Stirb langsam!

Stirb langsam! Hugo Chávez und todkranke Herrscher

Macht. Über die Selbstinszenierung todkranker Herrscher

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Die Regierung kündigte Neuwahlen in 30 Tagen an und ernannte Maduro zum interimistischen Staatsoberhaupt. Chávez' Begräbnis soll am Freitag stattfinden, eine siebentägige Staatstrauer wurde ausgerufen. Im gesamten Land marschierten Truppen auf, um "den Frieden zu sichern", wie Maduro im Staatsfernsehen erklärte.

Macht kann das Unausweichliche hinauszögern, schrieb profil-Außenpolitikchef Robert Treichler Anfang des Jahres über den kranken Chavez. Der Artikel über die Selbstinszenierung todkranker Herrscher, von Leonid Breschnew über François Mitterrand bis zu Hugo Chávez, in der Nachlese (profil 1/2013).

Am Abend des 17. November 1994 umstellten schwer bewaffnete Polizeieinheiten ein altes Gebäude in der Rue de Fleurus im 6. Pariser Arrondissement. Ein alter Herr erklomm mühevoll die Stufen und läutete an der Wohnungstür des Philosophen Jean Guitton. Nachdem dieser ihn eingelassen hatte, sagte der Besucher: „Guitton, erzählen Sie mir vom Tod!“

Der Alte, der dringend Auskunft darüber wollte, was auf das Leben folgt und wie das Jenseits beschaffen sein könnte, war François Mitterrand, zu diesem Zeitpunkt Frankreichs Staatspräsident – und todkrank. Guitton, damals 93 Jahre alt, hatte Mitterrand schon einmal empfangen, das Gesprächsthema war dasselbe gewesen. In einem Interview mit der Tageszeitung „Libération“ erinnerte sich Guitton später an den Dialog: „Er sagte, Religion sei eine Ansammlung von Absurditäten. ,Nein‘, erwiderte ich, ,eine Ansammlung von Mysterien. Das Mysterium ist eine Leiter, deren Sprossen man hin­aufsteigt.‘ Er fragte: ,Welche ist die letzte Sprosse?‘ Ich antwortete: ,Monsieur le Président, das ist sehr einfach: Sie ist der Tod.‘“
Etwas mehr als ein Jahr später, am 8. Jänner 1996, starb Mitterrand an den Folgen einer Prostatakrebserkrankung. Er hatte sein Leiden, das bereits vor seiner ersten Amtszeit 1981 begonnen hatte, vor der Öffentlichkeit lange Zeit geheim gehalten. Seine regelmäßig veröffentlichten medizinischen Bulletins ließ er manipulieren.
Die tödliche Krankheit eines Staatsmannes ist so etwas wie die vorletzte Stufe der Mysterienleiter, jedenfalls wenn es der Betreffende – oder sein Umfeld – in der Hand hat, die Wahrheit zu verschleiern. Die Sorge um die Privatsphäre spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Es gilt den politischen Machtverlust zu verhindern, der eigenen Unverzichtbarkeit Rechnung zu tragen und, im schlimmsten Fall, einen Nachfolger ins Amt zu hieven, ehe die Welt zur Nachwelt wird.

Unvergessen die schauspielerische Leistung von Leonid Breschnew, dem langjährigen Parteichef der KPdSU (1964–1982), sowie seiner gesamten Entourage, die allesamt so tun mussten, als sei Breschnew im Vollbesitz seiner Kräfte, obwohl er seit Mitte der 1970er-Jahre unter anderem an Herzbeschwerden, Leukämie und Krebs litt.

Größtmögliche Ungewissheit
Hugo Chávez, Staatspräsident von Venezuela, beschert seinem Land dieser Tage eine solche Phase des schleichenden Todes bei größtmöglicher Ungewissheit. Eigentlich begann die medizinische Saga bereits im Juni 2011, als Chávez auf Kuba überraschend in einem Krankenhaus eincheckte und sich nach mehreren Tests ein „Abszess“ entfernen ließ. Mindestens vier Chemotherapien, drei Strahlenbehandlungen und vier Operationen später ist inzwischen zwar klar, dass der Linkspopulist an Krebs leidet. Welches Organ betroffen ist, wird dem Volk jedoch nicht verraten.
So gelang es Chávez vergangenen Oktober, für eine weitere – vierte – Amtszeit wiedergewählt zu werden. Sein Gesundheitszustand blieb dabei tabu. Ob er jedoch kommenden Donnerstag an seiner Angelobung teilnehmen kann, war vergangene Woche höchst zweifelhaft. Chávez liegt wieder einmal in einem kubanischen Krankenhaus zur Behandlung, vergangenen Freitag war er bereits seit drei Wochen nicht mehr gesehen worden. Der 58-Jährige befinde sich in einem „komplexen und heiklen postoperativen Zustand“, gab Vizepräsident ­Maduro Dienstag vergangener Woche bekannt; eine schwere Lungenentzündung sei dazugekommen, hieß es am Freitag. Entsprechend besorgt waren nicht nur die Venezolaner, sondern auch die Kubaner. Letztere sind im Umgang mit einem siechen Herrscher zwar geeicht, doch ihre Volkswirtschaft hängt zurzeit von Chávez’ Gnaden und dem damit verbundenen billigen Öl ab, und von „komplex, heikel und postoperativ“ ist es zu „tot“ möglicherweise nur ein kleiner Schritt. Und Tote gewähren keinen Rabatt.

Je intransparenter ein politisches System ist, desto länger kann die Macht dem nahenden Tod standhalten. Falls Chávez, wie erwartet, seiner Angelobung fernbleibt, wird zu klären sein, ob er temporär oder permanent amtsunfähig ist. In ersterem Fall hieße das, er bekäme 90 Tage Aufschub – 90 Tage, um der Öffentlichkeit, dem Krebs und vielleicht dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

Zu Redaktionsschluss hatte jedenfalls noch die Propaganda die Oberhand über Chávez’ biologischen Zustand.

(Zusatzquelle: APA)

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur