Das Anwesen war damals knallrosa gefärbt, und nicht in dem geschmackvollen Weiß, das später auf den Tatort-Fotos um die Welt ging. „Ich liebe Rosa, weil ich Pussy liebe“, soll Jeffrey Epstein, der Besitzer jenes Anwesens, der damals knapp 17-jährigen Virginia Roberts erklärt haben. Epsteins bombastisches „Ferienhaus“, wie er es bei einer Vernehmung nannte, an der Adresse 358 El Brillo Way in Palm Beach, Florida, verursachte der jungen Frau schon bei ihrem ersten Besuch ein beklemmendes Gefühl. An den Wänden aller Flurgänge waren Gemälde von nackten Mädchen aufgehängt. Doch die Frau, die sie im Spa von Donald Trumps Club Mar-a-Lago angesprochen hatte, wo Virginia sich damals um frische Handtücher, Tee und Wasser kümmerte, erschien ihr seriös, mit ihrem „Mary-Poppins-Akzent“ und einer Designer-Handtasche, die „nach dem Wert eines Autos“ aussah. Ihr „Boyfriend“ brauche eine „persönliche Massage-Therapeutin“, hatte die Frau erklärt. Virginias schüchterne Antwort, dass sie überhaupt keine Ausbildung dazu habe, störte die dunkelhaarige Britin überhaupt nicht. Sie werde ihr schon vorführen, wie das funktioniere.
Die Frau hieß Ghislaine Maxwell und sitzt zur Zeit eine 20-jährige Haftstrafe wegen Menschenhandels und der Vermittlung Minderjähriger zu sexuellem Missbrauch in einem texanischen Gefängnis ab. Maxwell sollte sich als die „ebenbürtige Hälfte eines verhexten, verfluchten Ganzen“ erweisen, schreibt Roberts in ihren posthum erschienenen Memoiren „Nobody’s Girl“, die Mitte November auch in der deutschen Übersetzung auf den Markt kommen: „Maxwell öffnete für mich und viele andere das Tor zur Hölle. Sie hat uns emotional, seelisch und physisch zerstört. Ohne sie hätte ich den Pädophilen Epstein nie getroffen. Ghislaine hat sich an uns wie ein Wolf in Schafskleidung herangeschlichen und ihr weibliche Identität benutzt, um uns zu ködern und in Sicherheit zu wiegen.“
Die ultimative Tragödie, in dem an Tragödien überbordenden Leben der Virginia Roberts, ist, dass sie die Veröffentlichung ihres Befreiungsschlags in Buchform, in dem sie das brutale System Epstein-Maxwell und dessen manipulativen Magnetismus beschreibt, nicht mehr erleben kann. Auf ihrer westaustralischen Farm nahe Perth nahm sich die dreifache Mutter im Alter von 41 Jahren Ende April das Leben. Zu diesem Zeitpunkt durfte sie ihre Kinder aufgrund eines Kontaktverbots, das ihr Mann Robbie Giuffre gerichtlich erwirkt hatte, nicht sehen. Ihre Co-Autorin, die Journalistin und Schriftstellerin Amy Wallace, die mit ihr vier Jahre lang an dem Buch arbeitete, schreibt in ihrem Vorwort, dass die Trennung von den Kindern Giuffre Roberts endgültig in einen Zustand tiefer Depression versetzt habe.
Warum ein Vater und Ehemann, dessen häusliche Gewaltausbrüche sie bereits im Jänner davor polizeilich zur Anzeige gebracht hatte (ohne Konsequenz), ein Kontaktverbot für die Mutter erwirken konnte, bleibt mysteriös. Jedenfalls befand sich ihr Berufungsverfahren noch im Laufen, und bis auf Weiteres hielt der Ex-Kampfsporttrainer, den Roberts nach ihrer Flucht aus den Fängen von Maxwell und Epstein 2002 in Thailand kennen gelernt und schon nach zehn Tagen geheiratet hatte, das alleinige Sorgerecht, was die an extremen Muskelverspannungen und Schlaflosigkeit leidende und unter Schmerzmitteln stehende Mutter zerstörte. Herzzerreißend gestaltet sich das letzte Mail, das Roberts Anfang April an ihre Co-Autorin Wallace und deren Assistentin schickte und das im Vorwort von „Nobody’s Girl“ publiziert ist: „Sollte ich nicht mehr am Leben sein, möchte ich dennoch, und das ist aus tiefstem Herzen mein Wunsch, dass ,Nobody’s Girl’ veröffentlicht wird. Der Inhalt ist so wichtig, denn das Buch zeigt auf, wie fehleranfällig unsere Schutz-Systeme sind und wie leicht es ist, verletzliche Individuen über alle Grenzen zu verschieben und zu missbrauchen. Meine Geschichte hat das Potenzial, Leben zum Guten zu verändern und Diskussionen in Bewegung zu setzen. Ich danke euch für eure Unterstützung, eure Geduld und vor allem eure Liebe.“
Dieses Schreiben endete mit drei schwarzen Herz-Symbolen. Was für ein Zynismus des Schicksals, dass die Frau, die wohl maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang der Prozesse von Epstein, Maxwell und dem französischen Mädchenhändler Jean-Luc Brunel hatte (der sich wie Epstein später im Gefängnis mutmaßlich erhängte und seinem „Abnehmer“ zu einem Geburtstag drei zwölfjährige Mädchen aus Frankreich einfliegen hatte lassen), in ihrer Ehe wieder zum Opfer wurde. Roberts hatte Wallace noch im Jänner Fotos von ihrem verschwollenen und misshandelten Gesicht geschickt. In einer öffentlichen Erklärung schrieb sie, drei Wochen vor ihrem Tod: „Ich war in der Lage, gegen Maxwell und Epstein anzukämpfen, aber nicht, mich aus der häuslichen Gewalt innerhalb meiner Ehe zu befreien. Jetzt kann ich dazu nicht mehr länger schweigen.“
Das prominenteste Opfer von Jeffrey Epsteins pädophiler Missbrauchsmaschinerie war im Zuge der Prozesse ab 2019 zu einer Aktivistin gegen Mädchenhandel und sexuellen Missbrauch avanciert. Ihr Mut, der den beharrlich leugnenden Prinz Andrew mit dem Erscheinen des Buches endgültig zu Fall brachte, gab auch vielen anderen Leidensgenossinnen die Courage, ihre Geschichte zu erzählen. Dass ein Leben, in dem sexueller Missbrauch, Vergewaltigungen und emotionale Verwahrlosung von klein auf zum Alltag gehörten, sich in die Psyche der gebürtigen Kalifornierin eingraviert hatte, wird in dem Buch in aller Ungeschöntheit deutlich. Immer wieder erzählt Virginia, die vor der Epstein-Hölle teils auf der Straße lebte, von schwindendem Selbstwert, schweren Depressionen, posttraumatischer Belastung und Schuldgefühlen gegenüber ihren Kindern.
Der Lieblingssohn von Queen Elisabeth II. hatte Virginia Roberts nach deren Erinnerung drei Mal missbraucht: Erstmals am 10. oder 11. März 2001 im Haus seiner langjährigen „Freundin“ Ghislaine Maxwell, nach einem Besuch im Londoner Club „Tramp“. In einem katastrophalen BBC-Interview leugnet Andrew dieses Zusammentreffen, er habe an diesem Tag seine Töchter zu einer Geburtstagsparty in ein Lokal namens „Pizza-Express“ gebracht. Warum er sich daran so genau erinnern könne, wollte die BBC-Interviewerin wissen. Der als arrogant verschriene Prinz antwortete: „Weil das ein Ort ist, wo ich üblicherweise nicht hingehe.“ Das legendäre und weltweit publizierte Foto, auf dem der Prinz den Arm um die Taille der noch 17-jährigen Virginia legt (mit Maxwell im Hintergrund), hatte diese mit einer Kodak-Einweg-Kamera machen lassen. Sie wollte das Bild mit dem Prinzen ihrer jahrelang entfremdeten Mutter (die Roberts in eine Teenager-Besserungsanstalt gesteckt und den Missbrauch seitens des Vaters beharrlich ignoriert hatte) mit Stolz zeigen. „Ich kenne die Frau nicht“, erklärte Andrew in dem TV-Interview. Und ergänzte: „Ja, das bin ich. Es ist tatsächlich schwierig, sich selbst nicht zu erkennen, aber möglicherweise ist das Foto gefälscht.“ Im Wagen zurück nach Belgrave, jenes Londoner Nobelviertel, wo Maxwell ihre Wohnung hatte, erklärten ihr Epstein und Maxwell, dass sie jetzt mit dem Prinzen „das Gleiche machen“ müsse, was sie auch immer mit ihnen mache. Der damalige Duke of York, der inzwischen seine Titel ablegen musste, fuhr mit seiner Security in einem anderen Auto. Der Geschlechtsverkehr nach dem Club-Besuch sollte nicht länger als eine halbe Stunde dauern, heißt es in „Nobody’s Girl“. Der Prinz habe sie benutzt, als sei das sein „Geburtsrecht“, am nächsten Tag gab es eine finanzielle Belohnung von Epstein und Lob von Maxwell: „Der Prinz war zufrieden, du hast deine Sache gut gemacht.”
Noch zwei solche traumatisierenden Erlebnisse in New York und auf Epsteins Privatinsel in der Karibik (bei einer „Orgie“ mit acht anderen jungen Frauen) erlebte sie mit dem Prinzen, der sie wie alle anderen mächtigen Männer, an die sie „verliehen wurde“, wie „einen Gegenstand oder ein Spielzeug“ behandelt habe. Die anderen Mädchen kamen aus den Händen des Franzosen Brunel, sprachen kein Wort Englisch, und die anwesenden Männer machten sich darüber lustig, dass sie durch ihr Sprachunvermögen noch leichter zu handhaben seien. Andrew, der 2022 einen außergerichtlichen Vergleich mit Roberts zu kolportierten 12 Millionen Pfund erlangt hatte, wurde durch das Erscheinen der Memoiren zum meist verachteten Mitglied der britischen Royals. Er muss aus der „Royal Lodge“ nahe Windsor ausziehen, wo er seit 22 Jahren keine Miete und oft nicht einmal die Wasserrechnung bezahlte, er muss sämtliche Orden zurücklegen und wird wahrscheinlich auch in bälde – auf Anordnung seines Bruders, König Charles – den Geburtstitel „Prinz“ nicht mehr benutzen dürfen. Vergangene Woche wurde auch bekannt, dass Andrew um 2020 seinem (von der öffentlichen Hand finanzierten) Security-Mann angeordnet hatte, „nach Schmutz im Leben von Giuffre Roberts zu graben“. „Außer dem stumpfsinnigen Betrachten von Golfturnieren im Fernsehen und ab und zu einem Ausritt“, so die britische Royal-Expertin Ingrid Seward, werde von Andrews früherem Leben nicht viel übrig bleiben.„Manche werden sich fragen, warum wir aus diesem Gefängnis nicht geflohen sind“, schreibt Roberts im Buch über ihr zweijähriges Martyrium: „Aber das Schlimmste, was Maxwell und Epstein mir angetan haben, war nicht physisch, sondern psychologisch. Von Anfang manipulierten sie mich zu einem Verhalten, das mich zu einem Komplizen meiner Selbstzerstörung machte.“
Wie die Epstein total ergebene Maxwell musste auch Virginia junge Frauen, „die nichts sind, maximal Trash“(Maxwell) ködern, denn Epstein, so ließ Maxwell in einer Netflix-Doku wissen, brauche „mindestens drei Mal am Tag Sex, und eine einzelne Person kann diesen Ansprüchen nicht gerecht werde.“ Im schlimmsten Fall musste Roberts sadistische Prozeduren erleiden, wie von einem bekannten und namentlich nicht ausgeführten Premierminister, der „mich solange würgte, dass ich Angst hatte, zu ersticken. Ich blutete und bat später auf Knien, nicht wieder zu diesem Mann zu müssen.“ Aber auch durch Epstein wurde sie schrecklichen Sexpraktiken ausgesetzt, die sie „aus allen Öffnungen blutend“ zurückließen. Kurz vor jenem ersten verhängnisvollen Besuch, im Sommer 2000, in Epsteins rosa Villa in Palm Beach, hatte Roberts einen Job (um neun Dollar Stundenlohn) als „Lockerroom-Assistance“ im Spa und Wellnessbereich von Donald Trumps exklusivem Golf-und-Country-Club Mar-a-Lago angenommen. Die Arbeit war auf Vermittlung ihres Vaters, der in dem Club als Haustechniker jobbte, zustande gekommen. Sky Roberts, der in „Nobody’s Girl“ als sexueller Missbrauchstäter seiner eigenen, damals minderjährigen Tochter porträtiert wird und überdies Virginia an einen pädophil veranlagten Familienfreund „ausgeliehen“ habe, verweigerte für das 400 Seiten dicke Werk jegliche Interviews, meldete aber via Anwalt ein, dass jegliche Anschuldigungen nicht der Wahrheit entsprechen. Nach ihrem Ableben verkündete er, dass der Tod seiner Tochter durch Fremdeinwirkung passiert sein müsse. Roberts früherer Chef, der Club-Besitzer Donald Trump, kann sich nach Erscheinen des Buches jedoch entspannt zurücklehnen. Er wird von Roberts als „überaus freundlich“ beschrieben, sie habe von ihm keinerlei sexuellen Übergriffe oder sonst ein unangemessenes Benehmen erleben müssen. Im Gegenteil: Sie durfte sogar in sein Büro zu einer persönlichen Begrüßung, und er erklärte ihr, dass er „glücklich“ sei, sie als Mitarbeiterin zu haben. Trumps oftmals angezweifelte Beteuerung, dass Epstein dem Club „Virginia einfach weggenommen“ habe, entspricht demnach den Tatsachen.
Wie traurig macht , im Wissen um Virginia Roberts Suizid, diese Passage in ihren Memoiren: „Im Bemühen, mich zum Schweigen zu bringen, haben meine mächtigen Feinde gedroht, mich finanziell zu ruinieren und sogar mich umbringen zu lassen. Ich habe nicht aufgehört, darüber zu reden. Als ich eine Sexsklavin war, hatte ich nichts zu melden. Ich habe mir selbst versprochen, dass das nie wieder vorkommen wird.“