Jemand fehlt

Reportage. Eine Leiche, keine Täter: Fünf Jahre nach Julias Verschwinden kommt Pulkau nicht zur Ruhe

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Die Burschen stellen ihre auffrisierten Mopeds beim Spielplatz ab, gegenüber vom Rieckhaus. Die Gemeinde hat das verfallende Gasthaus mit dem schönen Garten der Jugend von Pulkau überlassen, bis sich ein Investor dafür findet. Einer aus der Clique, grellblonde Haare, enges T-Shirt, zündet sich eine Zigarette an: "Was hat das alles eigentlich noch mit der Julia zu tun?“

Genauso hätte er fragen können: "Was geht uns das an?“ Die Dorfjugend, die sich am frühen Abend hier zum Defilee einfindet, ist um die 16, so alt wie Julia war, als sie vor fünf Jahren an einem helllichten Sommernachmittag verschwand. Sie, die 16-Jährigen von heute, waren damals elf.

Es war ein Donnerstag, die Geschäfte schlossen zu Mittag, und es war nichts los am Hauptplatz, als Julia am 27. Juni 2006 gegen halb zwei Uhr hier aus dem Bus stieg. Jemand sah sie eine Stunde später mit drei Jugendlichen. Danach gab es keine Spur mehr. Julia, wie von einer finsteren Macht weggezaubert.

Brigitte Kührer
, Julias Mutter, unterrichtet an der Volksschule von Pulkau, ihr Mann Anton nebenan in der Hauptschule. Mit der Ungewissheit, was aus ihrer Tochter geworden ist, war es schwer zu leben. Fünf Jahre lang hatten die Kührers gegen die Gleichgültigkeit und die Vergesslichkeit der Menschen gekämpft. Vorvergangenen Donnerstag tauchten die Überreste Julias auf. In Dietmannsdorf, einer Nachbarortschaft, war ein Nachbar in den Erdkeller von Michael K. gestiegen und hatte dort, am Ende eines 15 Meter langen, in den Hang getriebenen Stollens, einen Schädel gefunden. Das Gebiss stimmte mit Julias Zahnschema überein.

"Wir wollten Gewissheit.
Jetzt müssen wir lernen, mit dieser Gewissheit zu leben“, ließen die Eltern vergangene Woche über ihren Anwalt Gerald Ganzger ausrichten. Es könnte noch Wochen dauern, bis sie ihre Tochter begraben dürfen und sie endlich einen Ort zum Trauern haben.

Bürgermeister Manfred Marihart stapft in dunkler Anzughose und weißem Hemd an einem Schanigarten vorbei. An den Tischen heben sich die Köpfe: "Griaß di, servas.“ Marihart stand der Lehrerfamilie Kührer bei, versuchte, den Ort zusammenzuhalten. "Jetzt ist Julia gefunden, und die Polizei hat keinen Täter“, seufzt er. Alles geht von vorne los. Journalisten pirschen durch Pulkau. In den Medien ist wieder von einer verlotterten, drogensüchtigen Jugend die Rede, von kleinbürgerlichen Abgründen hinter ansehnlichen Fassaden.

Pulkau, zehn Kilometer von Tschechien entfernt, lag Jahrzehnte an einer toten Grenze. Die Weinbauern der Gegend kamen schlecht über die Runden, viele warfen in den sechziger Jahren die Landwirtschaft hin und zogen in die Stadt. Pendeln war mühsam, der Zug nach Wien brauchte zwei Stunden. Zu ihren besten Zeiten zählte die Ortschaft 2000 Einwohner. Das war vor hundert Jahren. Heute sind es halb so viele, aber die Landflucht - immerhin - ist gestoppt. "Wir haben viel investiert, sozialen Wohnbau gemacht, heute sind wir stabil“, sagt Marihart.

Jeder kennt jeden, und so mancher verdächtigt jemanden, mehr zu wissen, als er sagt. Die Ermittler aus der Stadt bissen sich die Zähne aus. Sie wissen, dass das Mädchen am 24. Juni am Donauinselfest bei einem Konzert der "Intoxication“ war, einer Rockband aus Pulkau. Sie wissen, dass sie am nächsten Tag mit ihrer großen Liebe Schluss machte und auf ein Grillfest in Schrattenthal ging. Sie wissen, dass sie ihren Bruder anrief und klagte, das sei kein Fest, sondern nur ein Feuer mit ein paar Leuten rundherum, bitte hol mich ab! Am nächsten Tag war Schule, ein normaler Montag in der HLW Horn. Am Dienstag, den 27. Juni 2006, stand Anton Kührer in der Früh am Fenster und schaute seiner Tochter nach, bis sie um die Ecke bog. Er sah sie zum letzten Mal.

Als Julia nach Pulkau zurückkam, trug sie ihren zusammengeknoteten Malerkittel bei sich, darin hatte sie Langenscheidt-Wörterbücher und Turnschuhe verstaut. All das weiß die Polizei. Doch um 13.33 Uhr reißt der Film - in den Aufzeichnungen klafft eine Lücke von elf Minuten. "In dieser Zeit ist etwas passiert, wir wissen nicht, was“, sagt Helmut Greiner, Sprecher des Bundeskriminalamts. Um 13.44 Uhr loggte sich Julias Handy bei einem Sendemasten in Horn ein. Dort blieb es bis zum nächsten Tag. Danach sendete das Gerät kein Signal mehr. Vielleicht hatte der Akku aufgegeben.

Bürgermeister Marihart arbeitete auf seinem Bauernhof, als der Anruf der Feuerwehrkollegen kam: "Wir müssen die Julia suchen.“ Sie durchstreiften die Gegend um die Schule, den Wald beim Sonnenwaldbad und den aufgelassenen Steinbruch. Die Polizei rückte mit Hunden an. Oben kreisten Helikopter. Doch das Mädchen mit der kleinen Narbe an der Unterlippe und den schwarz gefärbten Haaren blieb vom Erdboden verschluckt.

Es gab Zeiten, da schienen sich die Pulkauer damit abzufinden. Julias Eltern gingen durch die Hölle, als Natascha Kampusch auftauchte und in Amstetten die gefangen gehaltenen Töchter und Enkelkinder des F. ans Licht kamen: Was, wenn Julia Ähnliches durchmachte? Sie affichierten Plakate: "Gesucht, unser Kind.“ Sie stellten eine Webseite ins Internet. Es meldeten sich Wahrsager, Energetiker und andere Obskuranten, die Julia in Spanien oder am Persischen Golf wussten. Junkies erzählten, sie hätten sie in der Wiener Suchtgiftszene gesehen. "Julia geht es gut“, sagte ein Mann, der mit unterdrückter Telefonnummer anrief. Dann legte er auf. Nichts führte zu ihrer Tochter.

"Solange sie nicht tot gefunden wird, ist sie für uns am Leben“, sagten die Eltern zu den Reportern, die sie regelmäßig besuchten. Im Mai 2008 war Julias 18. Geburtstag. Brigitte und Anton Kührer stellten Rosen in ihr Zimmer und engagierten den Wiener Anwalt Gerald Ganzger. Er sollte Druck machen, dass die Akte nicht geschlossen wird. Als das Bundeskriminalamt Anfang 2010 eine Abteilung schuf, die unaufgeklärten Verbrechen noch einmal auf den Grund gehen sollte, wurde Julia Kührer zum "Fall Nummer eins“.

20.000 Aktenseiten hatten die Ermittler nach einem Jahr beisammen, und immer noch keine Spur. Scharen von Reportern zogen durch Pulkau. Ein Jugendlicher nach dem anderen wurde zur Einvernahme beordert. Viele kamen verstört aus St. Pölten zurück. "Die Polizisten haben sie eher hart angefasst. So einen Großstadtton waren sie nicht gewöhnt“, sagt Bürgermeister Marihart. Die Fahnder wiederum klagten, die Jugendlichen hätten kein Vertrauen zur Polizei.

Die Gemeinde versprach zu vermitteln:
70 Jugendliche kamen ins Rieckhaus, wo ihnen der Bürgermeister ins Gewissen redete, auszupacken, was sie wüssten. Umgekehrt würde er sich vor sie stellen und nicht zulassen, dass sie in den Medien verunglimpft würden.

254 Hinweise kamen zusammen. Doch viele führten die Ermittler nur in die Irre, vergeudeten Überstunden und Nerven. Ein Zeuge erzählte, er habe Julia am 27. Juni 2006 gegenüber der Post mit drei Jugendlichen gesehen. Sie seien mit einem silbernen Auto unterwegs gewesen.

Im Mai 2010 stürmten Cobra-Beamte ein Gutshaus am Ortsende von Zitternberg und eine Wohnung in Thunau, um drei junge Leute festzunehmen. Das Oberlandesgericht befand die Amtshandlung später für rechtswidrig. Das Trio fordert Entschädigungen. Die Polizei fand bei den Hausdurchsuchungen erkleckliche Mengen Drogen. Doch bis heute ist nicht klar, ob die anvisierten Jugendlichen jene sind, mit denen Julia zuletzt gesehen wurde.

Zurück an den Start.
Im April 2011 lobte das Innenministerium 25.000 Euro für Hinweise aus, die Mitglieder des Pulkauer Gemeinderats legten 5000 Euro drauf.

Am Montag vor zwei Wochen jährte sich Julias Verschwinden zum fünften Mal. Ihre Eltern bereiteten sich auf den Besuch von Reportern vor. Vier Tage später wurde Julias Leiche gefunden.

Dietmannsdorf liegt wenige Kilometer von Pulkau entfernt. Der Eingang zu Michael K.s Grundstück ist mit einem rot-weiß-roten Polizeiband markiert, davor abgebrannte Grabkerzen und Julias Bild in einer Plastikfolie. Den Hollerbusch, der hier vor dem Eingang wucherte, schnitt ein Nachbar um. Derselbe Mann fand zwei Wochen später in K.s Erdkeller Teile einer Leiche, die jemand zu verbrennen versucht hatte. Daneben lagen versengte Schulbücher, Kleidung und Reste einer blauen Fleecedecke. Michael K., dem der Erdkeller gehört, erklärte den Ermittlern, einer seiner Feinde müsse die Leiche abgelegt haben, und bestritt, etwas mit Julias Tod zu tun zu haben. Der Haftrichter in Korneuburg ließ ihn nach 48 Stunden frei, und K. gab freimütig Interviews. "Mein einziger Fehler, den ich begangen habe, ist, dass ich mein Haustor nicht abgesperrt habe“, sagte er im Radio.

"Jetzt hängt alles von den DNA-Spezialisten und den Gerichtsmedizinern ab. Und von Menschen, die etwas gesehen haben oder wissen“, meint Helmut Greiner. Die Umstände könnten kaum schlechter sein: Spuren, die im Laufe der Jahre vermoderten; ein silbernes Auto, das verschrottet wurde; eine Videothek, die es nicht mehr gibt; ein Verdächtiger, der seine Unschuld beteuert - und eine Leiche, die so zerfallen ist, dass Gerichtsmediziner Mühe haben, eine Todesursache zu finden. "Ohne Todesursache gibt es kein Verbrechen, ohne Verbrechen gibt es keine Anklage“, sagt der Wiener Rechtsanwalt Farid Rifaat, der es übernommen hat, Michael K. zu verteidigen.

K., der sich einen Rapid-Hooligan nennt und im Facebook den Spitznamen "Pitbull“ trägt, behauptet, er habe Julia "nur vom Sehen“ gekannt. Einen Monat nach ihrem Verschwinden schloss er seine Videothek, einen Steinwurf von Julias Elternhaus entfernt. Der Weg des Mädchens führte an jedem Schultag zweimal daran vorbei. Junge Pulkauer spielten in seinem winzigen Geschäft Darts, tranken Bier, schauten Filme und hörten sich K.s Geschichten über Wrestling und Cage Fighting an. Er werde den WM-Titel holen, prahlte er und schaltete sogar ein Inserat in einem Bezirksblatt, um die Botschaft zu verbreiten. Die Polizei fand K.s Namen auf keiner einzigen Wettkampfliste.

Jetzt sind wieder die Medientrosse in Pulkau, Gerüchte blähen sich auf und zerplatzen wie Seifenblasen. Die jungen Burschen, die vor dem Rieckhaus neben ihren Mopeds stehen, wollen ihre Ruhe. Julias Eltern wollen ihre Tochter begraben. Die Polizei will einen Erfolg und der Bürgermeister Aufklärung: "Sonst lebt man immer mit einem gewissen Misstrauen, dass jemand unter uns sein könnte, der die Julia auf dem Gewissen hat. Es geht immer noch um elf Minuten.“

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges