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Reisen nach Corona: Hauptsache weg

Nach Ausbruch der Corona-Krise stand die Welt für ein paar Wochen still. Die Welt bewegt sich wieder, der Tourismus steht immer noch. Doch langsam wird eine Zukunft sichtbar. Wohin geht die Reise? Teil 2 unserer Serie über das Leben nach Corona.

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Leben nach Corona - Teil 2: Reisen

Dieser Tage jährte sich der erste Corona-Lockdown in Österreich. Im Angesicht der Corona-Pandemie wurde am 16. März 2020 das öffentliche Leben im Land vorübergehend stillgelegt. Der Lockdown ging zu Ende (bevor wieder ein neuer verhängt wurde),der Einschnitt ist geblieben. Ein Schock hatte sich verfestigt. Die Welt war, buchstäblich über Nacht, eine andere geworden, unser Lebensstil hatte sich in weiten Teilen als untauglich erwiesen. Schon in den ersten Wochen der Pandemie häuften sich deshalb die Spekulationen: Wie wird die Welt danach aussehen? Wie wird uns Corona verändern-und was wird bleiben, wie es war? Nach einem Jahr ist nun Zeit, Bilanz zu ziehen und noch einmal, genauer, nach vorn zu schauen: Wie werden wir leben, wenn die Gefahr, die vom Virus ausgeht, tatsächlich geringer wird und vielleicht ganz verschwindet? Was werden wir konsumieren, wohin werden wir reisen, wie werden wir uns kleiden, wie wohnen? In einer neuen Serie widmen wir uns in den kommenden Wochen diesen Fragen.

Dienstagmorgen, im Railjet 541 Richtung Flughafen Wien. Wo sich normalerweise Touristenknäuel über Kofferberge schieben, drängen sich heute bloß noch Erinnerungen auf, und zwar an den März 2020. Man könnte fast sentimental werden: Im Zug herrscht eine Stimmung wie damals, im ersten, einzig wahren Lockdown (also jenem, den die Menschen tatsächlich in ihren Wohnungen verbrachten).Am Flughafen: Exakt zwei Passagiere verlassen den Railjet, sie werden von Durchsagen und Bildschirmen an die Einhaltung der Abstandsregeln erinnert. Es fällt nicht schwer, keine zwei Handvoll Menschen verliert sich im Areal des Terminals 3 (die anderen Terminals sind derzeit außer Betrieb).Es ist neun Uhr vormittags. Bis Mitternacht werden von Schwechat aus noch genau zwölf Passagierflugzeuge starten. Nicht alle von ihnen werden voll sein.


Julian Jäger, Vorstand der Flughafen Wien AG, hat von seinem Büro im zehnten Stock einen schönen Ausblick auf verwaiste Bürogebäude und freie Rollfelder. Bilanz des Corona-Jahres 2020: Umsatzminus: 61 Prozent, Nettoergebnis: minus 75,7 Millionen Euro. Insgesamt 7,8 Millionen Reisende, rund 75 Prozent weniger als im Jahr davor. Fürs laufende Jahr sieht die Budgetplanung eine schwarze Null vor. Die echte Erholung wird länger dauern. Laut Prognoserechnung sollen in diesem Jahr 40 Prozent, im nächsten 70 Prozent des Vorkrisenniveaus erreicht werden. "Aber wir wären auch nicht unzufrieden, wenn wir wieder 25 Millionen Passagiere hätten. Damit haben wir auch gut gelebt, und es ist noch nicht lange her."Genauer: Es war im Jahr 2017. Der Absturz des Vorjahres war dramatisch, erfolgte aber aus enormer Höhe. Tatsächlich ist der Flughafen Wien gar nicht in der Steinzeit gelandet, sondern ungefähr im Jahr 1994.

Die Reisebranche hat sich von den Verwüstungen, die ihr die Corona-Pandemie zugefügt hat, noch nicht annähernd erholt. Bis zu 100 Millionen Jobs sind weltweit bedroht oder schon verloren, schätzt die Welttourismusorganisation UN-WTO. Der Schaden ist groß, die Zukunft unsicher. Die Pässe verstauben in der Küchenschublade, der Rollkoffer hat Fett angesetzt. In der Pandemie ist man zwar mit den Gedanken ständig woanders, mit dem Körper aber leider nicht. Reisen ist immer noch kompliziert und zum Teil sogar völlig verboten. In der Vorwoche versuchte die EU-Kommission, mit dem Vorschlag eines einheitlichen Gesundheitspass-Systems wieder ein Stück weit in Richtung der alten europäischen Freiheiten zu kommen. Das freut die Touristiker. Am Reisewillen der Bevölkerung würde es ja nicht scheitern.

In einer Umfrage des Reise-Anbieters Ruefa gaben 98 Prozent der befragten Reisebüro-Kunden an, in diesem Jahr zumindest einen Urlaub zu planen. Immerhin ein Viertel der Befragten konnte sich sogar schon wieder eine Fernreise vorstellen. Martin Winkler, CEO der Verkehrsbüro-Group (zu der Ruefa gehört),meint dazu: "Die Menschen sehnen sich danach, endlich wieder auf Urlaub fahren zu können. Gleichzeitig ist natürlich eine große Verunsicherung zu spüren. In unseren Reisebüros werden derzeit vor allem Beratungsgespräche geführt. Die Menschen informieren sich, welche Möglichkeiten es gibt, wie die aktuelle Einschätzung ist. Es gibt auch Buchungen, die aber im Vergleich doch eher verhalten ausfallen." Diese Unsicherheit werde uns wohl noch ein, zwei, vielleicht drei Jahre begleiten.

Die Psychologie des Reisens hat sich verändert. Die vorherrschende Emotion ist nicht mehr Vorfreude, sondern bange Erwartung. Reisen beginnen im Kopf. Jeder Urlaub hat einen Vorlauf im Gehirn, man stellt sich den Strand südlich von Rimini vor oder die Ankunftshalle in Taipeh, ohne vorher zu wissen, wie es wirklich sein wird. Man lässt sich auf Ungewissheiten ein-und genießt es. So war das jedenfalls bisher. Dieser süße Kitzel ist uns im vergangenen Jahr sauer geworden. Daran kiefelt auch die Tourismusindustrie. Verkehrsbüro-Chef Winkler: "Natürlich kann man diese Unsicherheit mit kulanten Stornobedingungen ein wenig abfangen. Aber die Kunden wollen ja reisen, sie buchen nicht mit der Perspektive, zu stornieren. Es braucht also vor allem Informationen und nachvollziehbare, klare Spielregeln. Kurzfristig wird das Thema erdgebundene Reisen aber jedenfalls wichtig sein. Man fährt mit dem eigenen Auto auf Urlaub, einfach um flexibler zu bleiben."

Die nähere Zukunft des Reisens führt in die Vergangenheit. Man erkundet die Welt wieder mit dem Auto. Der klassische Roadtrip erlebt eine Renaissance. Im Jahr 2019 fanden weltweit drei Fünftel aller internationalen Reisen per Flugzeug statt und 35 Prozent im Auto - die meisten davon innerhalb Europas. Dieser Anteil wird in diesem Jahr deutlich höher ausfallen - und der Reiseradius eindeutig kleiner. Brian Chesky, CEO der Online-Zimmervermittlung Airbnb, erzählte der "New York Times",dass das am schnellsten wachsende Segment auf seiner Plattform Reisen in einem Umkreis von weniger als 80 Kilometer seien.

Wolfgang Gröller kennt das Phänomen. Der Traunkirchner Hotelier betreibt drei Hotels im Salzkammergut und war bis zur Krise stark im Businessund Tagungsgeschäft positioniert. Mit der Krise war dieses Geschäft erst einmal passé. Gröller positionierte (und baute) um und verlegte sich ganz auf Privatkunden. Bisweilen musste er auch gar nicht weit suchen, manche Urlaubsreise begann in der unmittelbaren Umgebung. Gröller erinnert sich an Gäste aus dem Nachbarort Gmunden, die eine ganze Woche bei ihm verbrachten: "Fünf Minuten Anreise in den Urlaub, was will man eigentlich mehr?" Das Ziel ist das Ziel. Wirtschaftlich kam Gröller mit der Krise bislang gut zurecht: "Allerdings fühle ich mich seit vier Monaten wie in dem Film 'Shining'. Ich wohne ja hier im Hotel und habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass außer der Familie niemand im Haus ist." Gröller nutzte auch den laufenden Lockdown zur Neugestaltung. "Wir investieren derzeit so viel wie seit Jahren nicht. Du kannst nicht alles wie immer machen und davon ausgehen, dass die Gäste schon kommen werden."Seegrundstück hin oder her-man muss mit der Zeit gehen. Und die Zeit verlangt nach individuellen Erlebnissen, nach Luxus im Detail. Der Wellnessbereich muss keine zwei Stockwerke haben, aber er sollte geschmackvoll sein. Die Massenkonfektion mag immer noch ihre Zielgruppen haben, aber diese sind längst anderswo unterwegs. Dem klassischen Bustourismus weint Gröller jedenfalls keine Träne nach. "Das internationale Massengeschäft, in dem sich manche Anbieter einfach darauf verlassen haben, dass die Gäste sowieso kommen, weil sie halt Hallstatt sehen wollen und eh längst wieder weg sind, bevor sie überhaupt merken, wo sie gerade waren - also ich weiß nicht, ob ich mir das zurückwünsche."

THEMENBILD: WAHLEN IN OBERÖSTERREICH / LÄNDERPORTRÄT: TRAUNSEE MIT TRAUNSTEIN

Aber wird der viel beklagte "Overtourism", also die völlige Überwältigung einzelner Ziele durch den Massenandrang der Reisenden, wie er etwa Hallstatt oder die Innenstädte von Barcelona, Dubrovnik und Venedig heimgesucht hatte, nach der Krise wiederkehren? Norbert Kettner, Geschäftsführer von WienTourismus, rechnet nicht mit einem automatischen Umdenken. "Punktuell wird es sehr schnell wieder in diese Richtung gehen, wenn keine Vorkehrungen getroffen werden. Man kann aber auch als Tourismusdestination etwas lernen und daran arbeiten, die Besucherströme besser zu verteilen. Die drohende Entfremdung zwischen Bevölkerung und Tourismus wird ein großes Thema bleiben. Sinnstiftender Tourismus, der sich an realen Interessen und nicht nur am Hedonismus orientiert, hat eine Zukunft."

Nachhaltigkeit und ethisch korrektes Reisen werden zum großen Verkaufsargument, Reisende wollen Verantwortung übernehmen und diese auch einfordern. Seiten wie "Book Different" bewerten Unterkünfte nach Umweltverträglichkeitskriterien, die Plattform "Impact Travel Alliance" propagiert Reisen als weltverbessernde Maßnahme, mit "Travel Tips to Support Gender Equality",Hinweisen "how travelers can be a better ally for people with disabilities" oder dem Aufruf, möglichst diversitätspositiv zu buchen: "The business you support is up to you-it can be Black-owned, Indigenous-owned, LGBTQ+ owned, owned by a woman (BIPOC encouraged), or owned by a person with a disability."

Und doch scheint die Hoffnung trügerisch, dass ein bewusster, höherwertiger Tourismus die Welt automatisch zu einem besseren Ort mache und das Klima, die indigene Bevölkerung oder historische Innenstädte rette. Zu sehr ist damit ein exklusiver Anspruch verbunden. Tatsächlich ist eine Welt, in der Reisen zum Privileg einer moral-und finanzkräftigen Oberschicht würde, keine allzu schöne Utopie.

Reisen, erklärte schon Mark Twain, ist tödlich für Vorurteile, Scheinheiligkeit und Engstirnigkeit. Insofern wäre Reisen gerade jetzt ein wahnsinnig wichtiges Projekt. Ruefa kommt nicht umsonst von "Reise Urlaub Erholung für alle". Der Wiener Tourismusdirektor Norbert Kettner hat dazu eine-wie er selbst zugibt-etwas steile These: "Das 20. Jahrhundert wäre vielleicht anders verlaufen, wenn die Leute 1910 genauso viel gereist wären wie 2019. Reisen war immer ein Werkzeug der Völkerverbindung. Umso mehr erstaunt es mich, wie im vergangenen Jahr der europäische Binnenmarkt zerstört wurde. Nicht alles davon ist mit böser Absicht geschehen. Aber politische Kommunikation wurde zu oft mit Propaganda verwechselt. Diese ewige Sündenbockgeschichte ist nicht hilfreich. Immer ist jemand schuld: die Wiener, die Ausländer, die Tiroler. Der Tourismus wurde zu einem Werkzeug des Nationalismus. Das übersieht leider, dass unser eigentlicher Inlandsmarkt nicht der österreichische, sondern der europäische ist."

Der Effekt ist vor allem in der Hauptstadt enorm: Der im Corona-Jahr heftig propagierte Inlandstourismus ist nur ein Tropfen auf den kalten Stein. Wien hatte 2019 17,6 Millionen Nächtigungen, von denen 80 %aus dem Ausland kamen und die einen Nächtigungsumsatz von 1,02 Milliarden Euro auslösten. Im Vorjahr waren es nur noch 4,6 Millionen Nächtigungen, ein Minus von 74 Prozent. Einige Überseemärkte sind um bis zu 90 Prozent eingebrochen. Der Umsatz ging auf knapp 240 Millionen Euro zurück. Den gesamten Wertschöpfungseinbruch des Wiener Tourismus 2020 bezifferte das WIFO mit 2,8 Milliarden Euro (von vier auf 1,2 Milliarden Euro).Kettner rechnet mit einer langsamen Erholung: "Der Städtetourismus wird wieder anlaufen, sobald die Erreichbarkeit gewährleistet ist. Aber solange die großen Umsatzbringer USA, China und Japan ausbleiben, werden die Umsätze deutlich unter Normalniveau bleiben."

Aber wann werden wir - und die Amerikaner, Japaner, Chinesen - wieder Langstreckenflugzeuge besteigen? Julian Jäger, der Flughafen-Vorstand, möchte keine genaue Prognose abgeben: "Es wird in den kommenden zwölf Monaten einen starken Nachholeffekt geben. Uns wäre es natürlich lieber, wenn es schon im Sommer so weit ist, aber das hängt doch sehr stark vom Fortschritt der Impfkampagnen und internationalen Reisevereinbarungen ab."

Wer für die Zeit nach der größten Luftfahrtkrise aller Zeiten die ganz große Schnäppchenjagd plant, könnte übrigens enttäuscht werden. Fluglinien sind keine Möbelhäuser. Flughafen-Chef Jäger erwartet jedenfalls keine Preisschlacht. "Die Ticketpreise werden eher steigen, weil die Nachfrage schneller wachsen wird als die Kapazitäten. Vor allem auf der Langstrecke haben viele Airlines zuletzt ihre alten Flugzeuge ausgemustert." Mittelfristig könnten aber vor allem im Kurzstreckenverkehr viele Business-Flugreisen eingespart werden. "Wegen einer Zwei-Stunden-Präsentation wird niemand mehr nach Frankfurt fliegen."Innerhalb Europas werden dadurch die Marktanteile der Billigfluglinien wachsen: "Ryan Air hat im Vorjahr, mitten in der Krise, bei Boeing 200 neue Flugzeuge bestellt. Die werden nun europaweit sehr expansiv agieren, was den Druck auf die traditionellen Airlines erhöhen dürfte."

In der Vorwoche sorgten die Schlangen vor deutschen Abflugschaltern Richtung Mallorca für einiges Aufsehen - und die Erkenntnis: Der Mensch will wieder haben, was er hatte, und sei es eine Runde am Ballermann. Ob die Hygieneregeln am Sangriakübel eingehalten werden, werden die nächsten Wochen zeigen.

Man kann natürlich immer auch mit der Bahn reisen. Wien-Schwechat und retour. Eine Reise wie damals, im März 2020. Man könnte fast sentimental werden.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.