Ich habe ein Gefühl

Lexikon der modernen Emotionen – Nummer 12: Endzeitverstimmung

Wie fühlen wir uns heute? Was spüren wir da eigentlich genau? Und ist das gut so? Eine Forschungsreise durch die Welt der zeitgemäßen Empfindungen.

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Gefühl Nr. 12: Endzeitverstimmung, oder das Gefühl, dass man diesen Sommer total super gefunden hat - und dass man genau weiß, wie sehr man sich dafür genieren sollte.

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Er ist jetzt schön langsam wohl wirklich vorbei, dieser Sommer 2022. Rein objektiv war die Sache ja eindeutig: totale Katastrophe. Rekorddürre in Europa, Waldbrände bis dorthinaus, Neusiedler See am Sand. Plus: Krieg in der Ukraine, Überschwemmung in Pakistan, Gletscherschmelze am Glockner. Rein subjektiv dagegen: danke, gut. Man kann nicht klagen. Badewetter bis weit in den September hinein, kaum ein verregneter Gastgartenabend, dazwischen der von Corona unbehelligte Urlaub am Strand und die himmelblauen Wochenenden auf der Alm. Der Sommer ist halt immer noch die schönste Zeit im Jahr.

Ist Sommergutfinden das neue Kurzstreckenfliegen: ignorant, egoistisch, beschämend?

Im heurigen Sommerschlussverlauf stellte sich allerdings ein Gefühl ein, das ich so noch nie hatte, zumindest nicht in Bezug auf Jahreszeiten: die Endzeitverstimmung, also das Gefühl, dass man der kommenden Katastrophe nicht so ganz gerecht wird. Und schon war ich mir selbst nicht mehr geheuer. Denn ich weiß natürlich, dass wir objektiv gewaltige Sorgen haben. Umso brisanter erschien mir meine subjektive Freude an Phänomenen, die mit diesen Sorgen ursächlich zusammenhängen. Sommer, das ist seit diesem Jahr leider ein Symptom. Für eine Krise, die uns noch sehr weh tun wird, wenn wir nichts dagegen tun. Kann man sich unter solchen Umständen den Sommergenuss noch leisten? Oder ist Sommergutfinden das neue Kurzstreckenfliegen: ignorant, egoistisch, beschämend?

Mein Problembewusstsein hat meinen Lebenswandel längst überholt. Awareness kills Wellness.

Jetzt kann man natürlich einwenden (und selbstverständlich habe ich das zu meiner Beruhigung auch getan): Es handelt sich immerhin nur um ein ungutes Gefühl, nicht um eine schlechte Tat. Ich bin nicht um die halbe Welt geflogen und habe auch immer brav Wasser gespart. Ich habe den Wald nicht angezündet. Aber ich habe mich an der Hitze erfreut. Mein Problembewusstsein hat meinen Lebenswandel längst überholt. Awareness kills Wellness. Dauernd droht die Grundsatzfrage: Wie weit darf sich das subjektive Wohlbefinden von der objektiven Misere entfernen? Müssen wir immer auch an die schlimme Zukunft denken, wenn wir uns an der schönen Gegenwart erfreuen? Ich weiß es leider noch immer nicht. Aber eines weiß ich: Dass ich diesen Herbst ausnahmsweise genießen werde (ebenfalls eine ganz neue Erfahrung). Weit und breit kein Grund für schlechtes Gewissen - und wahnsinnig viel Zeit zum Nachdenken

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Wie oft habe ich dieses Gefühl: erstmalig Anfang September, seither durchgehend

Mit welchen Gefühlen ist es artverwandt: Egoismusscham, Fluggenusspeinlichkeit

Wenn ich über dieses Gefühl ein Lied schreibe, trägt es folgenden Titel: Summerbummer

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.