Ich habe ein Gefühl

Lexikon der modernen Emotionen – Nummer 6: Temporalklappern

Wie fühlen wir uns heute? Was spüren wir da eigentlich genau? Und ist das gut so? Eine Forschungsreise durch die Welt der zeitgemäßen Empfindungen.

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Gefühl Nr. 6: Temporalklappern– die scheinbar weit entfernte Erinnerung an gerade erst Vergangenes.

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Mit der Zeit verhält es sich ja so ähnlich wie mit der Stimmung im Internet: Man kann sie meistens nur ganz schwer fassen, und wenn es einem doch ausnahmsweise gelingt, dann packt man es schon gar nicht mehr. Twitter ist immer auch eine metaphysische Angelegenheit. Um es ein bisschen weniger technisch, also philosophisch zu formulieren: Wenn der Mensch morgens in einen Fluss steigt, und am Abend wieder heraus – ist er noch derselbe? Also der Fluss natürlich, der Mensch ist wahrscheinlich nur ziemlich aufgeweicht. Wobei: So ein handelsüblicher Mensch fließt ja ebenfalls, rein zeitlich betrachtet.

Aber es kommt natürlich schon immer auf die Geschwindigkeit an. Und darum frage ich mich heute, ob das eigentlich früher auch schon so war: Dass man sich ständig an Dinge erinnert, die einem unwahrscheinlich weit weg vorkommen, nur um gleich verblüfft festzustellen, dass das alles ja erst gestern war (oder von mir aus vor einem halben Jahr).

Das kann man sich heutzutage ja alles gar nicht mehr vorstellen. Aber so war das früher wirklich – also vorgestern.

Bestes Beispiel: Clubhouse. Eine Social-Media-Plattform mit Audio-Funktion, heißester Scheiß, hochkarätige Diskussionskultur, toller Zeitvertreib, die digitale Zukunft geradezu. Und ewig her. Oder? Na ja. Ziemlich genau ein Jahr halt. Ungefähr so lange also wie die Schlange vor dem beliebten Markenmode-Abverkaufsshop TK Maxx auf der Wiener Mariahilferstraße: Hunderte Menschen, die wegen Zugangsbeschränkungen teils stundenlang auf ihren Billigshopping-Trip warten. Ziemlich irre. Kann man sich heutzutage ja gar nicht mehr vorstellen. Aber so war das damals wirklich, also vorgestern ungefähr.

Wahrscheinlich liegt es daran, dass all das zwar wirklich noch nicht besonders lange her, dass seither aber doch ziemlich viel passiert ist, und manches davon sogar schon zwei oder drei Mal: Pandemieende, Pandemiefortsetzung, Pandemieende, neue Mutation usw. usw. Man lebt ja heutzutage in einem unendlichen Etcetera, da können einem Gestern und Vorgestern schon einmal durcheinanderkommen. Denn je mehr sich gestern getan hat, desto weiter erscheint einem Vorgestern entfernt. Von vergangenem Jahr ganz zu schweigen. Das zumindest war früher auch schon so. War halt weniger los damals. Also letzte Woche.

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Wie oft habe ich dieses Gefühl: Es kommt mir vor, als wäre es vorgestern gewesen.

Mit welchen Gefühlen ist es artverwandt: Geschichtsverlust, Zeitgefühlsschwankungen

Wenn ich über dieses Gefühl ein Lied schreibe, trägt es folgenden Titel: Der Früher-Vogel

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.