Johanna Mikl-Leitner und Karl Nehammer
Niederösterreich

Hundertjährige Herrschaft: Wie macht das die ÖVP Niederösterreich?

Wenn Niederösterreich wählt, zittern in Wien der Kanzler und die SPÖ-Vorsitzende mit. Die ÖVP wird ihre absolute Mehrheit im Land verlieren, ihre unumschränkte Macht aber trotzdem behalten.

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Von „einem ganz besonderen Jubiläum“ sprach der Bundespräsident. Am 15. September des Vorjahres versammelte sich Prominenz von Alexander Van der Bellen und Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner abwärts zu einer Festmatinee im Palais Niederösterreich in der Wiener Herrengasse. Gefeiert wurde die 100-jährige Eigenständigkeit des Bundeslandes. Der Bundespräsident brachte die Äuglein der versammelten Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher zum Funkeln: „Es ist ähnlich wie beim Schliff eines Edelsteins: Es sind die vielen Facetten, die einzelnen Ecken und Kanten, die Niederösterreich so kostbar machen.“ Zum Abschluss wurde eine Zeitkapsel mit Briefen von Kindern und Politikern befüllt. Sie befindet sich heute im Museum in St. Pölten und soll in 100 Jahren geöffnet werden.

Zukünftige Historiker werden dann vielleicht auf 2023 verweisen, das Jahr, in dem die ÖVP in Niederösterreich ihr schlechtestes Ergebnis seit 1945 (bisher: 44,2 Prozent aus 1993) einfuhr und die FPÖ die SPÖ überholte. Wenn Niederösterreich am 29. Jänner wählt, schwitzen in Wien ÖVP-Kanzler Karl Nehammer und SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner mit. Und FPÖ-Chef Herbert Kickl wird am Wahlabend ein genüssliches Grinsen aufsetzen können.


 

Hubert Wachter beobachtet die Landespolitik seit mehr als einem halben Jahrhundert, als Journalist war er nah dran an den Mächtigen. Die ÖVP Niederösterreich beschreibt er als „militärisch organisierte Truppe“: „Sie haben die Macht und benutzen sie auch – mit breiter Brust.“ Es ist eines der Erfolgsrezepte. Da dringt nicht der kleinste Widerspruch nach außen, Personaldiskussionen werden intern ausgeschnapst.

Bei der Gestaltung der Wahlplakate für Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner verzichteten die Werber auf das ÖVP-Logo. Der Trick entspricht dem Selbstverständnis: Die ÖVP ist die NÖ-Partei, ihre Obfrau die Landesmutter. Parteiveranstaltungen sind von solchen des Landes kaum zu unterscheiden, die Grenzen verschwimmen, Unvereinbarkeiten werden wahrscheinlicher. So ermittelt die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft im Umfeld der ÖVP-nahen Werbeagentur Media Contacta, zu deren Kunden auch das Land Niederösterreich zählt. Im Raum stehen wettbewerbsbeschränkende Absprachen bei öffentlichen Aufträgen.

Dass die ÖVP NÖ das Land als Lehen führt, zeigt sich auch bei Personalvertretungswahlen im öffentlichen Dienst. 99 Prozent der 583 Personalvertretungsmandate in Landesdienststellen sind von ÖVP-Gewerkschaftern besetzt. Auch die Kleinteiligkeit Niederösterreichs kommt der ÖVP zupass, wer an Gemeindezusammenlegungen auch nur denkt, wird zum Landesfeind erklärt. In Großhofen, der kleinsten Kleingemeinde, leben gerade einmal 63 Wahlberechtigte. Jeder Fünfte von ihnen sitzt im Gemeinderat – zwölf der 13 Sitze gehören der ÖVP. Je kleiner das Dorf, desto schwerer tun sich neue Listen, Mitstreiter anzuwerben.

Besonders anschaulich wird die ÖVP-Herrschaft in allen öffentlichen Bereichen durch die jüngste Affäre um das ORF-Landesstudio. Landesdirektor  Robert Ziegler wird von eigenen Mitarbeitern vorgeworfen, die ÖVP in seiner Zeit als Chefredakteur von 2015 bis 2021 massiv begünstigt zu haben. Eine von ORF-Generaldirektor Roland Weißmann eingesetzte Evaluierungskommission soll Aufklärung bringen.

Das machttechnische Perpetuum mobile funktioniert seit Jahrzehnten. Die niederösterreichische ÖVP nutzt ihren Einfluss, um Posten und Geld zu verteilen. Die solcherart Begünstigten revanchieren sich, indem sie der ÖVP beim Machterhalt dienlich sind. Ähnliche Meisterschaft zeigt sonst nur die SPÖ Wien. Allerdings muss sich der rote Bürgermeister mit kritischeren Medien herumschlagen, wie Michael Ludwig gern – auch gegenüber Johanna Mikl-Leitner – lamentiert.

Doch nichts währt ewig, nicht einmal die Siegesserie der ÖVP NÖ. Stimmen die Umfragen, könnte die Volkspartei bis zu zehn Prozentpunkte verlieren. Für die Bundespartei bedeutet dies mehr als einen regionalen Dämpfer. Die niederösterreichische ÖVP ist das schwarze Kraftzentrum. Schwächelt Johanna Mikl-Leitner, wird auch Karl Nehammer lahmer. Will er Kanzler bleiben, braucht er Stimmen aus Niederösterreich, wo 1,3 Millionen Wahlberechtigte leben, mehr als in jedem anderen Bundesland.

Mit dem Verlust der absoluten Mandatsmehrheit im Landtag hat sich die ÖVP NÖ abgefunden, das inoffizielle Wahlziel lautet: fünf. Mit fünf von neun Landesregierungsmitgliedern hätte die ÖVP weiterhin eine Mehrheit. Derzeit stellt sie inklusive der Landeshauptfrau sechs Landesregierungsmitglieder, die SPÖ zwei und die FPÖ eines. Um fünf Landesräte zu halten, benötigt die ÖVP knapp über 40 Prozent der Stimmen. Warum das so entscheidend ist, erklärt Klaus Schneeberger, der als ÖVP-Klubobmann im Landtag seit 23 Jahren zur Parteispitze gehört: „Die Mehrheit in der Landesregierung ist für mich das erklärte Ziel, weil damit der Wechsel zu Blau-Rot ad absurdum geführt wird.“ Die Landesregierung kann im Alleingang Posten besetzen und Förderungen vergeben – wäre die ÖVP bei all diesen Beschlüssen auf Unterstützung angewiesen, müsste sie wohl Zugeständnisse machen oder eine Koalition mit SPÖ oder FPÖ schließen – kurz: Macht abgeben. Das passt nicht zum Selbstverständnis der „Niederösterreich-Partei“. Bei dieser Wahl tritt Schneeberger nicht mehr an, da redet es sich leichter. Die Ausgangslage sei „schwierig“, gibt er zu, in seiner gesamten Politiklaufbahn habe er noch nie so viele Krisen gleichzeitig erlebt.

Schneebergers Job war es zuletzt, Mikl-Leitners „Miteinander“ zu exekutieren. Das heißt: Möglichst viele einstimmige Beschlüsse im Landtag zu erzielen. Das erschwert es den anderen Parteien, hinterher Kritik zu üben. Mit dem niederösterreichischen „Miteinander“ wird die Opposition so herzlich umarmt, dass sie sich kaum mehr bewegen kann.

Herbert Kickl und Udo Landbauer

 Der Mann, der der ÖVP am meisten Sorgen bereitet, heißt Udo Landbauer. Der FPÖ-Obmann und Spitzenkandidat fällt im Wahlkampf mit derben Attacken gegen die Landeshauptfrau auf, will sie gar „entsorgen“. Schneeberger, der wie Landbauer aus Wiener Neustadt kommt, findet das „inakzeptabel“: „Entsorgen tut man Müll, keine Menschen.“ Der ÖVP-Altvordere warnt Landbauer vor Konsequenzen. Eine Zusammenarbeit werde „sehr schwer mit solchen Aussagen“.

Landbauers Rauflust wird sich nicht legen, denn der Krawallkurs funktioniert. So rechnen Meinungsforscher damit, dass die FPÖ erstmals seit 1945 die SPÖ überholt und zweitstärkste Kraft im Land wird. Auf Bundesebene sind die Freiheitlichen bereits Nummer 1 – und zwar deutlich. Laut der aktuellen Umfrage von Unique Research für profil kommt die FPÖ derzeit auf 28 Prozent und liegt vor SPÖ (24 Prozent) und ÖVP (22 Prozent). Es läuft für  Parteichef Herbert Kickl, der am vergangenen Mittwoch im „ZIB 2“-Interview schon über seine zukünftige Kanzlerrolle fabulierte.

Der Verlust des zweiten Platzes wäre für die SPÖ eine Blamage, zumal die Ausgangslage günstig ist. Die schwarz-grüne Bundesregierung: unbeliebter denn je; die Landes-ÖVP: angeschlagen. Und mit der Teuerung dominiert ein rotes Kernthema den Wahlkampf.

Trotzdem kann die SPÖ nicht mit Zugewinnen rechnen. Sollte die Wahl schiefgehen, wackelt Spitzenkandidat Franz Schnabl als Parteichef. Ein potenzieller Nachfolger winkt gegenüber profil ab: Andreas Babler, Bürgermeister von Traiskirchen und Liebling der Partei-Linken auch außerhalb Niederösterreichs. Babler ließ sich für die Landtagswahl auf den letzten Platz der SPÖ-Liste reihen und startete einen Vorzugsstimmen-Wahlkampf mit Unterstützern wie Ex-Bundeskanzler Christian Kern, Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser und ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian. Babler: „Ich habe es mehrfach versprochen. Ich bleibe Bürgermeister. In dieser Funktion habe ich genug zu tun.“

Franz Schnabl versucht, im Wahlkampf mit Provokation aufzufallen. In der SPÖ bedeutet das, den burgenländischen Landeshauptmann Hans Peter Doskozil nach Wiener Neustadt einzuladen. In den Schaukästen des Zentralkinos wird zuerst ein Filmabend („The Chosen“) beworben, dann die Doskozil-Diskussion. Schnabl beschwert sich über seine geringe Medienpräsenz: „Ich habe keine Pressekonferenz gemacht, wo mehr als zwei, drei Kameras dabei waren, bei Mikl-Leitner sind es vier bis fünf.“ Doskozil spricht über den Mindestlohn („mein Lieblingsthema“), die Pflege und die Zeiten, in denen beide noch Polizisten waren, und er zu Schnabl („Er war General in Wien“) aufschaute.

Franz Schnabl und Pamela Rendi-Wagner

Der mögliche Verlust des zweiten Platzes in Niederösterreich und der wachsende Rückstand auf die FPÖ in der Sonntagsfrage werden die Debatten über Parteichefin Pamela Rendi-Wagner wieder befeuern. Dazu kommt: In der fiktiven Kanzler-Frage lagen Kickl und Rendi-Wagner im Dezember noch mit 15 Prozent gemeinsam auf Platz zwei, hinter ÖVP-Bundeskanzler Nehammer. In der aktuellen Umfrage stieg Kickls Wert auf 17 Prozent, bei Rendi-Wagner sank er auf 12 Prozent.

Während die größeren Parteien dank des Proporzsystems jedenfalls in der Landesregierung vertreten sind, haben es die Kleinparteien in Niederösterreich besonders schwer. Grüne und NEOS verfügen weder über einen Landesrat noch über einen Landtagsklub, für beides fehlt ihnen die Mandatsstärke. Mit jeweils drei Sitzen im Landtag können sie allein keine Anträge stellen oder in Ausschüssen abstimmen. Weil es nicht danach aussieht, als würden die Minderheiten mehr Rechte erhalten, wollen sie zumindest mehr Stimmen gewinnen. Vier Mandate sind das Ziel von Spitzenkandidatin Indra Collini, dann würden die NEOS offiziell als Klub im Landtag sitzen.

Collini ist gebürtige Vorarlbergerin, um das zu wissen, muss man nicht ihren Lebenslauf lesen. Sie sagt „isch“ statt „ist“, „nit“ statt „nicht“ und formuliert auch Sätze wie: „In Vorarlberg wird Eigenverantwortung großgeschrieben.“ In Niederösterreich mache man sich als Gesellschaft „auch ein bisschen abhängig von der ÖVP“. Soll heißen: „Wenn man sich mit ihr arrangiert, hat man ein gutes Leben.“ Das beginne schon auf Gemeindeebene: der Kindergartenplatz, die Widmung, eine Wohnung – wenn man das alles will, helfe ein guter Draht zum Bürgermeister.

17 Prozent der Wahlberechtigten in Niederösterreich haben ein ÖVP-Parteibuch, die NEOS zählen rund 700 Mitglieder. Die ÖVP verspricht, dieses Mal die Wahlkampfkostenobergrenze von sechs Millionen Euro einzuhalten, die NEOS müssen mit der (laut Collini „ohnehin sehr hohen“) Parteienförderung von einer Million pro Jahr auskommen.

Beate Meinl-Reisinger und Indra Collini

Indra Collini ist nicht introvertiert, aber mit der Selbstsicherheit einer Johanna Mikl-Leitner geht sie nicht auf Leute zu. Hemmungen, Passanten aufzuhalten, hat sie dann trotzdem nicht. In Perchtoldsdorf spricht sie drei 16-Jährige an und steckt ihnen NEOS-Kondome zu („Aber nicht der Mama sagen.“) Ein Mann mit Schiebermütze und Weinglas unterhält sich länger mit ihr und meint dann: „Ich weiß seit Längerem nicht, was ich wählen soll. Ich gebe zu: Ich liebäugle schon mit den NEOS.“

Womöglich ist das eines der Probleme der Partei in Niederösterreich: Diffuse Sympathien sind weiter verbreitet als fixe Stimmen. Wer die NEOS im Bund wählt, muss es nicht zwangsläufig auf Landesebene tun. Im Speckgürtel rund um Wien finden sich die meisten Wählerinnen und Wähler. Nikolaus Scherak, Vize-Klubobmann und selbst Niederösterreicher, formuliert es so: „Das bürgerlich-liberale Potenzial ist da, es sitzt zum Beispiel in Baden und Mödling. Wir haben eine stabile Landespartei und sind im Aufwärtstrend.“ Die ÖVP trete allerdings im Land als Wohlfühlpartei auf, die es allen recht machen wolle. Es sei sehr schwer, gegen diesen Apparat anzukämpfen.

Im Speckgürtel treffen die NEOS auf einen weiteren Konkurrenten: die Grünen. Am Papier spricht vieles dafür, dass die Öko-Partei um Spitzenkandidatin Helga Krismer heuer wieder wächst. 2018 waren die Kollegen im Bund gerade aus dem Nationalrat gewählt worden und Krismer musste ihr Haus verpfänden, damit die Grünen einen Kredit bekommen. Dieses Mal wurde die Kampagne laut Krismer „ohne Drittmittel“ bezahlt, „noch konservativer kann man keinen Wahlkampf planen“. Sie merke eine Veränderung im niederösterreichischen Bewusstsein, sagt sie: „Es ist mit Beginn des Angriffskrieges Russlands angekommen, dass ein Windrad auch eine sicherheitspolitische Maßnahme ist.“ Die Konsequenz müsse eine gestärkte Partei sein. Sie meint damit wohl vor allem: Klubstärke. Krismer über sich selbst: „Ich wüsste nicht, warum Helga Krismer kein Angebot sein sollte. Es gibt nur eine Kraft im Land, der die Zukunftsthemen ein Anliegen sind.“

Doch auch in Zukunft wird die ÖVP die Herrschaft in Niederösterreich fast ungeteilt ausüben. Vielleicht sogar noch weitere 100 Jahre.

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.