„Augustin“-Verkäufer Viano präsentiert auf dem Wiener Karlsplatz die 30-Jahre-Jubiläumsnummer des „Augustins“, Wiens selbsternannter „bester Boulevardzeitung“.
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30 Jahre „Augustin“: Hilfe, keine Hetze

„Augustin“ ist das buchstäblich beste Boulevardmedium des Landes, in dem seit 30 Jahren gegen Armut und Ungerechtigkeit angeschrieben wird. Eine Ausstellung im Wien Museum feiert die Zeitung.

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So nahe kommen einander Zeitung und Zitrone, Reportage und Ribisel selten. Wer die Redaktion des „Augustin“ in der Wiener Reinprechtsdorfer Straße besucht, muss einen von Obstkisten und Gemüsesteigen gesäumten Hauseingang durchschreiten, an artistisch gestapelten Tomatenbergen, an roten, gelben und grünen Paprikas vorbei. Ein Gemüsehändler und der „Augustin“ teilen sich den verkehrsberuhigten Flecken zwischen Cafés und Dönerbuden. Wien wirkt hier, an diesem sonnigen Spätsommertag, wie ein Suburb New Yorks: viel Bewegung, ein Kommen und Gehen, noch mehr Hin und Her. Es geht, im Wortsinn, um die Dinge des Lebens, um das Leben auf der Straße.

Wenn man es sich richtig überlegt, ist es der ideale Standort für ein Projekt, das sich jeder festen Zuschreibung verweigert. Am ehesten lässt sich der „Augustin“, die selbsternannte „Boulevardzeitung“, folgendermaßen auf den Punkt bringen: „Augustin“, gegründet vor 30 Jahren von der Sozialarbeiterin Riki Parzer, dem Autor Max Wachter und dem Journalisten Robert Sommer, einem der streitbareren seiner Zunft, versteht sich als basisdemokratisches, selbstverwaltetes Medienprojekt, das Wien – und die Welt gleich mit – besser machen will. Das ist nicht bloß dahingesagt: Die Sozialarbeit, die von Anfang an integraler Teil war, ist noch immer zentral und je nach Bedarf ausgerichtet, der „Augustin“-Journalismus kompromisslos unabhängig. 

Das ist die eine Dimension, die sozialpolitische, die den Missständen und laufenden Diskriminierungen wichtige Blicke und Blickwinkel schenkt. Die andere betrifft die Stadt selbst, die ohne „Augustin“-Verkäuferinnen und -Verkäufer nicht dieselbe wäre. Nochmals der Blick nach New York, ins Jahr 1899, als die Zeitungsjungen für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen streikten, als kurzzeitig kein trompetenartiges „Neuigkeiten! Neuigkeiten!“-Geschrei in den Straßen zu hören war. Ohne „Augustin! Neuer Augustin!“-Rufe, ohne die derzeit rund 500 Verkäuferinnen und Verkäufer an urbanen Schaltstellen, die von den drei Euro pro veräußerter Zeitung eineinhalb in die eigene Kassa wirtschaften, wäre Wien um einiges ärmer. 

Ruth Weismann ist seit sieben Jahren Teil des fünfzehnköpfigen „Augustin“-Kollektivs, mitverantwortlich für die im Zweiwochenrhythmus erscheinende Zeitung. Eine chefredaktionelle Funktion kennt man im Haus mit frugalem Entree nicht, alles ist Teamwork. „Wir bewahren Haltung und machen Armut sichtbar“, sagt Weismann. „Vielleicht weniger aktivistisch als in den Anfangsjahren, dafür immer noch kämpferisch.“ Ein Wort, das in den penibel unaufgeräumten Redaktionsräumen deplatziert wirkt, lautet „Professionalisierung“. 

Im Lied heißt es: „Oh, du lieber Augustin, Augustin, Augustin. Oh, du lieber Augustin, alles ist hin. Und selbst das reiche Wien.“ Augustin rettet sich aus der Pestgrube: „Lustig gelebt und lustig gestorben, ist dem Teufel die Rechnung verdorben.“ Mit Humor, der zwischen Bissigkeit und Schlagfertigkeit pendelt, reagiert der „Augustin“ auf politische Abscheulichkeit und soziale Desaster.

„Augustin“-Schlagzeilen aus den vergangenen Dezennien, die beabsichtigt im Vibrato der Empörung daherkommen, die eine kurze Geschichte wild bewegter Vergangenheit erzählen: „Abschieben? – Hiergeblieben!“;  „Über euer Scheiß-Mittelmeer“; „In der Konsum-Hölle“; „Gebärmütterlicher Widerstand“; „Yes, we sell!“; „Über Leberwerte und österreichische Werte“. Gleichviel, ob es sich um Europas Außengrenzen, Turbokapitalismus, Corona, Abtreibungsdebatten oder Österreichs Selbstverständnis als Kultur- und Bsuff-Nation handelte und handelt – der „Augustin“ war und ist an allem nah dran. Wer genauer hinsieht, wird bald feststellen, dass der stadt- und landläufige Begriff „Obdachlosenzeitung“ für den „Augustin“ nicht greift. Bereits 2015 titelte das Medium „Clochards gesucht. Vom Verschwinden eines sozialen Typus“. Sogenannte „Notreisende“ finden sich im „Augustin“-Verkaufsteam inzwischen ebenso wie die legendäre Susi, die zehn Jahre lang auf der Straße lebte und so ziemlich von Beginn an dabei war. Ihr Trolley, mit dem sie die Zeitungen transportierte, ist ein Schaustück der kleinen Ausstellung „Mehr als eine Zeitung. 30 Jahre Augustin“, die noch bis Ende November im Wien Museum am Karlsplatz zu sehen sein wird. 

Medienkrise auch beim „Augustin“. Wurden 2006 monatlich noch 90.000 Exemplare veräußert, sank die Reichweite zuletzt auf rund 40.000 Zeitungen pro Monat. Etwas über die Hälfte der Finanzierung von Sozialarbeit und Zeitung stammen aus dem „Augustin“-Straßenverkauf und den Abos, rund 30 Prozent aus Spenden, der Rest aus Inseraten, Beilagen und Merchandising. 

Geblieben ist das Vereinsziel, Menschen, die von Armut und anderen Zumutungen des Lebens betroffen sind, einen Grundverdienst zu ermöglichen, „therapeutisches Taschengeld“ nach österreichischem Recht, auch ohne Arbeitsgenehmigung. Hilfe, keine Hetze, so ließe sich das „Augustin“-Motto zusammenfassen. 

„Was war, was ist, was kommt?“, so ist die Jubiläumsnummer 627 untertitelt. Was war: 30 Jahre Öffentlichkeit für die am Rand. Was ist: Der „Augustin“ hat für seine Verkäuferinnen und Verkäufer ein bargeldloses Bezahlsystem etabliert. Es gibt keine Ausreden mehr! Was kommt: weitere 30 kämpferische Jahre, hoffentlich.

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.