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Gastronomie nach der Sperrstunde: Geisterküchen

Die Zukunft der heimischen Restaurants, Wirtshäuser, Bars und Beisln ist ungewiss. Wird es irgendwann wieder so sein, wie es einmal war?

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Leben nach Corona - Teil 1: Die Zukunft unserer Esskultur

Dieser Tage jährt sich der erste Corona-Lockdown in Österreich. Im Angesicht der Covid-19-Pandemie wurde am 16. März 2020 das öffentliche Leben im Land vorübergehend stillgelegt. Der Lockdown ging zu Ende (bevor wieder ein neuer verhängt wurde), der Einschnitt ist geblieben. Ein Schock hatte sich verfestigt. Die Welt war, buchstäblich über Nacht, eine andere geworden, unser Lebensstil hatte sich in weiten Teilen als untauglich erwiesen. Schon in den ersten Wochen der Pandemie häuften sich deshalb die Spekulationen: Wie wird die Welt danach aussehen? Wie wird uns Corona verändern - und was wird bleiben, wie es war? Nach einem Jahr ist nun Zeit, Bilanz zu ziehen und noch einmal, genauer, nach vorn zu schauen: Wie werden wir leben, wenn die Gefahr, die vom Virus ausgeht, tatsächlich geringer wird und vielleicht ganz verschwindet? Was werden wir konsumieren, wohin werden wir reisen, wie werden wir uns kleiden, wie wohnen? In einer neuen Serie widmen wir uns in den kommenden Wochen diesen Fragen.
 

Die Wiener Innenstadt gleicht einem Experimentierfeld. Der Überlebenskampf der Gastronomie gebiert Unerhörtes. Es beginnt beim Gulaschautomaten (Café Diglas), führt über das Austern-Takeaway (Schwarzes Kameel) und den Kaiserschmarren to go (Demel), vorbei an verstaubten Schanigärten (diverse), vor denen grün oder orange uniformierte Lieferservicefahrradfahrer ihre Handys beackern (Mjam, Lieferando). Am Ende steht man im Untergeschoss des Künstlerhauses am Karlsplatz, in der neuen „Hausbar“ der Albertina Modern, und fühlt sich wie im falschen Jahr. Eingedeckte Tische, schlanke Weingläser, zeitgemäß elegante Drei-Hauben-Atmosphäre. Vorbereitung zum Speakeasy-Dinner? Fine Dining mit Prohibitionshintergrund? Der Schein trügt. Es wird auch an diesem Abend kein Gast erwartet, keine Gästin vorbeischauen.

Nach der Sperrstunde

Vor einem Jahr, am 15. März 2020, wurde mit der 96. Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, Paragraph 3, Zahl 1, das „Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe“ untersagt. Das Land ging in den Lockdown, die heimischen Restaurants, Wirtshäuser, Bars und Beisln in eine ungewisse Zukunft.

Corona hat unendlich viele Fragen aufgeworfen. Etliche davon betreffen das Gastgewerbe: Wie wird das Restaurant in Zukunft aussehen? Werden wir uns an Plexiglaskonstruktionen und wild wuchernde Gastgärten gewöhnen müssen, an Heizschwammerlwiesen und Abholschalterkorridore? Wer wird in diesen Restaurants sitzen? Wer im Wirtshaus? Hat das Beisl eine Zukunft, und was wird es dort zu essen geben? Wer wird als Köchin, als Kellner arbeiten? Und wie viel Social Media braucht eine Vorstadtpizzeria?

Die große, entscheidende Frage lautet freilich: Wird die Sonne jemals wieder scheinen? Wird es irgendwann wieder so sein, wie es einmal war? Kommen die Leute wieder? Die Erfahrung aus dem vergangenen Sommer legt eine Antwort nahe: Ja, die Sonne wird scheinen, die Leute werden kommen.

Unter Leuten

Laut einer Online-Umfrage des Instituts Marketagent von Anfang März vermissen 77 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher die Gastronomie sehr oder zumindest deutlich (am meisten übrigens „Gasthäuser mit heimischen Spezialitäten“, gefolgt von „traditionellen Kaffeehäusern“). Die reine Kulinarik spielt in Sehnsuchtsfragen freilich nur eine zweite Geige, in erster Linie werden Restaurants und Gasthäuser vermisst, weil man dort „Freunde treffen“ oder „unter die Leute kommen“ könne. Die bisherigen Lockdowns haben eines gezeigt: Ein Wirtshaus dient nicht nur der Sättigung. Ein Wirtshaus ist auch eine gesellschaftliche Instanz, ein Nachbarschaftsknoten, der ein Grätzel verbinden kann, ein Dorf aneinanderschweißen. Der Weg aus der Einsamkeit führt durch den Gastgarten. Jürgen Pichler, Geschäftsführer des Branchenblatts „Rolling Pin“, sieht diese Erkenntnis durchaus positiv: „Die Wertschätzung gegenüber der Gastronomie wird eine höhere sein als vorher. Weil man begriffen hat, dass Gastronomie eine Kultur definiert. Man kommt zusammen, trifft Menschen, tauscht sich aus. Man hat diese Wichtigkeit der Gastronomie erkannt. Das ist das Wesentliche.“

Geister am Werk

Die schon zitierte Marketagent-Umfrage bestätigt den anekdotischen Eindruck: Man hat sich an Zustell- und Abholservices gewöhnt. Vor der Pandemie nutzten rund zwölf Prozent der Befragten mindestens wöchentlich einen derartigen Dienst, aktuell sind es schon mehr als 20 Prozent. Gut 60 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass sie auch nach der Gastro-Öffnung ihre aktuelle, also verstärkte Lieferdienstnutzung beibehalten werden. Die Orange-Grüne-Elektrorad-Armada wird uns erhalten bleiben. Start-ups wie Mjam oder Lieferando werden ihren Zugriff auf den Gastromarkt noch weiter ausbauen. Sie gehören zweifellos zu den Krisengewinnern. Die Provisionen der Lieferdienste sind notorisch hoch. Die Kalkulation geht für viele Restaurants nur auf, wenn sie beim eigenen Personal im Notbetrieb fahren. Aber auch dafür haben die neuen Dienste ein Angebot im Ärmel: Geisterküchen.

Das Prinzip ist simpel: Die großen Lieferdienste entwickeln unter ihrem Konzerndach Eigenmarken mit zielgruppengerecht austariertem Angebot und schickem Logo (Mamacita California Burritos, Gangnam Kitchen, Cheesus Burger) und bewerben diese auf ihren digitalen Plattformen. Gegen eine Lizenzgebühr können lokale Franchisepartner in der eigenen Restaurantküche das standardisierte Angebot der virtuellen Marken zubereiten und verliefern. Dem Kunden ist oft gar nicht bewusst, dass es in seiner Stadt überhaupt keine Gangnam Kitchen gibt. Arthur Schreiber, Österreich-Chef des Mjam-Mutterkonzerns Delivery Hero, geht davon aus, dass bis Ende 2021 in Österreich mehrere Hundert solcher Geisterküchen (der Konzern nennt es lieber: „Concepts“) entstehen werden. Eine Zukunft des Essens: der Bobo-Burrito aus der Vorstadtpizzeria.

Eine andere Zukunft ist in der Wiener Heumühlgasse zu besichtigen, sie nennt sich Tip Top Frozen Market. Das Unternehmen hat nichts Geisterhaftes an sich. Aus Not wurde Tugend, aus einem Catering-Unternehmen ein Wagnisbetrieb. Marie Bohrer erzählt: "Wir sind seit 25 Jahren im Cateringgeschäft, viele große Firmenkunden, Hochzeiten und Events, es ist ein schönes, aber sehr stressiges Gewerbe. Unsere Chefin, meine Schwiegermutter, hat gern gesagt: Die Leute werden immer essen müssen. Das ist ein fixer Job. Gut, aber im vergangenen Jahr hatten wir trotzdem 90 Prozent weniger Umsatz." Die Inspiration zur Alternative kam aus dem Ausland. In Großbritannien und Frankreich sind qualitativ hochwertige Fertigmahlzeiten aus dem Tiefkühlfach schon länger nichts Unerhörtes mehr. Wer bei Tiefkühlware an Industriefraß denkt, wird umdenken müssen. An hausgemachten Coq au Vin, frische Krautfleckerl, an Kohlrabistrudel oder geschmorte Kalbsbackerl-in kleinen Chargen ohne Konservierungs-und Zusatzstoffe gekocht, schockgefrostet und absolut deppensicher in der Zubereitung. Bald soll ein neues, fixes Geschäftslokal in der Pilgramgasse entstehen, das auch einen 24-Stunden-Tiefkühlautomaten haben wird. "Momentan versuchen wir gerade, unsere Tiefkühltruhen ein bisschen schicker aussehen zu lassen." Nach einem schöneren Wort für Schockfroster wird auch noch gesucht.

Einmal mit Zukunft, bitte

Der Tip Top Frozen Tiefkühlmarkt ist am besten per Rad oder U-Bahn zu erreichen, die Parkplätze im Grätzel sind rar. Anderswo setzt man in Ernährungsfragen wieder verstärkt aufs Auto. Digital unterfütterte Abholdienste werden, gerade in klassischen Drivethrough-Gegenden (also insbesondere den USA, aber durchaus auch in einigen semiurbanen Landstrichen Österreichs), zum neuen Goldstandard im Fast-Food-Geschäft. Der Burger-Bestellautomat wird zur Smartphone-App, der Burger wartet schon, wenn der Kunde vorfährt. Was gerade noch erstaunlich normal schien (aus dem Autofenster in eine Gegensprechanlage hineinbrüllen, durchs Autofenster Kleingeld hinausreichen),wird uns schon sehr bald sehr altmodisch vorkommen. Tatsächlich wurden Drivethrough-Lokale in der Covid-Ära von einer fest in den 1970er-Jahren verankerten Erfahrung zum Spielfeld neuer digitaler Paradiese-Big McData. Die künstliche Intelligenz erreicht den Pommesvertrieb. Burger King arbeitet mit einem System namens Deep Flame, das seinen Take-away-Kunden individuell maßgeschneiderte, von selbst lernenden Algorithmen ausgetüftelte Menüvorschläge macht. McDonald's hat, mit ähnlichen Hintergedanken, schon 2019 für kolportierte 300 Millionen Dollar das Artificial-Intelligence-Start-up Dynamic Yield übernommen.

Eine deutlich weniger technologielastige, aber durchaus zukunftsträchtige Art von Fast Food hatte in den vergangenen Wochen der Wiener Spitzenkoch Lukas Mraz (Restaurant Mraz &Sohn) im Programm, zuletzt zum Beispiel eine - streng limitierte, exklusiv via Social Media annoncierte - Käseleberkäsekäsesemmel mit High-End-Pickles und Lower-Class-Pils. Mraz, der seit einem Gastspiel in Tim Mälzers "Kitchen Impossible" zu den größeren Nummern im österreichischen Foodie-Business gerechnet werden darf, war im Corona-Jahrgang '20/'21 insgesamt nicht untätig. "Ganz am Anfang habe ich Sauerteigbrot gebacken und mit dem Lastenfahrrad zugestellt. Dann haben wir mit der Healthy Boy Band in knapp vier Wochen ein Krisenkochbuch gemacht. Später haben wir Boxen mit Zutaten unserer liebsten Lieferanten plus selbst gemachte Saucen oder eingelegtes Zeug verkauft. Das war eine irrsinnige Arbeit und überhaupt kein Geschäft. Und dann hat das Marktamt sich gemeldet, Allergenverordnung, Mindesthaltbarkeit und so weiter. Das war dann das."Es folgten: ein Magazin, eine Online-Kunstgalerie, noch ein Kochbuch, diverse Take-away-Experimente. "Wenn ich nichts mach, werd ich deppert im Schädel. Natürlich macht man es auch, um nicht in Vergessenheit zu geraten und vielleicht neue Gäste zu gewinnen. Aber letzten Endes sind viele Menschen in dieser Branche einfach Getriebene. Die können vielleicht ein paar Wochen stillhalten, aber nicht sieben Monate. Langsam reicht's. Außer natürlich, du hast grad eine junge Familie. Dann ist der Lockdown sicher ein Geschenk. Zeit mit der Familie hast du in der Gastronomie sonst nie."

Überhaupt, diese Arbeit. Die Tage sind lang und hart und verhältnismäßig schlecht bezahlt. Jürgen Pichler hat mit seinem "Rolling Pin" gerade eine Umfrage unter österreichischen Gastronomie- und Hotellerie-ArbeiterInnen gestartet. Von über 17.000 Teilnehmerinnen gaben 25 Prozent an, die Branche möglichst rasch wechseln zu wollen. "Wir hatten schon vor der Krise einen Fachkräftemangel. Ich fürchte, dass wir jetzt einen Fachkräftekollaps erleben werden." Es könne durchaus sein, dass im Frühjahr

etliche Restaurants zwar aufsperren dürfen, aber mangels Personal nicht können. "Alle Branchen buhlen um die Gastro-Mitarbeiter, die nicht nur seit vier Monaten arbeitslos oder in Kurzarbeit sind, sondern denen im Vergleich zu anderen Branchen auch das Trinkgeld als wesentlicher Einkommensbestandteil fehlt. Die nun von der Regierung zugesagten, einmaligen 175 Euro sind lächerlich." Felix Schellhorn, Juniorchef einer Goldegger Gastronomiedynastie (sein Vater Sepp ist Hotelier, Koch und NEOS-Abgeordneter, sein Onkel Franz unter anderem Kolumnist in diesem Magazin),beschäftigt sich schon länger mit der Frage nach dem glücklichen Mitarbeiter. "Aus der Konsumentensicht wird es nach der Krise sicher eine größere Wertschätzung für die Gastronomie geben. Die Leute wollen raus. Aber es hilft einem Restaurant in Hintertupfing nichts, wenn die Gäste wiederkommen, wenn es keine guten Mitarbeiter mehr hat. Solange ethisch-moralische Standards in der Branche nicht wirklich wichtig sind, solange es schwarze Schafe gibt, die ihre Leute nicht gescheit zahlen, so lange wird sich an dem Dilemma nicht viel ändern." Österreich ist in Gastronomiefragen ein höchst preissensibler Markt. Es gibt hier sehr niedrige Schmerzgrenzen für Schnitzelaber auch für Haubenmenüpreise. Die Kalkulation der Restaurants verläuft oft auf Messers Schneide-und zu oft auf dem Rücken der Mitarbeiter. Schellhorn: "Manche Betriebe werden sich nicht nur im kreativen Bereich überlegen, was sie anders machen können. Da oder dort wird es wohl auch in Richtung Mechanisierung gehen. Ein guter Freund von mir denkt gerade darüber nach, seine Hotelküche in ein Cook-and-Chill-Konzept umzuwandeln. Da wird die Küche komplett ausgeräumt, und dafür stellt man sechs Profi-Kombidämpfer ein. Das Essen kommt komplett vorbereitet vom Blech und wird nur noch regeneriert. Das hat nichts mit Kreativität zu tun, aber es ist konsequent: Was ist, wenn ich die Mitarbeiter nicht mehr finde? Wenn ich sie mir nicht mehr leisten kann? Dann ist das die Alternative."

Ganz normal ist auch nicht schlecht

Was also bringt die Zukunft? Am besten wäre wohl, sie brächte etwas, das der Vergangenheit sehr ähnlich sieht. Eine weitere wichtige Corona-Lehre: Zukunft soll nicht aufregend sein, sie soll beruhigen. Diesem Bedürfnis werden sich auch Restaurants nicht verschließen können. Die große Zeit des Tellerfuturismus ist vorbei. Jürgen Pichler vom "Rolling Pin" sieht nicht nur eine Renaissance der guten Wirtshausküche, sondern auch einen veränderten Zugang in der Haubengastronomie voraus: "Die Spitzenrestaurants werden einen riesigen Boom erleben. Aber sie werden ihre Gerichte viel verständlicher, viel zugänglicher machen. Früher hat man ja vom Servicemitarbeiter oft minutenlange Erklärungen gehört, was denn da alles auf dem Teller liege. Diese Show wird wegfallen. Wir wollen wieder etwas Einfaches. Wir wollen ein gutes, heimeliges Gefühl."

Abschlussfrage in der Hausbar im Künstlerhauskeller: Wie sieht die Zukunft aus? Was werden wir von der Corona-Zeit gelernt haben? "Die Menschen schauen nicht gern zurück", meint Lukas Bereuter: "Sie werden froh sein, dass es ist, wie es ist. Ich erinnere an den vergangenen Sommer. Wir waren im Frühjahr allesamt zwei Monate daheim eingesperrt und haben nicht gewusst, ob die Welt vielleicht untergeht. Selbst das ist sehr schnell wieder verpufft. Es sind in den vergangenen Monaten sicher super Ideen entstanden, aber am Ende wird die Gastronomie wieder zur Gastronomie zurückfinden. Weil wir müssen schon so ehrlich sein: Wenn ich nirgendwo hingehen kann, mach ich mir vielleicht selber was warm. Aber am Ende möchte ich irgendwo schön sitzen und mich bedienen lassen."

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.