800 Mal Einspruch

Die PVA hebelte eine Gutachterin vor dem Arbeitsgericht aus

Affäre. Die PVA hebelte eine Gutachterin vor dem Arbeitsgericht aus. Wer ist der Nächste?

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Es ist eine schöne Ordination, mit einem Empfangsbereich, der jene besänftigende Ruhe ausströmt, die Eintretende sofort in das zuversichtliche Versprechen hüllt, dass hier die Dinge in Ordnung kommen. Doch es gab Zeiten, da hatte Gabriele Wörgötter (Bild) nur Augen für die Post, die sich auf ihrem Tisch stapelte: Wie viele Einsprüche hatte die Pensionsversicherungsanstalt heute wieder geschickt? Fünf? Zehn?
Das waren die Tage, die schon am Morgen gelaufen waren. Wörgötter ist Fachärztin für Psychiatrie, Ausbildnerin und gerichtliche Sachverständige. Auf ihre Expertise hören Straf- und Zivilgerichte in ganz Österreich. Am Arbeits- und Sozialgericht in Wien (ASG) gehörte sie zu den am häufigsten bestellten Gutachtern, wenn es um die Frage ging, ob ein psychisch kranker Mensch noch arbeitsfähig ist. Rund 600 Expertisen lieferte sie dort jedes Jahr ab. Fundiert und verlässlich, Wörgötter gilt als Kapazität ihres Fachs.

Nun tröpfeln die Aufträge nur noch spärlich. Schuld daran ist die Pensionsversicherungsanstalt (PVA), die Ende 2010 begonnen hatte, die Gebührennoten der Psychiaterin zu bekämpfen – nicht nur manche, auch nicht „etliche“, wie die PVA in einem Email an profil behauptet, sondern jede. 800 Einsprüche flatterten Wörgötter innerhalb von eineinhalb Jahren in ihre Ordination am Wiener Brahmsplatz – und nur ihr: Kein zweiter Gutachter des Arbeits- und Sozialgerichts war einem vergleichbaren Bombardement ausgesetzt.

„Mobbing von A bis Z“
Es legte ihre Ordination beinahe lahm. 800 Fallgeschichten waren aufzurollen, 800 Stellungnahmen zu verfassen, jede davon mehrere Seiten lang. Die Korrespondenz füllt einen Aktenschrank. Man könnte ihm das Etikett „Mobbing von A bis Z“ verpassen, doch das würde der Bedeutung nicht gerecht: Die Bürokratie zermürbte nämlich nicht nur die Gutachterin, sondern auch die Richter am Arbeits- und Sozialgericht.

Das ist die zweite, nicht minder empörende Seite des Skandals: Die Richter dürfen ihre Sachverständigen frei wählen, ­deren Gebührennoten werden normalerweise nach der Verhandlung rasch durchgewunken. Alles andere wäre bei 12.000 Verfahren allein in Wien nicht praktikabel. Jeder Einspruch aber zieht einen aufwändigen Schriftsatz nach sich, 800 Einsprüche erzeugen 800 aufwändige Schriftsätze. Das Gros der Richter hatte keine Lust, sich damit herumzuschlagen und bestellte die Psychiaterin einfach nicht mehr. Wörgötters Aufträge waren innerhalb kürzester Zeit um 80 Prozent eingebrochen.

Walter Schober, Sprecher des Arbeits- und Sozialgerichts in Wien, gibt sich empört, wenn man ihn fragt, ob die PVA es damit geschafft habe, eine Gutachterin loszuwerden: „Das muss ich entschieden zurückweisen. Sie wird ja weiter beschäftigt.“ Was er nicht dazusagt: Es gibt am ganzen Gericht nur zwei Richterinnen, die Wörgötter nicht fallen gelassen haben. Eine davon ist Patricia Wolf, Vizepräsidentin des Arbeits- und Sozialgerichts, die findet, sie sei es „den Leuten, die bei uns Recht suchen, schuldig, dass ich die besten Sachverständigen auswähle. Dafür nehme ich auch einen Mehraufwand in Kauf.“ Am ersten Beschluss zu einer Wörgötterschen Gebührennote saß sie noch zwei Tage. Inzwischen gehen ihr die Schriftsätze in ein, zwei Stunden von der Hand. Für die Richterin sind Gutachten das Um und Auf in sozialrechtlichen Verfahren. Sie hält dazu Vorträge und publiziert Fachartikel.

In der Kollegenschaft steht sie wie eine einsame Heroin da, die am Gesamteindruck wenig ändert. „Die PVA hat einen plumpen Hebel angesetzt und das Gericht hat nachgegeben“, konstatiert der Grüne Sozialsprecher Karl Öllinger: „Macht das Beispiel Schule, ist es mit der Unabhängigkeit der Gutachter vorbei.“ Der Wiener Rechtsanwalt Herbert Pochieser, der selbst viel am Arbeits- und Sozialgericht zu tun hat, sieht es ähnlich: „Das geht über Mobbing weit hinaus, das ist ein Justizskandal.“
Dahinter steht gewaltiger, politischer Druck. Das Heer der Frühpensio-nisten soll schrumpfen, der Zugang zur Invaliditätspension erschwert werden. Tatsächlich geht die Zahl der Pensionen aus geminderter Erwerbstätigkeit zurück. 2011 gab es 73.692 Anträge, im Jahr darauf nur mehr 68.150 (ohne Beamte). Die Zuerkennungen sanken von 27.969 im Jahr 2011 auf 27.446 im Jahr darauf. In der ersten Hälfte des laufenden Jahres verzeichnet die Statistik nur mehr 12.504 positive Bescheide. Wer abblitzt, kann beim Arbeits- und Sozialgericht klagen. 60 Prozent der abgelehnten Antragsteller auf eine Invaliditätspension beschreiten diesen Weg, nur ein Fünftel davon kommt auch ans Ziel. Weil die Menschen aber nicht gesünder werden, hängen immer mehr chronisch Kranke in der Schleife zwischen AMS, Gericht und PVA – zu kaputt zum Arbeiten, nicht krank genug für die Pension, zumindest in den Augen von Gutachtern (siehe Kasten am Ende).

Psychiatrische Erkrankungen zählen – neben orthopädischen Beschwerden – zu den häufigsten Gründen für Berufsunfähigkeit. Kein Richter ist in der Lage, mit freiem Auge zu erkennen, ob eine Frau depressiv ist, ob jemand trotz Wirbelbrüchen noch sitzen kann oder der adrette, drogensüchtige Mann arbeitsfähig ist. Die Qualität der Urteile hängt von der Qualität der Gutachten ab – und die ist mitunter erbärmlich. Als Wörgötter, in wissenschaftlichen Kreisen als Vorkämpferin für gehaltvolle Expertisen hochangesehen, für ein Symposium 100 Gutachten von Kollegen unter die Lupe nahm, konstatierte sie mit Schrecken, dass 80 Prozent nicht einmal die Mindestanforderungen erfüllten. Es fehlten die Fragestellung, der Zeitpunkt und die Dauer der Untersuchung, ein Abriss der Aktenlage, der psychopathologische Status. Selbst Diagnosen suchte sie vergeblich. „Man weiß nicht, was man dazu sagen soll, außer, dass das keine Gutachten sind“, sagt Wörgötter.

Latte höher gelegt
Die Psychiaterin machte sich mit solchen Befunden nicht nur Freunde. Vor 15 Jahren war sie als eine der ersten Frauen in die männliche Domäne der Gutachter eingebrochen. Sie war tüchtig, nicht auf den Mund gefallen und legte am Schiedsgericht, wie das Arbeits- und Sozialgericht früher hieß, die Latte um einiges höher: Bis dahin hatte man sich nicht selten mit halbseitigen Erörterungen begnügt. Wörgötter fuhr mit ordentlich gegliederten, umfangreichen Expertisen auf, wie sie in Strafverfahren üblich waren. Einige Kollegen dürften ihr das nicht verziehen haben, doch alle Versuche, sie fachlich auszuhebeln, endeten blamabel. Einer ihrer Widersacher, dessen Gutachten sie als Übergutachterin zerpflückt hatte, attackierte sie wüst, diskreditierte sie als Expertin und bezweifelte ihre Ausbildung. Er musste in einem Schlichtungsverfahren vor der Ärztekammer alles zurücknehmen und sich entschuldigen.

Gegen das PVA-Bombardement aber war Wörgötter letztlich machtlos. Psychiatrische Expertisen kosten – je nach Umfang – zwischen 400 und 900 Euro. Die PVA hatte zunächst den Posten „Testpsychologie“ von ihrer Gebührennote gestrichen. Ein Dreivierteljahr brauchte das Oberlandesgericht, um die Honorarforderung zu bestätigen. Daraufhin knöpfte sich die PVA die kleinen Beträge vor: 20 Euro für Hilfskräfte, Ordinationspauschalen von zehn oder 20 Euro. Manche wurden bestätigt, manche nicht.

Die PVA behauptet, Wörgötter habe alles weiter in Rechnung gestellt. „Das stimmt nicht, sobald eine Entscheidung negativ war, habe ich den Posten natürlich nicht mehr veranschlagt“, sagt sie. Die anderen Gutachter hingegen setzten sie weiter auf ihre Gebührennoten – und zwar ohne, dass die PVA ein Veto eingelegt hätte, sagt Wörgötter. In ihrem Aktenschrank lagern hunderte Schriftsätze, in denen es sinngemäß heißt, die PVA stimme allen Gebühren ungeschmälert zu – außer ihren.

Das ist rechtlich vermintes Gebiet. Denn als Körperschaft öffentlichen Rechts ist die PVA zu Objektivität verpflichtet. Nicht nur für den Grünen Öllinger riecht die systematische Benachteiligung einer Gutachterin „sehr stark nach Amtsmissbrauch“.
Ein Richter des Arbeits- und Sozialgerichts dürfte sich Ähnliches gedacht haben, als er im März 2013 einen Gebührenbeschluss verfasste, in dem er zunächst alle Sachverständigen aufzählte, deren Honorarforderungen die PVA ohne Murren hinnahm: Gegen die Ordinationspauschale von Dr. R. und Dr. S. (je 20 Euro) habe es keine Einwände gegeben, auch nicht gegen die von Dr. R., der 23,40 Euro veranschlagt hatte, auch nicht gegen jene 15 Euro von Dr. F. für die Beziehung von Hilfskräften, ebenso wenig gegen die von Dr. S. verrechneten 20 Euro für Sekretariatsarbeiten. Wörtlich heißt es weiter: „Auch in anderen Verfahren wendet die beklagte Partei [die PVA] auch weiterhin nicht die Ordinationspauschale ein […]. Da nicht anzunehmen ist, dass die beklagte Partei amtsmissbräuchlich ihr genehme Sachverständige bevorzugt […], sondern alle gleich behandeln will, waren [Frau Dr. Wörgötter] Kosten für die Beziehung von Hilfskräften in der Höhe von 20 Euro zuzuerkennen.“

Sowohl der Sprecher des Arbeits- und Sozialgerichts als auch die PVA bestreiten auf profil-Anfrage eine Ungleichbehandlung. Mit gelegentlichen Einsprüchen müsse jeder Gutachter leben. Das räumt auch Wörgötter ein. Doch am Arbeits- und Sozialgericht gibt es keinen zweiten Sachverständigen, der – so wie sie – um buchstäblich jede Gebührennote streiten musste. Der Vorstand der PVA antwortete auf die profil-Anfrage, wie man 800 Einsprüche gegen eine Gutachterin erkläre, mit einem E-Mail, das sich in Erläuterungen über die Tücken der Vergebührung, die dafür gültigen Gesetzesstellen und allfällige Rechtsmittel verliert. Man führe, heißt es weiter, „keine statistischen Aufstellungen darüber, wie oft zu Gebührennoten einzelner Sachverständiger eine Äußerung abgegeben wurde oder wird“.

Wenn die Psychiaterin Gabriele Wörgötter heute ihre Ordination betritt, fällt ihr erster Blick nicht mehr auf den Stapel Post. „Ich hatte eine harte Zeit, musste Mitarbeiter kündigen und mich neu ausrichten.“ Was ihre persönlichen Befindlichkeiten betrifft, habe sie die Causa abgehakt.
Die politische Dimension freilich lässt ihr keine Ruhe: „Mich hat man abserviert. Wer ist der Nächste?“

Infokasten
Zu kaputt für die Arbeit, zu wenig krank für die Pension
„Hoffentlich passiert mir das nie!“, dachte Susanne Faux, als sie vor Jahren als Laienrichterin an das Arbeits- und Sozialgericht bestellt wurde und hautnah miterlebte, wie kranke Menschen abgefertigt wurden – „unter jeder Würde“, wie sie fand. Faux ließ sich aus der Liste der Laienrichter streichen. 2006 wurde die Magistratsangestellte krebskrank. Sie musste mehrere Operationen und eine Chemotherapie über sich ergehen lassen. Danach quälten sie starke Schmerzen, die Finger, die Zehen, die Wirbelsäule, die Gelenke, alles tat weh. Krankenstände und Kuren häuften sich. Faux hatte bei Bauverhandlungen mitprotokolliert, war in sommerlicher Hitze und bei klirrender Kälte im Freien gestanden, hatte Akten geschleppt und am Bildschirm Pläne und Gutachten eingegeben. Das konnte sie alles nicht mehr. Vor dreieinhalb Jahren suchte sie um Invaliditätspension an. Seither wird sie zwischen AMS, Gericht und PVA zerrieben. Stets fand sich ein Gutachter, der attestierte, „ein bisschen was“ sei der Frau noch möglich. Sie müsse bloß jede Stunde zehn Minuten eine Pause einlegen, dürfe nichts heben, sich nicht bücken, vertrage keinen Stress, müsse darauf achten, dynamisch zu sitzen. „Diesen Job gibt es nicht einmal beim Magistrat“, sagt Faux. Zwei private Gutachten von namhaften Ärzten, die ihr Arbeitsunfähigkeit bescheinigen, interessierten das Gericht nicht. Die Niederösterreicherin lebt derzeit von 600 Euro Pensionsvorschuss monatlich, zwölf Mal im Jahr. Als Pensionistin bekäme sie 1100 Euro, 14 Mal: „Wäre ich nicht verheiratet, müsste ich unter der Brücke schlafen.“ Faux, die als Laienrichterin nichts mehr gefürchtet hatte, als irgendwann selbst krank und zur Bittstellerin in einem sozialrechtlichen Verfahren zu werden, hat im Oktober die nächste Verhandlung.

Foto: Sebastian Reich für profil


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Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges