Wie Josias Kumpf zur Strecke gebracht wurde

Gerechtigkeit: Jagd auf die letzten Nazis

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Es sollte ein Abschied für immer sein: Am Freitag, dem 24. April 2009, schiebt Paul Krampitz aus Racine im US-Bundesstaat Wisconsin, seinen 84 Jahre alten Schwiegervater im Rollstuhl durch die automatische Türe des Landeskrankenhauses Bregenz. Er bemüht sich, nicht aufzufallen. In der Eingangshalle umarmt er den Alten und sagt: „Ich liebe dich.“ Der antwortet: „Mach dir keine Sorgen um mich.“

Dann dreht sich Krampitz um und geht. Zuvor hat er sechs Wochen lang versucht, für seinen Schwiegervater eine Unterkunft zu finden. Niemand wollte den Mann im Rollstuhl nehmen, der rund um die Uhr betreut werden muss, an Parkinson und Herzproblemen leidet. Jetzt bleibt er alleine in einem fremden Land zurück, dessen Sprache er schon fast vergessen und in dem er keine Angehörigen hat.

In einer Tasche seines Rollstuhls steckt ein brauner Umschlag mit Dokumenten. Als Angestellte des Bregenzer Spitals auf den Alten aufmerksam werden, ist rasch geklärt, um wen es sich handelt: Josias Kumpf, geboren am 7. April 1925 in Nova Pazova, Jugoslawien; im Zweiten Weltkrieg Mitglied der Waffen-SS, mutmaßlich an der Erschießung von 8000 Juden beteiligt; unmittelbar vor einer Anklage wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ in Spanien; am 18. März 2009 aus den USA nach Österreich deportiert, weil ihn die amerikanische Justiz als mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher enttarnt hat.

Der Fall Josias Kumpf ist symptomatisch für die wohl letzte Phase der weltweiten Jagd auf Verbrecher des Dritten Reichs. Die Haupttäter sind entweder längst abgeurteilt, tot – oder konnten nie gefunden werden. In zehn Jahren werde die „biologische Uhr des Zweiten Weltkriegs“ abgelaufen sein, formulierte Nazi-Jäger Eli Rosenbaum in einem Interview in diesem Jahr. Rosenbaum ist Direktor des Office of Special Investigations (OSI), einer Abteilung des US-Justizministeriums, die Nazis in den USA aufspürt. Schon 1999 sagte er: „Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.“

Mittlerweile wächst die Frustration darüber, dass die „Most Wanted“-Liste des Simon Wiesenthal Center zunehmend eine Kartei von mutmaßlichen Leichen darstellt. Alois Brunner, als SS-Hauptsturmführer und Mitarbeiter Adolf Eichmanns mitverantwortlich für die Ermordung an über 100.000 Juden, wäre heute 97 Jahre alt; Aribert Heim, Lagerarzt im Konzentrationslager Mauthausen, wurde zuletzt als tot gemeldet, er wäre inzwischen 94. Der Jüngste auf der Liste, Mikhail Gorshkow, ein ehemaliger Gestapo-Mann, der sich in Estland aufhalten soll, ist 86.

Dennoch werden immer wieder NS-Angehörige belangt. Allerdings handelt es sich bei den Beschuldigten zunehmend um mutmaßliche Täter vom untersten Ende der Befehlskette. Ihre strafrechtliche Verfolgung gestaltet sich aus mehreren Gründen schwierig: Zum Zeitpunkt der Verbrechen, die ihnen zur Last gelegt werden, waren sie oft noch sehr jung – heute sind sie schon sehr alt und deshalb meist nicht mehr verhandlungsfähig. Und so stößt die Jagd auf die letzten Nazis an Grenzen: Man will Gerechtigkeit für Nazi-Opfer üben, auch wenn die Justiz nichts mehr ausrichten kann. Verfahren werden angestrengt, die ohne Zeugen und Beweise zu Schuldsprüchen führen sollen. Verdächtige werden öffentlich als Kriegsverbrecher geächtet, ohne dass es je zu einer Gerichtsverhandlung kommt. Die Motivation der Nazi-Jäger ist durchaus ehrenvoll, die Ergebnisse ihrer Arbeit werden jedoch zusehends fragwürdiger.
profil untersucht aktuelle Fälle von Personen, die heute wegen NS-Verbrechen verfolgt werden. Einer davon ist der von Josias Kumpf.

I. Der KZ-Wächter: Der Trommler
Im Oktober 1942 ging ein Trommler durch Nova Pazova im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, 25 Kilometer westlich von Belgrad, damals 6000 Einwohner: vorwiegend protestantische Donauschwaben, deren Vorfahren 1791 von den Habsburgern an der Militärgrenze zum Osmanischen Reich angesiedelt worden waren. Nova Pazova, heute ein ländlicher Vorort der serbischen Hauptstadt, lag im Sumpfgebiet der Donauauen, ein größeres Bauerndorf, das von Landwirtschaft und Viehzucht lebte.

Eineinhalb Jahre zuvor, am 6. April 1941, hatte die Deutsche Wehrmacht das Königreich Jugoslawien überrannt. Jetzt – der Vormarsch an der „Ostfront“ war ins Stocken geraten, in Russland war die Rote Armee gerade dabei, Stalingrad einzukesseln – brauchten die Nazis dringend zusätzliche Truppen. Dabei boten sich in erster Linie die „Volksdeutschen“ an, Angehörige der deutschsprachigen Minderheiten in den besetzten Gebieten.
Und deshalb forderte in Nova Pazova der Trommler die jungen Männer auf, in die Dorfschule zu kommen, um sich einer Musterung zu unterziehen.
Am 15. Oktober 1942 meldete sich Josias Kumpf zur SS – laut seinen Anwerbungsdokumenten „freiwillig“. Kumpf war damals 17 Jahre alt, ein Bauernbub, der nur drei Jahre lang die Schule besucht hatte und kaum lesen und schreiben konnte. Ein paar Tage später stand er am Bahnsteig. Der Zug fuhr nach Deutschland.

Wie die genauen Umstände waren, die dazu geführt haben, dass Kumpf der SS beitrat, ist heute schwer nachzuvollziehen. Seiner Familie hat er nie etwas darüber erzählt. „Ich war 16 Jahre alt. Sie holten mich und auch andere. Sie haben nicht gefragt. Auch wenn man Nein sagte, man musste mit“, erzählte er im vergangenen Juni gegenüber profil. Einerseits ist bekannt, dass der Militärdienst für die Nazis jungen Volksdeutschen durchaus attraktiv erschien: Dafür hatten die Propagandisten des Dritten Reichs bereits vor dem Krieg ideologisch den Boden bereitet. Andererseits weiß man aber auch, dass der Beitritt zur SS fallweise unter Druck erfolgte.
Die Geschichten der Betroffenen klingen sehr ähnlich.

Zum Beispiel jene von Michael Gruber, geboren in Kroatien, 1942 in Osijek zur Musterung einberufen – und wie Kumpf der SS beigetreten, in Deutschland ausgebildet, nach dem Krieg in die USA ausgewandert und schließlich nach Österreich ausgewiesen. Ein Auszug aus einem Interview, das profil im Jahr 2000 mit Gruber führte:
profil: Als Sie im September 1942 nach Osijek einberufen wurden, wussten Sie da, dass Sie zur SS kamen?
Gruber: Wir wussten gar nichts.
profil: Wann haben Sie es dann erfahren?
Gruber: Erst in Breslau, als wir eingekleidet wurden. Aber wir wussten gar nicht, was „SS“ bedeutete. Wir dachten, das sei das Militär.
profil: Das Gericht wirft Ihnen vor allem Ihren Dienst in Oranienburg ab 1943 vor. In welcher Einheit waren Sie da?
Gruber: Die sagen hier „im Totenkopfbataillon“, aber ich weiß nicht, was das sein soll. Einen Totenkopf haben doch alle auf den Klamotten gehabt. Wir haben Sträflinge bei der Arbeit bewacht.
profil: Die KZ-Häftlinge von Sachsenhausen.
Gruber: Das wussten wir nicht. Wir durften nicht einmal mit ihnen sprechen. Man sagte uns, dass es Verbrecher waren. Auch Kommunisten, hieß es.
profil: Sie waren bewaffnet.
Gruber: Ja, mit einem Karabiner. Aber ich musste nie schießen.
Gruber kam seiner drohenden Ausweisung aus den USA schließlich zuvor, reiste selbst nach Österreich und nahm am 7. Juni 2002 Quartier im steirischen Mürzzuschlag.

Nur zwei Monate danach, am 6. August 2002, starb er. Insgesamt wurden alleine in Jugoslawien schätzungsweise 42.000 Volksdeutsche in die SS aufgenommen. Je mehr Verluste die Deutschen, vor allem aber die SS, in Russland hinnehmen mussten, desto mehr intensivierten sie ihre Rekrutierungsmaßnahmen. „Die Volksdeutschen und Germanen sind die Letzten, bei denen wir bei längerer Dauer des Krieges noch einen Einsatz herausholen können“, schrieb SS-Obergruppenführer Gottlob Berger, Chef des SS-Hauptamtes, am 13.10.1943 an seinen Vorgesetzten Heinrich Himmler.

Die Ausbildung
Die erste Station für Josias Kumpf war Oranienburg, wo sich das Hauptquartier der Inspektion der Konzentrationslager (IKL) befand, die Führungsbehörde der SS-Totenkopfverbände – also jener Hilfspolizei-Einheiten, die in der Anfangsphase des Kriegs vor allem für die Bewachung der KZs eingesetzt und 1940 in die Waffen-SS eingegliedert wurden.
Kumpf bekam eine schwarze SS-Uniform mit dem Totenkopf am Kragenspiegel, eine Waffe und eine Tätowierung mit seiner Blutgruppe auf den Oberarm. Nach der Grundausbildung wurde er zur Bewachung des Konzentrationslagers Sachsenhausen eingesetzt. Hier wurden zwischen 1939 und 1945 mehrere zehntausend Menschen ermordet – unter anderem in einer für Massenhinrichtungen konzipierten Genickschussanlage.
Die Angehörigen der Totenkopfverbände waren dafür abgestellt, Fluchtversuche zu verhindern; wenn nötig, mit Gewalt. Kumpf sagt über diese Zeit, er habe am Wachturm gestanden, sei aber nie dazu gezwungen gewesen zu schießen. Er habe gewusst, dass es im Lager eine Gaskammer gab: „Ich höre, dass sie Leute hineinschicken, und das ist es. Sie kamen nicht mehr her­aus, das habe ich gehört“, wird er in Dokumenten des US-Justizministeriums zitiert.

„Als Volksdeutscher stand Kumpf in der SS-Hierarchie eher unten“, sagt Bertrand Perz, als stellvertretender Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien ein ausgewiesener Fachmann für die NS-Zeit. Unter anderem hat er für einen NS-Prozess in Duisburg ein Gerichtsgutachten über die Rolle der Volksdeutschen in der SS angefertigt. „Aus der Sicht der Reichsdeutschen waren die oft nur mit mangelnden Kenntnissen der deutschen Sprache ausgestatteten Volksdeutschen keine richtigen Deutschen. Vielfach galten sie in den Augen dieser als ‚rassisch minderwertig‘“, heißt es darin – ein Umstand, den manche der Gedemütigten durch besonderen Übereifer kompensierten. Während seiner Zeit im KZ Sachsenhausen wurde Josias Kumpf befördert. Er bekam mehrfach Ausgang, den er unter anderem dazu nutzte, Berlin zu besuchen. Schließlich gewährte ihm die SS sogar Heimaturlaub in Jugoslawien.

Im Oktober 1943 wurde Kumpf nach Polen abkommandiert. Sein neuer Einsatzort hieß Trawniki.

Das Lager
Die Gemeinde Trawniki liegt im Osten Polens, in der Woiwodschaft Lublin. Im Jahr 1941 hatte die SS dort auf dem Gelände einer alten Zuckerfabrik mit Bahnanschluss zwei Lager eingerichtet. Im ersten bildeten die Deutschen zwischen Herbst 1941 und Mitte 1943 rund 5000 „Hilfswillige“ aus – vor allem Ukrainer, aber auch Balten, Polen und Volksdeutsche aus der Sowjetunion. Die Männer waren für ihre besondere Brutalität bekannt und wurden zur Bewachung von Konzentrationslagern, aber auch zur Durchführung des dort stattfindenden Völkermords eingesetzt.

Im zweiten der beiden Lager wurden vorerst die Habseligkeiten ermordeter Juden sortiert und zwischengelagert. Später stellten dort Zwangsarbeiter so genannte kriegswichtige Güter her – etwa Uniformen. Kommandiert wurde Trawniki von einem SS-Sturmbannführer namens Karl Streibel (siehe auch Kasten „Schandurteile“). Eigentlich hatten die Nationalsozialisten geplant, Trawniki zu erweitern. Im Laufe des Jahres 1943 war es aber in zwei in Ostpolen gelegenen Vernichtungslagern – Treblinka und Sobibor – zu Aufständen gekommen. Daraufhin ordnete SS-Reichsführer Heinrich Himmler am 22. Oktober 1943 die Auflösung aller Lager im Distrikt Lublin an. Sieben Tage später, am 29. Oktober, kam Josias Kumpf, mittlerweile 18 Jahre alt, gemeinsam mit 150 weiteren Wachleuten in Trawniki an. Dort liefen zu diesem Zeitpunkt bereits die Vorbereitungen zur „Aktion Erntefest“: der Ermordung der Juden von Lublin.

Das Massaker
Als Kumpf das Lager zum ersten Mal betrat, müssen Häftlinge gerade damit beschäftigt gewesen sein, Gräben auszuheben – offiziell waren sie zum Schutz vor Luftangriffen gedacht, in Wirklichkeit aber für das bevorstehende Massaker. Am frühen Morgen des 3. November jagten SS- und Polizeieinheiten in den Konzentrationslagern Trawniki, Majdanek und Poniatowa die Juden aus ihren Unterkünften. Es gibt nur wenige Augenzeugenberichte aus Trawniki selbst. Es besteht aber kein Zweifel daran, dass sich dort das Gleiche abspielte wie im rund 40 Kilometer entfernten Majdanek. Das Urteil eines lange nach dem Krieg in Düsseldorf durchgeführten Gerichtsverfahrens schildert die Situation, nachdem die Delinquenten im Laufschritt zu den Gräben getrieben worden waren: „Dort mussten sie sich ‚dachziegelförmig‘ (…) mit dem Gesicht nach unten so hinlegen, dass sich jeweils das erste Opfer auf dem Boden und jedes nachfolgende mit dem Kopf auf dem Rücken des unter ihm liegenden Opfers befand.“ Danach wurden sie mit Schüssen in den Hinterkopf getötet. „Nachdem die Sohle der Gräben mit Leichen gefüllt war, mussten die nächsten Opfer auf die Leichen steigen, eine weitere Schicht von Menschenleibern bilden und sich dann in der gleichen Weise erschießen lassen“, heißt es in dem Urteil weiter.

Franz Skubinn, Angestellter eines deutschen Unternehmens, das in Trawniki Zwangsarbeiter beschäftigte, schilderte nach dem Krieg vor Gericht die Umstände: „Die Juden begaben sich ruhig und ohne Widerstand zu den Exekutionsgräben. Teilweise fassten sie sich an den Händen und gingen gemeinsam … Einige erkannten mich und riefen mir noch zu: ,Auf Wiedersehen, Herr Skubinn!‘“ In diesem Augenblick habe er an der ganzen Menschheit gezweifelt. Die Tötungen zogen sich den ganzen Tag hin. Währenddessen beschallte die SS das Lager mit lauter Musik – unter anderem Märschen und Walzern von Johann Strauss.

In Trawniki kamen an diesem Tag bis zu 8000 Menschen ums Leben. Die Einwohner des nahe gelegenen Dorfs konnten „trotz der pausenlosen Musik, der Schüsse aus den Gewehren (…) Schreie, Stöhnen und Weinen der (…) Juden und ihrer Antreiber hören“, wird der Ohrenzeuge Wladislaw Hobot im Buch „Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek“ von Barbara Schwindt zitiert. Zwei Tage lang mordeten die SS und ihre „Hilfswilligen“ bei diesem „Erntefest“ im Distrikt Lublin. Dann waren an die 40.000 Menschen tot.

Der Aufpasser
Es ist unbestritten, dass sich Josias Kumpf während der „Aktion Erntefest“ in Trawniki aufhielt. Unklar ist, ob er auch persönlich an den Erschießungen teilgenommen hat. Kumpf selbst gibt an, seine Aufgabe habe darin bestanden, am Rand der Gruben zu stehen und zu verhindern, dass eventuell Überlebende flüchten. „Ich war dort, in Trawniki. In jener Nacht. Ich war ein Wächter, am Zaun – Sie verstehen?“, erzählte er im vergangenen Juni gegenüber profil. „Aber ich kam zu spät. Als ich hinkam, hatte man sie schon erschossen. Hunderte. Tausende. Mit dem Maschinengewehr. Sie lagen in den Löchern, die sie davor selbst hatten ausheben müssen. Manche von ihnen waren noch nicht tot, sie krabbelten wieder heraus. Dann schoss man nochmals auf sie, auf einen nach dem anderen. Bis sie alle tot waren.“

Er selbst, beteuerte Kumpf auch gegenüber den Ermittlern der US-Justiz, habe niemanden getötet. Nach der „Aktion Erntefest“ bekam Kumpf erneut Heimaturlaub, den er bei seiner Familie in Jugoslawien verbrachte. Danach kehrte er zu seiner Einheit zurück und wurde im Frühjahr 1944 nach Frankreich verlegt. Dort bewachte er Zwangsarbeiter, die Startrampen für Raketen errichteten. Nach der Invasion in der Normandie kam er erneut an der Ostfront zum Einsatz. Dort, so Kumpf, wurde er von der Roten Armee gefangen genommen und für den Rest des Kriegs interniert. Irgendwann in dieser Zeit ätzte er sich die Blutgruppentätowierung, die ihn als Mitglied der SS verriet, mit Säure aus der Haut seines Oberarms.

II. Der Amerikaner: Die Ankunft
Josias Kumpfs Tochter Anneliese kann sich noch genau an den Augenblick erinnern, als sie zum ersten Mal die Freiheitsstatue sah: Es war Abend, nach zehn Tagen auf See glitt ihr Schiff in den Hafen von New York, und die riesige Gestalt mit der Fackel in der Hand stand hell erleuchtet in der Dämmerung. Kumpfs jüngster Sohn Egon, 3, war so aufgeregt, dass er vor Freude seinen Hut ins Wasser warf. Nach dem Krieg hatte Josias Kumpf seine Angehörigen, die wie viele Volksdeutsche vor der Front aus Nova Pazova geflohen waren, in Österreich wiedergefunden.

Er verdingte sich als Hilfsarbeiter auf einem Bauernhof, später als Straßenarbeiter und in einer Ziegelfabrik. Am 8. Mai 1948 heiratete er Elisabeth Eremity, die Tochter einer Familie aus der deutschen Minderheit in Rumänien, die ebenfalls nach Österreich geflüchtet war. Die Familie ließ sich in Ried im Innkreis nieder, drei Kinder wurden geboren.

1956 suchten die Kumpfs um Visa für die USA an. Auf dem Antragsformular gab Kumpf an, er habe für die „German Army“ in Deutschland, Polen und Frankreich gedient. Von einer Mitgliedschaft in der SS erwähnte er nichts. Am 23. März 1956 stellte die US-Botschaft in Österreich der Familie die Einreisegenehmigungen aus. Ein katholischer Priester in Chicago, wo sie Verwandte hatten, half den Kumpfs, die Reise zu finanzieren. Jetzt, Ende Mai 1956, waren sie in Amerika angekommen, am Abend des Memorial Day, einem US-Feiertag für gefallene Soldaten. Über Manhattan wurde ein Feuerwerk abgeschossen.

Der Aufstieg
Von New York aus nahmen die Kumpfs einen Zug nach Chicago und quartierten sich dort vorübergehend bei Elisabeths Mutter ein. Schon zwei Wochen später fanden sie eine Mietwohnung, und Josias trat einen Job als Wurststopfer bei der Vienna Hot Dog Company in Chicago an. Anfangs hatten sie es dennoch nicht leicht. Anneliese erinnert sich, dass sie als Kinder in der Schule gehänselt wurden, weil sie kaum Englisch sprachen und ärmlich gekleidet waren. Man verspottete sie als „DP“ (Displaced Person, deutsch: Vertriebene), als „Leute, die vom Boot runtergekommen sind“, und als „Nazis“.

Es ging aufwärts: zwei weitere Kinder, ein Auto, ein eigenes Haus in Chicago. Von Reichtum konnte allerdings keine Rede sein, die weiteste Reise war ein Ausflug zu den drei Autostunden entfernten Niagara-Fällen. Tochter Anneliese sagt, ihr Vater habe gern an Autos herumgebastelt, er mochte Picknicks und Familienfeiern. Er besuchte keine Englischkurse und lernte nie Lesen und ­Schreiben. Während in Europa hochrangige NS-Täter vor Gericht kamen und vielfach freigesprochen wurden, war der Krieg in der alten Heimat im Hause Kumpf nie ein Thema. Im Februar 1964 stellte Josias Kumpf einen Antrag auf Verleihung der US-Staatsbürgerschaft. Seine frühere Mitgliedschaft bei der SS erwähnte er auch darin nicht. 1979 rief die Regierung der USA eine Sonderermittlungsbehörde ins Leben, da publik geworden war, dass auch ehemalige SS-Angehörige in die USA eingereist und US-Bürger geworden waren. Das Office of Special Investigations (OSI) nahm seine Arbeit auf.

III. Der Gejagte: Die Ermittlungen
Josias Kumpf saß auf der Veranda im Hinterhof seines Hauses im County Racine, Bundesstaat Wisconsin, als die Ermittler kamen. Es war ein sonniger Tag im August 2001, Kumpf wohnte inzwischen bei seiner Tochter Anneliese und ihrem Ehemann Paul, weil er alleine nicht mehr für sich sorgen konnte. Seine Frau Elisabeth war im Jahr zuvor an Krebs gestorben.
Kumpf war alleine, als ihn die Männer des OSI zum ersten Mal über seine Rolle im Zweiten Weltkrieg befragten. Er beantwortete ihre Fragen und unterzeichnete anschließend mit seinen Initialen eine Erklärung. Im September 2002 fuhr ein Beamter der US-Bundesbehörde vor und überbrachte Josias Kumpf einen Deportationsbefehl. Man würde ihm wegen falscher Angaben in Bezug auf seine SS-Mitgliedschaft die Staatsbürgerschaft und die staatliche Pension entziehen, und er müsse das Land verlassen.

Mitarbeiter des OSI waren auf den Namen Kumpf gestoßen, als sie Dokumente aus dem Dritten Reich mit Einwanderungslisten der USA verglichen. Mit dieser Methode findet die Behörde auch heute noch immer wieder Verdächtige. In welchem Ausmaß sich Josias Kumpf während seiner SS-Zeit, vor allem aber während des Massakers von Trawniki, schuldig gemacht hat, ist bis heute unklar und wird es wohl auch bleiben. Es gibt keine Zeugen oder Beweise, die ihn persönlich belasten würden. Der Historiker Bertrand Perz hält den Zeitpunkt der Abkommandierung Kumpfs nach Polen nicht für zufällig: „Ende Oktober 1943 wurden mehrere hundert Angehörige von Waffen-SS und Polizeieinheiten aus dem Generalgouvernement, aus Auschwitz und dem Reichsgebiet speziell für die ,Aktion Erntefest‘ im Distrikt Lublin zusammengezogen, um die Erschießungen durchzuführen.“

Gleichzeitig lassen Aussagen eines der wenigen Augenzeugen des Massakers darauf schließen, dass die Exekutionen nicht von den einfachen SS-Wachen durchgeführt wurden: „Ich glaube mich mit Sicherheit zu erinnern, dass die Schützen Angehörige des SD (des Geheimdienstes der SS, Anm.) waren“, erklärte Augenzeuge Franz Skubinn nach dem Krieg vor Gericht. „Jedenfalls hatte man den Eindruck, dass es sich um geschulte Kommandos handelte.“

Aber das muss noch nicht bedeuten, dass Kumpfs Behauptung, nie auf einen Menschen geschossen zu haben, den Tatsachen entspricht. Allerdings steht auch der Beweis für das Gegenteil aus. Gesichert ist jedenfalls, so der Historiker Bertrand Perz, dass die Erschießungen nicht durch die jeweiligen Lagermannschaften, sondern durch die zusammengezogenen Ein­heiten unter der Leitung des Kommandeurs der Sicherheitspolizei Lublin durchgeführt wurden.

Mit der Frage einer individuellen Schuld hat sich die US-Justiz nie beschäftigt, das konnte sie auch nicht: „Das Gesetz der USA erlaubt es nicht, Leute zu verfolgen, die ihre Verbrechen außerhalb der Vereinigten Staaten begangen haben und deren Opfer keine amerikanischen Staatsbürger sind“, erläutert Efraim Zuroff, Direktor des Simon Wiesenthal Center in ­Jerusalem (siehe Interview links).

Das Urteil
Die Argumentation der US-Behörden lautet zusammengefasst: Josias Kumpf hat bei seiner Einreise in die USA im Jahr 1956 verschwiegen, dass er Mitglied der SS war. Die SS ist eine verbrecherische Organisation. Kumpf trug die Uniform der SS, er bekam von ihr eine Pistole und ein Gewehr, Sold und regelmäßig Ausgang oder Urlaub, von dem er jeweils pflichtgemäß zu seiner Einheit zurückkehrte. Sein Befehl in Trawniki war es, eventuell Überlebende der Exekutionen mit Waffengewalt am Entkommen zu hindern. Selbst wenn er nie jemandem etwas zuleide getan hätte, wurden Fluchtversuche alleine durch seine Anwesenheit unterbunden: „Er wurde Zeuge der Folter und Ermordung hilfloser Menschen und wachte darüber.“
Dadurch seien die Voraussetzungen für die Erteilung des Visums weggefallen.

„Sie fragten mich, ob ich dort war, ob ich es gesehen hätte. Ich sagte: Ja. Dann sind Sie schuldig, sagten sie“, erzählte Kumpf im vergangenen Juni gegenüber profil. „Darum bin ich heute hier. Dabei habe ich nichts getan. Ich habe es nur gesehen. Ich kam erst hin, als sie schon fertig waren. Und wenn: Damals dachten wir, es wäre richtig. Es war unser Befehl. Sie wissen, was Befehl bedeutet, ja? Die Offiziere waren die Bosse, nicht die kleinen Wächter – ein 17-Jähriger, so wie ich damals.“

Sieben Jahre lang bekämpfte Josias Kumpf diesen Bescheid. Die Kosten für den Anwalt fraßen all seine Ersparnisse auf, und am Ende waren alle Berufungsmöglichkeiten ausgeschöpft, und er hatte verloren. Im Mai 2005 wurde Kumpf die US-Staatsbürgerschaft aberkannt, im Juni 2006 leitete das OSI seine Ausweisung ein, im Jänner 2007 ordnete das Einwanderungsgericht von Chicago seine Abschiebung an. Zielländer: Deutschland, Österreich, Serbien oder „jedes andere Land, das ihn akzeptieren würde“.

Kumpf befand sich nun in einer bizarren Situation: Das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, in dem er geboren wurde, existiert seit mehr als sechzig Jahren nicht mehr. Serbien wollte ihn nicht haben, Deutschland auch nicht. Bleibt Österreich, das aus völkerrechtlichen Verpflichtungen gezwungen ist, ihn einreisen zu lassen – Kumpf hatte seine Reise in die USA im Jahr 1956 von hier aus angetreten, das Innenministerium in Wien unterzeichnete bereits damals routinemäßig eine bilaterale Erklärung, ihn im Fall des Falles zurückzunehmen.
Josias Kumpf ist in eine Art schwarzes Loch der Geschichte geraten.

Die Ausweisung
Am 18. März 2009 wird Josias Kumpf von einem Ambulanzwagen von zu Hause abgeholt. Man legt ihn auf eine Krankentrage und fährt ihn zu einem nahe gelegenen Flughafen. Er darf eine Tasche mitnehmen. „Er ist mit sehr wenigen Sachen in dieses Land gekommen, und er verlässt es mit noch weniger“, sagt seine Tochter Anneliese. Als der Ambulanzjet abhebt, befinden sich an Bord vier Passagiere: Josias Kumpf, sein Schwiegersohn Paul Krampitz, eine Krankenschwester und ein Pfleger. Der Jet stoppt zweimal zum Auftanken, einmal in Maine, einmal auf den Azoren, und landet schließlich am 19. März am Flughafen Wien. Kumpf sagt zu seinem Schwiegersohn: „Was passieren wird, wird passieren.“

Kumpf führt ein offizielles Dokument der Republik Österreich mit sich, eine „Übernahmserklärung“ des Innenministeriums. Aber da ist niemand am Flughafen, der ihn übernehmen würde. Geschweige denn, sich um ihn kümmern. Das Innenministerium, das Kumpf die Einreise ermöglicht hatte, stellt sich auf den Standpunkt, er sei ein Staatenloser, der sich illegal im Land befinde, aber nicht abgeschoben werden könne – und erklärt sich für unzuständig. Damit beginnt für den Alten und seinen Schwiegersohn eine Odyssee.

Die Irrfahrt
Krampitz, der als US-Bürger kein Wort Deutsch spricht und zuvor noch nie im Ausland war, besorgt sich eine Liste mit Pflegeheimen in Vorarlberg und beginnt, sie abzuklappern. Vorarlberg deshalb, weil zwei Geschwister Kumpfs in Süddeutschland leben und ihn von dort aus zumindest besuchen könnten. Erfolglos. Einen mittellosen Deportierten mit NS-Vergangenheit will im „Ländle“ keiner haben. Am 3. April ruft Krampitz anonym im Amt der Vorarlberger Landesregierung an und erkundigt sich nach Betreuungsmöglichkeiten für einen älteren Verwandten, der aus den USA nach Österreich eingereist ist. Er nennt den Namen von Josias Kumpf. Die Beamten beginnen zu recherchieren und alarmieren ÖVP-Landesrätin Greti Schmid. Jetzt wollen die Politiker nur noch eines: den unwillkommenen Gast so schnell wie möglich wieder loswerden. Am 22. April fordert Landeshauptmann Herbert Sausgruber den Bund „umgehend auf, die Verantwortung aus der völkerrechtlichen Verpflichtung der Übernahme wahrzunehmen“.

Am 24. April sieht Krampitz keinen anderen Ausweg mehr: Er fährt mit Josias Kumpf ins Landeskrankenhaus Bregenz und lässt ihn dort zurück.
Inzwischen hat das Land Vorarlberg bei der Caritas angefragt, ob sie für Kumpf sorgen kann – möglichst in Wien. Für die Finanzierung der notwendigen 24-Stunden-Betreuung werde der Bund aufkommen, heißt es gegenüber der Hilfsorganisation. In der Nacht zum 6. Juni karrt ein Krankenwagen Kumpf in die Bundeshauptstadt. Die Caritas hat dort über ihren Tochterverein „Rundum zu Hause betreut“ eine Wohnung und eine freiberufliche Pflegekraft organisiert: Das nimmt Harald Walser, Chef der Vorarlberger Grünen, zum Anlass, von einer „Luxus-Betreuung“ zu sprechen. „Spanien hat ein Strafverfahren gegen Kumpf eingeleitet, in Österreich erhält er bevorzugte Behandlung“, so Walser auf seiner Website. „Unser Land wird immer mehr zum ,sicheren Hafen‘ für NS-Kriegsverbrecher.“ Tatsächlich ist Josias Kumpf de jure ein unbescholtener Bürger.

Keine drei Wochen nachdem Kumpf in Wien untergekommen ist, steht er auch schon wieder auf der Straße. Der Sohn der Vermieterin hat seinen Namen gegoogelt und die Vorwürfe gegen ihn entdeckt. Nahezu gleichzeitig erfährt die Caritas, dass weder der Bund noch das Land Vorarlberg für Kumpf zahlen wollen. Die Wohnung ist weg, die Pflegefinanzierung ebenfalls. Ein Arzt ruft die Rettung und bescheinigt einen Notfall. Am 19. Juni landet Kumpf im Wiener AKH und damit in der Obhut des Fonds Soziales Wien. In dieser Situation führt profil ein erstes Interview mit ihm. „Meine Verwandten sind weit weg“, sagt Kumpf darin. „Wir haben nur manchmal Kontakt. Ich kümmere mich um mich selbst. Ich übernachte in Unterkünften, die gratis sind. Ich geniere mich dafür. Aber was soll man machen, wenn man nichts hat?“ In den folgenden Wochen und Monaten verschlechtert sich Kumpfs Gesundheitszustand rapide.

Die Anklage
Währenddessen wird in Spanien ein letzter Versuch gestartet, den Deportierten doch noch strafrechtlich zu belangen. Kläger sind 18 ehemalige spanische KZ-Insassen, vertreten durch die Menschenrechtsorganisation Nizkor. Sie stellen eine Anklageschrift gegen Kumpf und drei weitere NS-Angehörige – Johann Leprich, Anton Tittjung und Iwan Demjanjuk – zusammen. Gregorio Dionis, Leiter von Nizkor, erläutert profil gegenüber seine Strategie: Geklagt werde wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation, der Totenkopf-SS, sowie wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, denn ein Versuch, persönliche Schuld der vier SS-Wächter an konkreten Untaten nachzuweisen, sei nicht erfolgversprechend.

Ismael Moreno, Richter am nationalen Gerichtshof in Madrid, verweist auf ein Urteil des Kriegsverbrechertribunals von Nürnberg: „Das Gericht schlussfolgert, dass die Gräueltaten, die in diesem Lager verübt wurden, allen Mitarbeitern (…) bekannt waren und dass jene deshalb alle strafrechtlich verantwortlich waren.“ Damit wäre allein die Tatsache, dass die vier Beschuldigten an dem jeweiligen Tatort im Einsatz waren, ausreichend für ihre Verurteilung. So sieht das auch Staatsanwalt Pedro Torrijos. Er hält es prinzipiell für „nicht glaubhaft, dass ein SS-Mitglied im KZ sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben will“, und hält die Anwesenheit in den Lagern sowie die Kenntnis der dort begangenen Verbrechen für einen Beitrag zum Genozid.

Nizkor-Chef Dionis ärgert sich über das Verhalten Österreichs im Fall Kumpf. Es sei „schamlos“, sich zu weigern, den ehemaligen SS-Mann vor Gericht zu stellen, nur weil er zum Tatzeitpunkt unter 20 Jahren, also minderjährig, war und seine Verbrechen deshalb in jedem Fall verjährt seien. Man habe absichtlich mehrere Verdächtige gleichzeitig angeklagt, weil das die Wahrscheinlichkeit erhöhe, „dass es einer von ihnen bis zum Prozess schafft“, so Dionis.

Josias Kumpf hat es nicht mehr geschafft.
Als ihn profil am Dienstag vergangener Woche im Wiener Wilhelminenspital aufsuchte, wohin man ihn aus Kostengründen verlegt hatte, war er zwar bei Bewusstsein, konnte sich jedoch nicht mehr verständlich machen. Seine Angehörigen in den USA hatten seit zwei Monaten keine Möglichkeit mehr gehabt, mit ihm zu telefonieren. Ihre Anrufe wurden nicht zu ihm durchgestellt. In der Nacht zum Donnerstag, dem 15. Oktober 2009, starb Josias Kumpf. Wenn er sich schuldig gemacht hat, konnte ihm das nie nachgewiesen werden. Wenn er unschuldig war, konnte er das nie be­weisen.

Mitarbeit: Josef Barth, Manuel Meyer/Madrid

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur