Der Horrortrip zurück

Heimkinder. 40 Jahre hatte Rudolf Vockner über Sackerlfolter und Deckentorturen geschwiegen

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Rudolf Vockner, 57, trägt einen blauen Trainingsanzug. Die Hose schlackert um seine Beine. Seine feinen, grauen Haare sind gelichtet, sein Gesicht, das einmal sehr schön gewesen sein muss, wirkt ausgezehrt. Früher turnte er auf Kirchengerüsten herum und spielte Fußball. Heute tragen ihn seine Beine kaum noch von der Küche zu seinem Platz am Fenster, wo er stundenlang sitzt und Milchkaffee mit einem Strohhalm schlürft.

Es hat ihn viel gekostet, seine Kindheit zu überstehen. Danach brauchte er vierzig Jahre, um zu vergessen, was er in Heimen und Erziehungsanstalten erlebt hatte. Nun holten ihn die Erinnerungen ein und zehren an dem bisschen Kraft, das ihm geblieben ist.

Lange Zeit hatte sein Schutzwall gehalten.
Rudolf Vockner stürzte sich in seine Arbeit als Restaurator. Er wollte Geld verdienen, Familie haben. Ein einziges Mal versuchte er, seinen Akt einzusehen. Das war Ende der siebziger Jahre. Zwei Herren, von denen er nicht weiß, wer sie geschickt hatte, rieten ihm, die Finger davon zu lassen, es sei „gesünder“. Er hielt sich daran.

Tagsüber überfielen ihn manchmal Bilder. Aber sie verschwanden bald wieder. Allmählich hörten seine Albträume auf. Die Schrecken seiner Kindheit schienen gebannt. Und doch lagen sie bloß auf der Lauer, wie ein Tiger bereit, mit einem Satz ins Bewusstsein zurückzuspringen.

Es passierte im Spital.
Vor wenigen Monaten hatten Ärzte hinter seiner Nase einen Tumor entdeckt. Rudolf Vockner lag auf einem Behandlungstisch und wartete auf seine Bestrahlungsmaske. „Ich habe mit Gips gerechnet. Plötzlich spürte ich heißes Plastik im Gesicht. Der Geruch hat mich an etwas erinnert. Paff! Da war alles wieder da. Ich bin ausgezuckt.“

Er riss die Folie herunter. Plötzlich war er nicht mehr der 57-jährige Krebspatient auf einer Spitalsliege, sondern der Zwölfjährige im Lindenhof in Eggenburg, der zur Strafe ein Plastiksackerl unter dem Kinn zusammenzwirbeln musste. Er hatte als Bub gelernt, die Tortur kurzzuhalten: „Je schneller man zugedreht hat, umso früher ist man umgefallen und hatte es wieder hinter sich.“

Flashback nennen Fachleute so ein Ereignis. „Es ist furchtbar, weil es eine Hier- und-jetzt-Qualität hat und völlig unvorhergesehen auftritt“, sagt die Notfallpsychologin Karoline Greimel. Ein Geruch, das Quietschen einer Tür, der Rhythmus von Schritten kann die Falltür in die Vergangenheit öffnen. Rudolf Vockner tobte, er wolle weder einen Arzt noch eine Behandlung noch einen Psychiater. Er wollte nur nach Hause.

Dann redete er doch. Zum ersten Mal ließ er die Erinnerungen von der Leine. Stundenlang erzählte er Greimel, was er bis dahin weder seiner Ex-Frau noch seiner Lebensgefährtin noch seinen Kindern zuzumuten wagte: von Sackerlfolter, Prügelexzessen, Deckentorturen, Engelsflügen, Schleifpapiermassagen – Qualen, die selbst für die erfahrene Notfallpsychologin schockierend waren.

Vor zwei Wochen war Rudolf Vockner wieder auf der Bezirkshauptmannschaft in Hallein. Dieses Mal las ihm eine Beamtin aus seinem Akt vor und händigte ihm ein paar Zettel aus. Erst jetzt erfuhr der 57-Jährige, dass ihn seine Mutter drei Wochen nach der Geburt „im Zorn gegen die Wand geworfen“ hatte und er „nur durch Zufall unversehrt geblieben“ war. Als er drei Monate alt war, schritten die Behörden ein. Bis zum fünften Lebensjahr hatte er sieben Pflegeplätze hinter sich. Danach begann seine Tour durch die Heime: Bubenburg Fügen in Tirol, Kinderheim Wien-Hütteldorf, Erziehungsanstalt Lindenhof-Eggenburg, Sondererziehungsschule Jagdberg in Vorarlberg.

Erzählen reißt die Wunden auf. „Es ist, als würde ich alles körperlich wieder spüren“, sagt Rudolf Vockner. Wenn die Gefühle zu stark werden, krallt sich seine rechte Hand am Oberschenkel fest.

Zertrümmerte Schläfe.
Es war Mitte der sechziger Jahre. Er war zwölf. Im Erziehungsheim Lindenhof-Eggenburg mussten sich die Buben am Boden hinkauern. Die Erzieher warfen ihnen schwere Wolldecken über, „darunter war es stockfinster, und man hat keine Luft mehr gekriegt“. Dann traten mehrere Erzieher gleichzeitig so lange auf ein Bündel ein, bis es keinen Mucks mehr machte. Eines Tages blieb ein Bündel liegen. Die Erzieher waren gegangen. „Ein Kind sagte, schauen wir mal nach. Aber es wäre gescheiter gewesen, wir hätten es nicht gemacht. Acht oder zehn Decken lagen auf dem Buben. Ich habe eine nach der anderen weggenommen. Darunter lag ein schmächtiges Kind. Sein Kopf war auf einer Seite zertrümmert.“

Die Rettung kam, und er hörte jemanden sagen: „Der ist tot.“ Die Erzieher seien kreidebleich gewesen. Einer habe geantwortet: „Red keinen Blödsinn.“ Der Bub mit der eingedrückten Schläfe sei weggebracht worden. Er habe ihn danach nie wieder gesehen.

Rudolf Vockner glaubt nicht daran, dass Worte dem Terror seiner frühen Jahre gerecht werden. Alles, was er bisher über katholische Internate und staatliche Erziehungsheime gelesen habe, seien Andeutungen: „Nie lese ich, dass die Erwachsenen auf uns eingeschlagen haben, wie man eine Hacke ins Holz haut, um es zu spalten. Mit so einer Kraft. Da wird es finster. Und wenn ich finster sage, meine ich das so. Dabei zu sterben wäre normal gewesen“, sagt Rudolf Vockner.

Neue Heime, neue Strafen.
„Wo fliegen wir heute hin?“, fragten die Erzieher in Wien, wenn sie Kinder beim Fenster hinaushielten, hin- und herschwenkten und sich an ihrer Todesangst weideten. „Ich habe hinuntergeschaut und gedacht: Wenn ich auf die eine Seite fliege, lande ich am Vordach und überlebe, auf der anderen Seite ist es aus.“ Später, in Eggenburg, begegnete ihm der „Rundflug“ wieder. „Darf ich bitten?“ war keine Aufforderung zum Tanz, sondern der Befehl, die Finger hinzustrecken, damit ein Erzieher mit einem Bambusrohr draufdreschen konnte, „dass man geglaubt hat, alles ist kaputt“. Befand ein Erwachsener: „Die Sache ist erledigt für dich“, wusste der erfahrene Zögling: Lauf um dein Leben.

In der Sondererziehungsschule Jagdberg/Vorarlberg, der letzten Station seiner Heimkindheit, gab es einen Spezialisten für „Stoßwatschen“. Ein Hühne von einem Mann. „Der hat die Buben hochgenommen und ihnen den Brustkorb eingedrückt, bis sie in Ohnmacht gefallen sind.“ Rudolf Vockners rechte Hand krallt sich wieder am Oberschenkel fest: „Der Nachteil war, dass man danach drei Tage nicht mehr gehen konnte.“ Die Bilder laufen wieder: Rudolf Vockner sieht ein dünnes Bürschchen von 14 Jahren, das von einem riesigen Kerl vergewaltigt wird: „Das hat er nicht nur bei mir gemacht. Viele andere haben diese Scheiße auch genossen.“ Wut hilft ein wenig gegen die Ohnmacht: „Wenn ich diese Drecksau erwischt hätte, ich hätte sie kaltgemacht.“

Der sexuelle Missbrauch sei „härter gewesen als alle anderen Strafen“. In Eggenburg hätten sich zwei oder drei Erzieher an einem Zögling ausgetobt: „Die Buben sind danach auf allen Vieren in den Speisesaal gekrochen und haben nicht gewusst, wie sie auf den Sessel kommen. Man hat ja gar nicht mehr sitzen können.“ In Wien hätten die Erzieher Zwölfjährige penetriert, die dasselbe bei Neunjährigen machen mussten: „Hätte der Zwölfjährige etwas erzählt, hätte der Erzieher ihn daran erinnert, was er selbst gemacht hat.“

„In Kaiser-Ebersdorf gab es noch ein paar andere Strafen. Pseudohängen und Massagen mit dem Schleifpapier. Wir haben das gewusst, weil immer wieder Zöglinge von dort bei uns zu Besuch waren. Und damit hat man uns dann ständig gedroht.“ Wie ein Lauffeuer verbreitete sich eine angebliche Geschichte von dem Erzieher in Kaiserebersdorf, dem Zöglinge „die Höchststrafe“ verpasst hätten. Der Mann sei tot in der Kanalisation gefunden worden, ohne einen Fetzen Haut am Körper.

Der nie nachlassende Terror, die Angst, die nächste Strafe nicht zu überstehen, holte das Schlechteste aus den Zöglingen heraus. „Im Heim wird man so bös, dass man knapp davor ist, jemanden umzubringen. Wir sind schon mit dem großen Messer und dem Bezinfeuerzeug dagestanden. Aber immer hat dann einer die anderen im letzten Moment abgehalten.“ Später kam Rudolf Vockner zum Schluss, sie hätten ihre Mordpläne ausgeführt, wären sie damals nicht Kinder, sondern erwachsen gewesen: „Wir waren ja ständig am Limit.“

Viele ehemalige Heiminsassen leben nicht mehr oder sind „nervlich gebrochen“. Rudolf Vockner sagt, er sei einer von den Zähen gewesen. Die zehn Jahre in Heimen prägten sein Leben: Er war ein guter Zeichner, hatte eine schöne Stimme, spielte begnadet Fußball. Keines seiner Talente entfaltete sich, weil er wie besessen arbeitete, um seinen Erinnerungen zu entfliehen. Heute bedauert er, dass sich die Opfer nicht früher auf die Füße stellten: „Wir brauchen keine lapidaren Entschuldigungen von Kirchenleuten. Ich möchte eine Entschädigung für die Scheiße.“

Horrorhaus.
Rudolf Vockner weiß nicht, wie viel Zeit der Krebs ihm noch lässt. Manchmal spielt er mit dem Gedanken, noch eine Runde auf der Erde zu drehen: Würde er die Tritte, die Stoßwatschen, die Engerlflüge, die Torturen mit den Decken und den Plastiksackerln noch einmal durchstehen? Dann geht er die Galerie seiner Peiniger durch: „Wer war das größte Krüppel? Der eine hat dir mit dem dicksten Bambusstab auf die Finger gedroschen, der andere hat dich mit dem Sessel fast totgeschlagen, bei dem dritten wär ich fast erstickt. Und jedesmal komme ich zum Schluss: Das Schlimmste war Fügen.“

Hier bricht das Gespräch ab. Fügen ist die Tabuzone, der Ort des absoluten Horrors. Über Fügen kann Rudolf Vockner nicht reden. Die Frau auf der Bezirkshauptmannschaft hat gesagt, dass er zwei Jahre lang dort war: „Das kann nicht sein. Es müssen drei Wochen gewesen sein, vielleicht drei Monate. Ich wäre nach einem halben Jahr mausetot gewesen.“

Einschlag im Schotter. Er war fünf Jahre alt, als er im Juli 1957 an der Hand einer Fürsorgerin in der so genannten „Bubenburg“ ankam. Ein Kapuzinerpater, zwei Köpfe größer als alle anderen, kam auf sie zu, wechselte ein paar Worte mit der Frau. „Das ist der kleine Rudi“, sagte sie. Er habe zu dem Riesen hinaufgeschaut, vielleicht frech gefragt: „Wieso hast du so einen dicken Bauch?“, vielleicht habe er das auch nur insgeheim gedacht. Der Mann in der braunen Kutte war freundlich. Er hielt ihm die Hand hin. Rudi ergriff sie. Plötzlich spürte er einen gewaltigen Zug und flog über die Schulter des Mannes durch die Luft: „Ich habe gedacht, ich höre nicht mehr auf zu fliegen.“ Fünf, sechs Meter weiter schlug er in den Schotter ein.

Am 27. April 1959 wurde der Bub wegen „Erziehungsschwierigkeiten“ in die heilpädagogische Station der Kinderklinik in Wien überstellt. Der Gutachter konstatierte „recht nettes Aussehen“, „durchschnittliche Intelligenz“ sowie „Zornanfälle“ und „bockiges Verhalten“. Kein Wort davon, dass der Kapuzinerpater dem Buben Schmerzen zugefügt haben soll, von denen der heute 57-Jährige sagt, er schaffe es nicht, darüber zu reden. Dann legt er den Kopf in die Hände und weint. Der nächste Satz kommt nach einer langen Pause. Er ist fast nicht zu hören. „Können Sie sich vorstellen, dass ein 100-Kilo-Mann einen Sechsjährigen vergewaltigt?“ Der Pater sei Anfang der neunziger Jahre gestorben. Rudolf Vockner wüsste gerne etwas über die Umstände seines Todes: „Vielleicht hat einer der Zöglinge zu Hause etwas erzählt, und jemand hat ihn umgebracht.“

Rudolf Vockner hätte nie zugelassen, dass sich jemand an seinen Kindern vergreift. Wenn er auswärts war, sagte er zu seiner Frau: „Wehe, du rührst sie an.“ Manchmal denkt er an die Zöglinge, die eines Tages einfach verschwanden. Niemand forschte nach ihnen: „Wenn wir gefragt haben: Wo ist der Hansi, der Berli, der Olaf?, dann hat es geheißen: Zwei sind heimgegangen, einer ist adoptiert worden. Man konnte doch nicht sagen, das glaub ich nicht. Da wäre es eng geworden.“ Vielleicht habe es ja gestimmt. Aber Rudolf Vockner hatte seine Zweifel. Sie quälen ihn bis heute: „Man soll mir einen Leichenhund geben. Ich bin sicher, ich finde Knochen von Kindern.“

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges