André Heller
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Andre Heller: "Wir werden immer provinzieller"

Der Künstler über Peymann und Wittmann, Haider und Klima, den Verlust von Zivilcourage im Kulturbetrieb und den Triumph des galoppierenden Marketingdenkens.

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Dieses Interview von Christian Seiler erschien in profil Nr. 11/1997 vom 10.03.1997.

profil: Vergangenen Dienstag gab Claus Peymann in der "Zeit im Bild" eine berührende Abschiedsvorstellung. Ist sein Abgang ein Einzelfall oder Ausdruck eines sich ändernden kulturellen und politischen Klimas in Österreich?

Heller: Der Peymann ist ein leidenschaftlicher, querdenkerischer, häufig über sich selbst stolpernder, hochbegabter, monomanischer Theaternarr. Daß er weggeht, ist für mich stellvertretend für den Austritt einer bestimmten Spezies aus unserer lokalen Gesellschaft. Wir leben in einer Zeit großer Befriedungen, deren Generalstimmung es ist, dass wir alle gut und vor allem ohne das sogenannte Fremde und Außenseiterische gut miteinander auskommen sollten. Diese Harmonie kann ja nun überhaupt nicht die Aufgabe der Kulturschaffenden sein. Daher gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder werden die Störenfriede sehr tapfer und gewohnt ungeliebt auf ihrer eigenen Anwesenheit beharren, oder sie werden sich an Orte verflüchtigen, wo ihnen etwas mehr an Sympathie oder Wollen entgegenschlägt.
 

profil: Was haben Sie gegen Harmonie?

Heller: Nichts. Aber eine Harmonie, die Qualität und Zwischentöne zerstört und Genauigkeiten abschafft, ist in Wirklichkeit eine niederträchtige Disharmonie. Zur Zeit werden unter dem Pseudonym Harmonie solche Disharmonien herbeigebetet und wahrscheinlich auch tüchtig geschaffen.

profil: Eine Handvoll Künstler bemüht sich noch immer redlich um Wirbel.

Heller: Das sind diese alten störrischen Figuren wie der Turrini oder die Jelinek oder von mir aus der Handke. Die neuen Harmonierer hören diese oder auch meinen Namen und sagen: Das sind doch die anachronistischen Kerzerlprozessionen-Veranstalter mit ihren zu überkommenen Forderungen, wie sie früher zum Beispiel sozialdemokratische Wirklichkeit waren: Solidarität mit Verlierern oder scharfes "Wehret den Anfängen". Vielleicht merken die aalglatten, lächelnden, selbsternannten Macher aller Schattierungen gar nicht, wie sehr sie sich damit dem Triumphgeheul Haiders anpassen, der in Wirklichkeit sowohl der gesellschaftspolitische Hausphilosoph Österreichs geworden ist wie auch Verhaltensmuster-Vertriebsorganisationen besitzt. Bei seiner Verhaltensmuster-Firma kaufen mittlerweile Grüne, Rote und Schwarze ein, und kaum einer verfolgt zurück, wer das Design gemacht hat.

profil: Peymann hat diese Harmonie gestört?

Heller: Sein Austausch gegen etwa Bachler - ohne Herrn Bachler herabsetzen zu wollen - scheint mir kein Signal in eine unbequeme Richtung zu sein. Dabei ist das Unbequeme die einzige Bequemlichkeit, die sich die Kunst erlauben darf.

profil: Sie arbeiten seit fast 30 Jahren in der österreichischen Kulturlandschaft. Wie unterscheidet sich das Damals vom Heute?

Heller: ​​​​​​​Es war soviel Hoffnung dazwischen. In den sechziger Jahren waren wir von einer verkarsteten ÖVP-Alleinregierung umzingelt. Dann kam eine Strecke mit Kreisky, in der wir das Gefühl hatten, jetzt bricht nicht nur ein neues Zeitalter, sondern eine Neuordnung von Welt über uns herein. Sich nicht fügen, wach zu sein, wurde zu einer schönen, weitverbreiteten Möglichkeit. Das Schlüsselwort hieß: Bewusstseinserweiterung. Und es gab Belege für diese Haltung: zwischen Bloch, Zappa und Brodas Strafrechtsreform, um wahllos etwas zu nennen. Das ist dann immer mehr verflacht, und jetzt haben wir unter anderem Traurigen einen enormen Rückschritt an Zivilcourage, eine Art listige Dumpfheit, auch im Kulturbetrieb. Bei uns hat der Kulturbetrieb im Großen überhaupt keine Vorreiter-, sondern eine Mitreiterrolle. Das ist unerträglich.

profil: ​​​​​​​Was werfen Sie den Kulturschaffenden konkret vor?

Heller: ​​​​​​​Es gilt zum Beispiel innerhalb des Kulturbetriebs ausgerechnet zur Zeit höchster Arbeitslosigkeit, ökologischer Schwerverwundung und gleichzeitig gröbster Schwarzweiß-Vereinfachungen bei den angehimmeltsten Politikern wieder als reaktionär, darüber nachzudenken, wie man möglichst viele Menschen erreichen und verfeinern kann. Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre verstanden wir zum Beispiel, dass Rockmusik eine Möglichkeit war, Millionen Leute mit interessanten Hinweisen zu erreichen. Oder wir produzierten mit Fernsehsendungen wie "Wünsch Dir was" Massenunterhaltung, die Zwischentöne hatte, heiße Eisen angriff, skandalisieren wollte und sollte und summa summarum ziemlich effektiv linksliberale Ermutigungen transportierte.

profil: Die Hoffnungsfiguren wie Scholten oder Peymann verschwinden. Geht mit ihnen auch die Hoffnung?

Heller: ​​​​​​​Figuren wie Scholten, Peymann, Jelinek haben ein Weltbild. Sie wissen mühelos, daß es Zaire gibt und daß dort tagtäglich etwas Gravierendes stattfindet; oder daß etwa in Bogota Phantasie-Intensivstationen bestehen, deren Wahrnehmung uns nicht schlecht täte. Doch wir werden per saldo - während wir der EU angehören - gleichzeitig immer provinzieller. Merkwürdig. Es würde mir deshalb gefallen, wenn jemand wie Viktor Klima verstehen würde, daß man sich auch fortwährend mit ziemlich extremen Erfahrungen und avantgardistischen Positionen vernetzen muß, um zu verstehen, was die Welt tatsächlich bedeutet, in der man lebt.

profil: ​​​​​​​In Wirklichkeit findet das Gegenteil statt.

Heller: ​​​​​​​Ja, natürlich findet das Gegenteil statt. Privilegierte Leute wie ich haben die wunderbare Möglichkeit, Österreich als eine hübsche Jausenstation zu sehen, in die man manchmal einen Ausflug macht. Aber unter den feinnervigen Begabungen, die wirklich hier leben müssen, gibt es derzeit ein Maß an Verzweiflung, das wahrscheinlich die für die Temperaturen im Kulturbetrieb Verantwortlichen nicht einmal andeutungsweise erahnen.

profil: Verzweiflung zu Recht?

Heller: Überaus zu Recht. Denn wenn viele dieser Verantwortlichen in der Früh aufstehen, wissen sie leider gar nicht, wofür sie sich theoretisch interessieren könnten. Es ist ja ein ziemlich katastrophales Ereignis, wenn ich von der Existenz einer Friederike Mayröcker, Marie-Therese Kerschbaumer oder eines Anselm Glück überhaupt nichts weiß, weil ich Werner Schneyder oder Karl Heinrich Waggerl für die wesentlichsten und klügsten Autoren der Jetzt-Periode halte.

profil: ​​​​​​​Warum sind Bildung und Interesse inzwischen selbst im Bildungsbetrieb etwas Obsoletes geworden?

Heller: ​​​​​​​Wir haben in diesem Land die Qualität sehenden Auges vertrieben, ab dem Jahr 1934 in unterschiedlichen Lautstärken und ab 1938 ohne jeden Widerspruch. Weg mit allem, was wunderbar ist. Zerstören, töten, vertreiben. Im Jahr 1945 ist aber niemand auf den Knien des Herzens zurückgebeten worden, sondern man war sich vielleicht darüber einig, daß es ein Glück fürs Land ist, daß die Nazis jetzt besiegt sind - aber auch, daß die Nazis eine ganz gute Sache gemacht haben, nämlich alles, was widerspruchsvoll und unbequem war, zu vertreiben. Jetzt waren wir sozusagen kulturell prachtvoll mittelmäßig, ohne dafür Nazis genannt zu werden - aber eben auch ohne diesen Störfaktor des Hochkarätigen. Und die zweite und dritte Garnitur konnte endlich entspannt erste spielen.

profil: ​​​​​​​Aber zwischen damals und heute war ja was.

Heller: ​​​​​​​Die Theorie geht ja weiter. Bis in die achtziger Jahre haben ein paar Restposten, die sich im Gewölbe hinten gefunden haben, überlebt. Große Persönlichkeiten wie Hilde Spiel. Gelegentliche Besucher wie Elias Canetti. Nehmen wir als Beispiel diese beiden, die sich nicht sehr mochten, als Atolle, um die herum sich bestimmte Qualitäten von Gedanken und Gesprächen bilden konnten. Mit ihrem Abgang senkte sich das Niveau wiederum. Denn solange in einer Stadt noch 60 Personen sind, die von jemandem, der Maßstäbe hat, in die Pflicht genommen werden, ist das gesamte Niveau ganz anders, als wenn diese 60 Personen zwar noch da sind, aber nicht mehr in die Pflicht genommen werden. Damit ist eine Art von Endsieg des 38er Jahres überhaupt erst perfekt.

profil: ​​​​​​​Wie beurteilen Sie das Niveau der österreichischen Politiker, etwa im neu besetzten Kulturressort?

Heller: ​​​​​​​Man kann dem Herrn Wittmann nicht vorwerfen, daß er sein Amt hat. Er kennt seine Überforderung mittlerweile selbst am besten. Man muß sich vielmehr fragen, warum ein Land, das sein kulturelles Selbstverständnis in diesem Jahrhundert irgendwo zwischen Loos, Gerstl, Schönberg, Karl Kraus und Wittgenstein geordnet hat, kulturpolitisch nicht mindestens durch jemanden vom Format eines Peter Huemer oder Rudolf Burger repräsentiert wird. Da muß doch jemand sein, der weiß, wer Baselitz oder David Byrne sind und der mit dem George Steiner ein gelungenes Gespräch führen kann.
 

profil: Aber auch die Medienlandschaft verändert sich nach diesen neuen Regeln. Die Fellner-Brüder etwa liefern sich ständig wiederholende Schlüsselreize, und viele machen es ihnen nach, statt gegenzusteuern.

Heller: Wenn die Fellners einen Peter Pelinka als "News"-Chefredakteur nehmen, beweist das immerhin einen Quantensprung in ihrem Denken - reden wir lieber darüber, daß die Chefs der ehemals "Neuen Freien Presse", deren Feuilleton Theodor Herzl leitete, den Herrn Unterberger als Chefredakteur für akzeptabel halten. Auch das hat unmittelbar mit den Hitler-Folgen zu tun. Wir haben keine bedeutende Leserzahl, die Qualität einfordert, wie zum Beispiel in der Schweiz, in Spanien und in Frankreich, und wir haben kaum unpeinliche Journalisten. Die Journalisten sind natürlich samt ihren Herausgebern genauso in das populäre "Kein-Weltbild" verliebt und als Draufgabe größtenteils vollkommen opportunistisch. Wir befinden uns alles in allem im galoppierenden, reinsten Marketingdenken.

profil: Scholten und Pasterk verstanden ihre Ressorts noch als Ideologie-Ressorts.

Heller: Ja, Entschuldigung, die sind auch für ein bestimmtes Parteiprogramm gewählt worden. Nur ist das Grundsatztreue schon so weit weg vom Denken der meisten Österreicher, daß die sich empören, wenn einer die vernünftigen Haltungen, die unter Umständen in seinem Parteiprogramm stehen, auch vertritt, wenn er gewählt ist. Ich finde es einen Skandal, wenn er sie nicht vertritt. Welche Anrüchigkeit es bekommen hat, wenn einer sagt, ja, ich glaube fundiert an etwas, ist verrückt.

profil: Junge Leute engagieren sich im Pop, im Fernsehen, in neuen Medien. Glauben Sie, daß diese Kräfte in die Politik, in die Literatur, ins Theater nachrücken werden?

Heller: ​​​​​​​Ich glaube, daß das Theater eine sterbende Institution ist, wenn nicht von irgendwoher Autoren nachwachsen. Ich glaube, daß die Oper schon ein reines Museum ist, das ist auch in Ordnung. Ich verlange ja auch nicht, dass im Louvre zeitgenössische Arbeiten hängen. Ein gutes Opernhaus ist ein Louvre.
 

profil: Bei den Salzburger Festspielen versucht man aber gerade, der Oper mit modernen Mitteln neues Leben einzuhauchen.

Heller: So viele reden immer von Gegenwart und bemerken auf ganz befremdliche Weise nicht, was in der Gegenwart wirklich los ist. Als Peter Sellars vor ein paar Jahren den Franziskus von Assisi in Salzburg inszenierte, hieß es in den Feuilletons, daß damit ein Maßstab an Bühnenbild und Inszenierungskonzept gesetzt wurde, an dem die Oper in Zukunft nicht mehr vorbei könne. Das war eine Installation von 45 Videogeräten auf der Bühne der Felsenreitschule, wie man sie in jeder New Yorker Transvestitendisco bereits 15 Jahre vorher auswendig kannte.

profil: Wie muß das Theater der Zukunft ausschauen?

Heller: Ein guter Stand-up-Comedy-Mann ist nicht weniger wert als Kirsten Dene, und ein herrlicher Seiltänzer nicht weniger als Jessye Norman. Wir müßten zuerst einmal von unseren Vorurteilen Abschied nehmen. Abschied nehmen von jahrhundertelang gehüteten "Geschützten Borniertheits-Werkstätten". Dann müßten wir uns fragen: Was vermag Menschen subtil zum Lachen, zum Weinen, zum Staunen zu bringen? Warum sollte in einem Burgtheater der Zukunft nicht am Montag ein Film von Jarmusch laufen, am Dienstag eine bizarre Revue, am Mittwoch ein Thomas Bernhard, am Donnerstag Jacky Mason, der größte jüdische Kabarettist der Gegenwart, und am Freitag ein Ballett? Auch die Trennungen in Sparten sind etwas völlig Verrücktes. Wir brauchen sinnliche Erfahrungen, die uns Mut machen, unsere eigenen Probleme in Angriff zu nehmen. Dazu brauchen wir Kraft, die durch Lebenslust erzeugt wird. Dazu müssten wir wieder Maßstäbe haben, denn was ist zum Beispiel ein spannender, was ist ein lächerlicher Kabarettist? Man müsste den Unterschied zwischen Josef Hader und Joesi Prokopetz zutiefst spüren, nicht nur behaupten, oder den Unterschied zwischen August Walla und Leherb. Ohne Maßstäbe haben wir keine Hoffnung, und Maßstäbe muß man sich leider erarbeiten, die kann man nicht im Zehnerpack beim Billa kaufen. Das braucht Jahre und im Ernstfall natürlich auch Jahrzehnte. Wenn wir jetzt eine ganze Führungsgeneration bekommen, die diese Maßstäbe nicht besitzt, steht unsereins natürlich ein bissl verloren, staunend und fröstelnd vor diesem Phänomen, und manchmal reckt es uns auch ein wenig. So sehe ich es.