Völker, hört die ­Blasmusik!

Erster Mai. Der Aufmarsch der Sozialdemokraten hat eine große Vergangenheit - aber keine Zukunft

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Sie versammeln sich schon früh in ihren Vierteln. Der Frühling hat die vor-angegangenen Nächte lau und warm gemacht, Blütenstaub liegt in der Luft, Paare finden sich oder haben sich gefunden – und liegen noch glückstrunken oder verkatert im Bett. Unterdessen macht sich ein Häuflein Aufrechter auf den Weg zum Rathausplatz, auch die Sektion „Rosenpark“ aus dem zweiten Wiener Gemeindebezirk. Es sind überwiegend rührige Pensionisten, wie in fast allen Sektionen der SPÖ-Wien. Sie wollen nicht im Bett frühstücken, sondern marschieren. So wenige es anfangs sind, so massenhaft und mächtig erscheint der Trupp am Ende seines Weges. Von allen Seiten stoßen Gleichgesinnte dazu. Die Musikkapelle kommt immer besser in Fahrt. Mit Kind und Kegel, also mit Kinderwagen und Bierfässchen darin, wahlweise auch echten Babys, ziehen sie zum Rathausplatz. Schwere, alte, rote Fahnen. Lachen, winken, Bekannte erkennen. Lautsprecher und Losungen.

Die einzelnen Abordnungen aus den Bezirken werden begrüßt, eine nach der anderen, stundenlang – sie treffen ja nicht auf einmal ein. In dicken Aufmarschplänen sind ihre Routen und Zeiten festgehalten. Die Sektion „Rosenpark“ hat auf ihrem Weg die Sektionen 11, 12, 15 und 17 aufgelesen und ist an siebenter Stelle gereiht. Das wechselt jedes Jahr. Die Begrüßung auf dem Rathausplatz besteht aus einem rituellen und einem modifizierten Teil. Der rituelle geht ungefähr so: „Und jetzt, liebe Genossinnen und Genossen, ­begrüßen wir auf das herzlichste und solidarischste die lieben Genossinnen und Genossen aus dem … Bezirk, die heute erneut ihre unverbrüchliche sozialdemokratische Gesinnung in Haltung und Fahne zum Ausdruck bringen. Herzlich willkommen!“ Und dann fallen noch ein paar Sätze über das Wirken dieser roten Untergruppierung. Es folgt der nächste Stoßtrupp, auch er mit Blaskapelle, Trommlern oder einem traktorengezogenen Bummelzug für die Alten und Gebrechlichen.

Der Lautstärkepegel schwillt von Grußwort zu Grußwort an. Zehntausende Menschen drängen sich bereits vor der Rampe, auf der die wichtigen Funktionäre stehen und mit roten Tüchern winken. Die Veranstalter nennen seit ein paar Jahren stets die Zahl 100.000. Sicher ist nur: Es gibt von Jahr zu Jahr mehr Sitzplätze auf den Seitentribünen. Der Wiener Bürgermeister ergreift immer das Wort, er wird seit ewigen Zeiten von der SPÖ gestellt; schließlich der Bundeskanzler, der an diesem Tag tapfer von Liesing in die Innenstadt marschiert ist: Werner Faymann persönlich feuert die Menschen an! Er ist nicht wiederzuerkennen. Seine Stimme durchschneidet die bier- und würstchengeräucherte Luft. So kämpferisch hat man den SPÖ-Kanzler das ganze Jahr über nicht im Fernsehen gesehen. Plötzlich merkt jeder, dass es um etwas geht. Dass alles auf dem Spiel steht. Dass die Arbeiterklasse nicht das Steuer aus der Hand geben darf. No pasarán! Strache, Stronach, Spindelegger – hinfort mit ihnen!
In keiner anderen Großstadt der Welt gibt es das noch. Beim „Lied der Arbeit“ schweben dünne Stimmchen über dem Rathausplatz. Die Melodie des Refrains geht doch ziemlich in die Höhe. Es folgt die Internationale: „Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht …“ Wissen sie, was sie da singen?

„Heiliger Tag“
Am 1. Mai 1890 waren in Wien das erste Mal 100.000 Arbeiter über die Ringstraße in den Prater marschiert – ohne Fahnen und Gesänge: Jede Art von Agitation war ihnen verboten. Die Innenstadt-Palais waren an diesem Tag verbarrikadiert, Soldaten standen in Bereitschaft. Es war das Ende des kaiserlichen Blumenkorsos, mit dem die Reichen bis dahin das Frühlingserwachen im Prater gefeiert hatten. In der „Arbeiter-Zeitung“ wurde der 1. Mai zum „heiligen Tag“ ausgerufen, 1919 wurde er zum offiziellen Feiertag erklärt.

1933, im ersten Jahr des Austrofaschismus, wurde der Maiaufmarsch verboten, der Rathausplatz mit Stacheldraht abgesperrt. Die Sozialdemokratie rief ihre Anhänger zum „Spazierengehen“ am Ring auf. Das NS-Regime feierte den Tag mit der Aufstellung hunderter Maibäume.

In den ersten Jahren der Zweiten Republik waren bombastische Inszenierungen angesagt, Massenfestspiele im Praterstadion und Fahnenchoreografien am ­Rathausplatz. Später wollte man hervorstechen. Legendär sind die Elefanten der Bezirksorganisation Brigittenau. Im Mai 1968 gab es einen kleinen Wirbel. Die linke Parteijugend hatte den Blasmusik-Rummel der Partei verspottet und mit Rufen „Wo bleibt der Sozialismus?“ gestört und war mithilfe der Polizei verjagt worden. Seit damals sind die Jugendorganisationen der SPÖ kaum noch mit frechen Losungen aufgefallen. Seit 2000 fahren auch wieder die Straßenbahnen, Busse und
U-Bahnen.

Die revolutionär anmutende Zeichensprache und Rhetorik sind mittlerweile ohne den geringsten widerständigen Gehalt. Rote Nelken, Maiabzeichen, Transparente und Losungen werden zentral beschafft und an die Bezirke ausgegeben.

Am 1. Mai des Wahljahres 2013 steht „Gerechtigkeit“ im Zentrum, ein Thema, das nach Ansicht des neuen Bundesgeschäftsführers und Wahlkampfmanagers Norbert Darabos „die Menschen nicht so sehr bewegt“, was die Wiener Sozialdemokraten wütend dementieren. Landesparteisekretär Christian Deutsch: „Bei uns in Wien ist das anders.“

Der Erste-Mai-Aufmarsch ist eine Heerschau des Funktionärslagers geworden. Das Gros stellen ehrenamtliche Parteiaktivisten, Bezirksmandatare, Bezirkssekretäre, Gewerkschafter und Funktionäre der zahlreichen Vorfeld- und Bruder-Organisationen, Frauen wie Männer. Als originell gelten in der Zentrale in der Löwelstraße schon Vorbereitungsaktionen wie die Gestaltung eines neuen Sujets für eine neue Fahne, die dann im „Näh-Studio Herzilein“ gemeinsam gestickt und genäht wird, weil das angeblich im Trend liegt.

In der Sektion „Rosenpark“ trauern die Genossen und Genossinnen den Zeiten nach, als sie noch mit geschmückten Fahrrädern und ihren halbwüchsigen Kindern an der Hand zum Rathausplatz marschierten; als alle Gemeinde- und Genossenschaftsbauten die Vorrichtungen für das Aufpflanzen der kleinen, roten Fahnen hatten und die Betriebe, in denen man beschäftigt war, mehr oder weniger im Einflussbereich der Gemeinde Wien lagen und politisches Engagement erwünscht war und angesehen. Heute beschränkt sich ihr Sektionsleben oft auf organisatorischen Kleinkram: „Wer sperrt am 1. Mai das Parteilokal auf?“ – „Wer kauft Semmeln und Aufstrich?“ – „Was machen wir am Muttertag?“

Dann wieder wird gestritten, ob soziale Aufsteiger wirklich in ihren Gemeindewohnungen bleiben sollen, und erleichtert wird festgestellt, dass ihre Bezirksräte freiwillig die billigen Wohnungen aufgegeben haben, sei es aus Anstand, sei es, weil sie sich verbessern wollten. Die Gruppe, die sich, angeführt vom jungen Sektionsobmann Christoph Zich, regelmäßig trifft, ist groß genug, um sich nicht in persönlichen Neurosen zu zerfleischen, klein genug, um Vertrautheit zuzulassen – ein öffentlicher Raum, den sich wohl viele wünschen. Keine andere Partei hat diese Strukturen. Nur die Jugend, die fehlt bitter.

Der Jugendkoordinator der SPÖ-Wien, Bernhard Häupl, der 24-jährige Sohn des Bürgermeisters, gibt zu, dass der 1. Mai wohl einer „Reinszenierung“ bedürfe. Denn Lehrlinge, Schüler und Studenten haben durchaus Erwartungen an den Kampftag der Arbeiterschaft. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Karmasin Motivforschung sind 61 Prozent der Jungen (bis unter 30 Jahre) der Meinung, dass für Arbeiter und Angestellte „noch mehr Rechte erkämpft werden müssen“. In der Generation 50 plus meint das nur noch jeder Dritte.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling