtnis verschieben? Sie haben recht: Um das zu beantworten, ist alles noch viel zu frisch. Falls Sie überhaupt zu den Menschen zählen, bei denen das Olympia-Spektakel, quasi die älteste Netflix-Serie der Welt, Gefühlsamplituden auslöst. 

Deren Richtung wäre dabei zweitrangig: Auch wer schimpft, schaut. Einzige Erfüllungsbedingung für die zur Weltreligion hochstilisierte Unterhaltungsindustrie: Die Olympier im Internationalen Olympischen Komitee (IOC) müssen ihren finanzstarken Wahlverwandten in Politik, Wirtschaft und Medien glaubhaft machen können, dass der Okkultismus um körperliche Höchstleistung auch Passivsport olympisch macht.

Sonst überweisen die nämlich irgendwann nicht mehr ihre paar Milliarden auf Schweizer IOC-Konten. Wenn die Plattitüden vom Kampf um Medaillen, diese sich selbst perpetuierende Legendenbildung zwischen Wunder und Qual bei Olympischen Spielen, wenn das alles einmal nicht mehr emotional in den Bann zieht, erlischt das Feuer endgültig. Völlig undenkbar? Aus heutiger Sicht: ja. „The Games must go on“, sagte der frühere Sport-Zeus Avery Brundage 1972, nachdem Terroristen in München elf Angehörige des israelischen Olympiateams ermordet hatten. 

Nach der pandemiebedingten Verschiebung der Sommerspiele von Tokio um ein Jahr war vor Peking die Anspannung der Olympier deutlich spürbar gewesen. Deren Milliardenturbine hält praktisch alles aus, nur nicht andauernde Strömungsabrisse in der Euphorie, verursacht durch ein dummes Virus. Zu groß ist die Gefahr, dass in einer Reflexionsphase genau das eintreten könnte, was die neuzeitlichen Weltsport-Herrscher und allen voran deren Göttervater Thomas Bach als amtierender IOC-Präsident mit manischem Eifer zu verhindern trachten: eine Echtheitsprüfung. Sie könnte dazu führen, dass sich die moderne Mythologie um die Fünf Ringe von selbst entmystifiziert. Denn woraus besteht sie denn im Kern, diese irdische Weltreligion, wenn wir den Weihrauch weglassen?

Aus diesem Kreis-Logo (das Kreuz war besetzt), das Pierre de Coubertin 1913 auf ein weißes Blatt Papier gemalt hatte, nachdem er zuvor unter einem Pseudonym Olympiasieger in der Kategorie Literatur geworden war. Aus dieser flauschigen Schlagwortwolke voller vieldeutiger Verheißungen für eine bessere, friedliche Welt durch Sport. Aus bewährten Reliquien – Fahnen, Feuer, Hymne, Schwur, eigene Bibel, strikte Liturgie, eine Bibliothek an Geboten und Verboten. Und, klar, aus den im Zwei-Jahres-Rhythmus getakteten Sportwochen für die Hochbegabten dieser Welt.

Das ist, entfrachtet vom selbstseligsprechenden Pathos des IOC, de Coubertins Idee und was als Kulturerbe aus ihr in 128 Jahren geblieben und entstanden ist. Der Rest? Ist Zuschreibung, Projektion, Massenphänomenologie einer multimedialen Marketinggesellschaft. Sie kann weltweit auf die hohe Impfbereitschaft bauen, dass sich Menschen am liebsten via Bildschirm boostern lassen – mit Adrenalin, Dopamin, Oxytocin. Diese geniale Dreier-Kombi, die uns so gut fühlen lässt und als Teil eines größeren Ganzen, wenn wir auf den Medaillenspiegel schauen.

Der Medaillenspiegel als nationaler Selbstwert-Index: Jemand muss ihn nach einem Besuch im Schweizerhaus vom Lachkabinett des Wiener Praters abmontiert und den Medien zugespielt haben. Wenn talentierte Sportskanonen im Alleingang oder als kleine Gruppe ihre olympischen Medaillen gewinnen, tragen wir das neben Nationalfähnchen in Tabellen ein und sagen: „Wir haben schon wieder gewonnen.“ Das kann nur an der Dreier-Impfung liegen. Gut, dass es den Medaillenspiegel gibt: In ihm sehen wir, dass wir uns mitfreuen können, wenn andere Menschen Erfolge feiern, die wir nicht haben. Und gleichzeitig sehen wir auch das Schiefe, Verzerrte, Verschobene, Aufgeblasene. 

„Propagandaspiele im Überwachungsstaat“ oder ähnlich haben die Medien diesmal in Peking häufig getitelt. Jene, die sich im abgekarteten Spiel mit den Spielen der Olympier nicht einfach nur mit ihrem Claqueursdasein abfinden wollten. Tatsächlich ist die Welt nach der manischen Episode Olympia auch schon einmal mit weniger depressiver Verstimmung wieder zur Tagesordnung übergegangen. Oder, andersrum gesagt: Die olympische Hyperventilation hat schon mehr guten Wind gemacht.

Woran liegt’s? Am Zeitgeist des Inflationierenden? An dieser verfluchten Pandemie? Am Russland-Ukraine-Konflikt? Oder hätte man diese Spiele von vornherein nie an ein Land wie China vergeben dürfen, weil dort ständig Unrecht zu Recht wird, um Bert Brecht zu strapazieren? 

An dieser zentralen Frage scheiden sich die Geister. Weil sie nicht eindeutig zu beantworten ist: Wo Medaillen sind, sind (mindestens) zwei Seiten – und dazwischen nur ein schmaler Grat. Und auf diesem, das hat man in Peking in Hochauflösung gesehen, stehen die Olympier ziemlich wackelig.

Zunächst: Auch die Olympia-Polarisierung zwischen Berauschung und Beschämung zahlt vordergründig auf die Nummernkonten des IOC ein. Sie beantwortet aber eine grundsätzliche Frage nicht: Ob die Vergabe Olympischer Spiele nun als Gütesiegel der Lauterkeit für Staaten im Sinne unseres westlichen Demokratieverständnisses zu verstehen sein soll oder eher als Demokratie-Booster für Länder, die für ihre Menschenrechtssituation keine Auszeichnung verdienten. Länder wie China beispielsweise.

Thomas Bach, Wirtschaftsanwalt aus Würzburg, seit 2013 Göttervater des Weltsports in einem neuen Olymp aus Glas um 119 Millionen Euro direkt am Genfer See in Lausanne, macht gerade in dieser elementarsten aller Fragen eine tragische Figur. Obwohl er sie auf den ersten Blick stets knapp, klar und scheinbar eindeutig beantwortet. Mit dem Stereotyp: „Die Spiele müssen unpolitisch bleiben!“ Leider zu schön, um wahr sein zu können. Aber die Kurzfassung der Glaubwürdigkeitskrise, aus der das IOC seit Jahrzehnten nicht herausfindet. 

Wer als Dritter im Bunde auf Freundschaftsfotos mit Chinas Xi Jinping und Russlands Wladimir Putin durch die Weltpresse geht, während die westliche Welt die Spiele diplomatisch boykottiert, tut sich schwer mit der Behauptung, unpolitisch und nur für den Sport zuständig zu sein. Sich mit dieser Chuzpe hinzustellen, führt, wozu es geführt hat – zu drei Wochen Dauershitstorm im weißen IOC-Anorak. An Bach und seiner Selbstgefälligkeit mag das alles abperlen, an der Glaubwürdigkeit und Identifikationskraft der olympischen Idee, die er vertritt, nicht. Es ist einfach nicht wegzuhalluzinieren, dass der Machtopportunismus der Olympier jene Integrität zersetzt, die sie sich selbst mantraartig zuschreiben.

Diese Haltung liegt schon in den Anfängen und schreibt sich multigenerationell fort. Schon der Säulenheilige der olympischen Bewegung, ihr Begründer de Coubertin, ließ sich anlässlich der Nazi-Spiele von Berlin 1936 von Adolf Hitler mit 70.000 Reichsmark finanziell aushelfen, weil er knapp bei Kasse war. Rechtfertigung: „Hauptsache, die Spiele werden grandios gefeiert.“ Über die Korruption und Korrumpierung seither wurden Bücher geschrieben, es bedarf keiner weiteren Vertiefung.

Wessen es bedarf, nach Peking dringender denn je, ist ein Absetzen der Augenbinden im IOC. Was helfen der schönste Glaspalast und die immer neuen, bunten Fassadenplakate, wenn neofeudalisitische, neoliberale Haltungsschäden doch nicht zu verbergen sind? Es bleibt, was es ist – ein Wanderzirkus, der sein Zelt nicht mitbringt, wie die deutsche „taz“ das IOC nannte. Selbstreflexion tut not, nicht das gemauschelte Gehabe, das der Welt als stille Diplomatie verkauft wird. Der beste Weichzeichner ermüdet irgendwann die Augen.

Ein Beispiel? Das IOC – und mit ihm alle 204 Nationalen Olympischen Komitees (NOK), auch das ÖOC, streichen in ihrer Olympia-Propaganda die Nachhaltigkeit der Peking-Spiele hervor. E-Autos, 20 Prozent Energie bei der Eiskühlung gespart, Bäume gepflanzt. Gepflanzt fühlt man sich, wenn mit keiner Silbe erwähnt wird, dass die Ökologin Carmen de Jong von der Universität Straßburg einen Wasserverbrauch von 2,5 Milliarden Litern allein für die Kunstschneeproduktion errechnet hat. Und Peking als „die unnachhaltigsten Spiele aller Zeiten“ bezeichnet. Thomas Bach und die Seinen werden sie wieder und wieder als die besten aller Zeiten preisen.

Selektive Wahrnehmung: So ergeht es vielen in der olympischen Blase. Die Wortkreation, die sich durch die Null-Covid-Strategie Chinas ergeben hat, ist die beste Beschreibung für den Gesamtzustand des Systems, dem Bach noch bis 2025 als Ober-Olympier vorstehen wird. Ehrenamtlich, so die offizielle Darstellung. Die 225.000 Euro Aufwandsentschädigung (ohne Spesen), die das IOC offenlegte, um zu zeigen, wie transparent es ist, seien nur eine Anerkennung, damit der Chef einen Teil seiner Ausgaben decken könne. Und: Das Geld käme in Zukunft nur noch aus einer Quelle, was immer das heißt.

Das illustriert einen Stil, der sich nicht auf die streng hierarchische Struktur der Olympischen Komitees und Kommissionen beschränkt. Die Führungs- und Denkkultur ist in allen Weltverbänden ähnlich: Entscheidungen werden oben getroffen und über die Befehlskette im Kapillarsystem nach unten verordnet. Das geht gut, weil ja jeder Sportverband gleichzeitig Monopolist in eigener Sache ist. Wer zu Olympia will, muss durch das IOC, ganz einfach. Dass von den Athletinnen und Athleten niemand übernatürlich wird, dafür sorgen die Präfekten auf nationaler Ebene. Andernfalls: Regelbruch! Und schlimmstenfalls heimfahren, wie nach einem Streich beim Schulskikurs. Olympionike kann nur sein, wer davor ein Konvolut an Persönlichkeitsrechten mit seiner Unterschrift abtritt und sich einem anderen Konvolut mit IOC-Verboten unterwirft. 

Zwei aus der österreichischen Olympiadelegation haben sich aus dem Fenster gelehnt – dafür gebührt Szenenapplaus. Der Snowboarder Alexander Payer postete, als seine Freundin Sabine Schöffmann, ebenfalls Snowboarderin, von einer Schutztruppe in Schutzanzügen bei Olympia in die Corona-Quarantäne verfrachtet wurde: „Das hatte fast schon Deportationscharakter.“

Und Toni Giger, der Sportdirektor des Österreichischen Skiverbandes, sagte als Einziger das, was eigentlich von IOC-Göttervater Bach hätte kommen müssen: „China hat im Umgang mit Demokratie und Menschenrechten fraglos noch einen Weg vor sich. Das ist die eine Wahrheit. Die andere ist, und deshalb sind wir hier: Olympische Spiele, der Sport, die Kunst: Sie können immer eine Initialzündung sein, ein Türöffner für Neues und vielleicht Besseres. Diesen Optimismus müssen wir haben – und wir dürfen ihn nie verlieren.“  

Das wird sich vermutlich so nicht in den ÖOC-Publikationen zur Olympia-Nachberichterstattung finden, ist aber ein versöhnlicher Schluss. Olympia soll Menschen Mut machen – auch im Politischen. Ehrlich sein kann man auch in Freundschaft und Respekt, muss man sogar. Die XXIV. Olympischen Winterspiele sind Geschichte. Alles kann besser werden: Die Olympier kommen 2024 nach Paris und danach nach Mailand/Cortina. Hoffentlich ohne Augenbinden. Mögen die Spiele gewinnen!

Michael Holzer (54)

ist Autor, Berater und Coach, seit 1998 auch im Bannkreis der fünf Ringe. Er hat mit einem Dutzend Olympiasieger und -siegerinnen gearbeitet und sagt: Sie sind die Normalsten im Irrwitz Olympia.