Foto von Agathe Rousselle in "Titan", dem zweiten Film der Französin Julia Ducournau. Der Film ist derzeit im Cannes-Wettbewerbsprogramm zu entdecken.
Kino

Cannes-Tagebuch 2021, Teil vier: Angriff auf die Gegenwart

Queerer Schocker, afrofuturistisches Musical: Das Festival in Cannes gewinnt politisch und ästhetisch an Kontur. Die französische Horror-Anomalie „Titane“ steht ganz oben auf der Favoritenliste.

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Für ein Medium, das auf sozialpolitisch Dringliches stets nur mit erheblicher Verspätung reagieren kann, wirkt der Autorenfilm bisweilen frappierend aktuell. Wie eine Replik auf die gewaltsamen Übergriffe gegen schwarze Menschen und auf die rassistischen Beleidigungen, denen sich jene drei englischen Nationalspieler, die ihre Elfmeter im Spiel gegen Italien nicht verwandeln konnten, in den Stunden und Tagen nach dem EM-Finale ausgesetzt sahen, erschien der Film „Neptune Frost“, der in Cannes am Montagnachmittag, keine 16 Stunden nach dem Ende des Fußball-Thrillers Premiere hatte: Der eigensinnige New Yorker Rapper, Schauspieler und Slam-Poet Saul Williams hat den Film gemeinsam mit der aus Ruanda stammenden Autorin Anisia Uzeyman als afrofuturistisches Underground-Musical inszeniert, als Widerstandsfantasie der arbeitenden Massen, die den Erzabbau in Zentralafrika besorgen, die Rohstoffe für die weltweit benötigte Unterhaltungselektronik sichern.

Der Name des fiktiven Königreichs Matalusa, regiert von dem „Martyr Loser King“, liegt phonetisch natürlich nahe an dem afroamerikanischen Bürgerrechtler Martin Luther King, dessen historischer Emanzipationskampf sich somit an der Basis dieses Films findet. Das Recycling gut gereifter Ideen ist „Neptune Frost“ eingeschrieben; tatsächlich hatte Williams schon 2016 eines seiner Alben „Martyr Loser King“ genannt, das nun den narrativen und musikalischen Grundstock des Films bildet. Bevölkert von intersexuellen Cyber-Punks und Krypto-Hackern, begleitet von tribalistisch-elektronischer Musik, versteht sich „Neptune Frost“ als Plädoyer für die schwarze Selbstermächtigung gegen Technoindustrie und neue Sklaverei. Das Ensemble bewegt sich in erfinderischen, aus Computermüll, Platinen und Tastaturen gefertigten Kostümen durch die Erzählung, die Gesichter ausgestattet mit Neon-Make-Up und Gittervisieren. Williams und Uzeyman, die sich als Regie-Duo „Swan“ nennen, gelingt eine antirassistische, gender-befreite Vision: ein Stück Low-Budget-Zukunftskino, das die Gegenwart konstruktiv attackiert.

Um fluide Geschlechtsentwürfe und futuristische Verstörung geht es auch in „Titane“. Zu entdecken ist dieser Film derzeit im Cannes-Wettbewerbsprogramm, das sonst vor allem auf etablierte Namen setzt, aber zwischendurch eben auch innovative Kräfte zum Zug kommen lässt. Der zweite Film der jungen Französin Julia Ducournau (ihr erster hieß „Raw“; er kreiste um eine Heldin, die am Verzehr von  Menschenfleisch erotischen Gefallen findet) ist eine Art Kurzschluss aus Psychohorrorstudie, der „Terminator“-Serie und David Cronenbergs finsteren Hymnen an das „Neue Fleisch“, an die libidinöse Energie von  Autokarosserien und -motoren (siehe „Crash“, 1996). Ducurneau treibt in „Titane“ ein kluges Spiel mit physischen Modellierungen und Versehrungen; vordergründig gibt sie die blutige Geschichte einer Serienmörderin wieder, die sich auf der Flucht eine männliche Identität zulegt und bei einem trauernden Vater (Vincent Lindon) unterkommt, der in ihr seinen Sohn wiederzuerkennen glaubt.

Die sich als „nichtbinär“ verstehende Schauspielerin Agathe Rousselle stellt die vielfach blessierte, äußerlich und innerlich traumatisierte Hauptfigur dar, deren Körper zu einem Schlachtfeld der Erweiterung ins Menschmaschinelle wird. Diese so ungeahnte Arbeit empfiehlt sich nachdrücklich für einen der Hauptpreise des laufenden Festivals. Sollte die Jury den überraschendsten Film im diesjährigen Programm mit der Goldenen Palme auszeichnen wollen: Er liegt ihnen nun vor. Sie werden ihn bis Samstag, wenn die Preisverleihung über die Bühne gehen wird, nicht vergessen können.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.