Georg Friedrich und Franz Rogowski in "Große Freiheit"
Kino

Cannes-Tagebuch 2021, Teil zwei: C’est la vie!

Wie man gänzlich unspektakuläres Erzählmaterial in kluges, mitreißendes Kino verwandelt: Cannes führt es vor.

Drucken

Schriftgröße

Les choses de la vie“, so nannte der Franzose Claude Sautet 1970 einen seiner bedeutendsten Filme. In ihm konnte man sehen, wie sehr die sprichwörtlichen „Dinge des Lebens“, gerade auch die unscheinbaren und alltäglichen, sich als Vorlage für gewaltige Kinoerlebnisse eignen. Noch das Geringste bietet dem Vergrößerungsglas dieses Mediums genug Angriffsfläche für kreative Manöver – Talent natürlich vorausgesetzt. Umgekehrt formuliert: Die wildeste Geschichte ergibt keinen guten Film, wenn die Inszenierung nicht mithalten kann. Der Norweger Joachim Trier, 47, braucht für die hohe Originalität seiner Seelenforschungsarbeit keine spektakulären Vorgaben. Seine – um die Goldene Palme der Filmfestspiele in Cannes 2021 antretende – jüngste Arbeit, ironisch betitelt mit „Der schlimmste Mensch der Welt“, berichtet in zwölf Kapiteln von der Selbstfindung und dem Beziehungsleben einer unsteten jungen Frau (Renate Reinsve). Und die britische Regisseurin Joanna Hogg, 61, setzt mit „The Souvenir: Part II“ (der erste Teil erschien vor zwei Jahren) die Adaption ihrer Erinnerungen an die eigene Jugend in den späten 1980er-Jahren, an erste Liebesenttäuschungen, familiäre Minidramen und die Schwierigkeiten ihres Filmstudiums fort.

Die Charakterdarstellerin Tilda Swinton, die bereits 1987 in Hoggs erstem Kurzfilm zu sehen war, tritt in beiden Teilen von „The Souvenir“ als ergraute Mutter auf, die ihr introvertiertes Kind (formidabel gespielt von Honor Swinton Byrne, auch im wirklichen Leben Tilda Swintons Tochter) zu behüten sucht. Hoggs punktgenaue Inszenierung vertraut sich den Faszinationskräften des Ensemble an, mit einem untrüglichen Sinn für Timing, Dialog und die Grenzerforschung zwischen Fiktion und Wirklichkeit an: ein früher Höhepunkt im Parallelfestival der „Quinzaine des Réalisateurs“ in Cannes.

Das Reisen durch die Schichten der Zeit ist dem Filmmedium eingeschrieben. Es zeichnet etwas Gegenwärtiges auf, fixiert es für die Zukunft, macht Vergangenes auf Knopfdruck reproduzierbar. Es blickt zurück, sachlich oder sentimental, in Liebe oder im Zorn. Die Geister verflossener Welten spuken durch das Kino. In der Programmschiene „Un certain regard“, abseits des Wettbewerbs, kam Donnerstagmittag der erste der beiden österreichischen Spielfilme, die sich im diesjährigen Programm finden, zur Premiere. Seine Erzählung beginnt 1968, im Jahr der angeblichen sexuellen Befreiung. Ein Mann sitzt hinter Gittern, nicht zum ersten Mal, 24 Monate Haft hat er diesmal ausgefasst wegen „widernatürlicher Unzucht“ – wegen homosexueller Tätigkeiten in einer öffentlichen Toilette. Von den Nazis war Hans seiner Neigungen wegen ins Konzentrationslager gezwungen worden, nach 1945 wurde er bruchlos zum Outlaw und Dauergast hinter Gittern.

Franz Rogowski spielt diesen Mann wie einen Heiligen, friedfertig nimmt er sein Schicksal an, bereit zu helfen, wo es geht, mit mildem Lächeln quittiert er die Zumutungen feindseliger Mitinsassen und sogar die Hölle der stockdunklen Einzelzelle. Rogowskis ungewöhnliches Charisma wird hier mit einem ganz anderen Schauspielstil konfrontiert und ergänzt: mit Georg Friedrichs ungleich rauerer, bodenständiger Sensitivität. Er stellt einen verurteilten, heroinabhängigen Mörder dar, der über die Jahre mit seinem Zellengenossen Hans eine Art Bund schließt, der sich allmählich in Liebe verwandelt.

Regisseur und Autor Sebastian Meise, 45, stellte zehn Jahre nach dem Geschwisterdrama „Stillleben“ und neun Jahre nach „Outing“, der dokumentarischen Studie eines verzweifelt gegen sein Begehren kämpfenden Pädophilen, in Cannes nun also seinen dritten Film vor: „Große Freiheit“, eine sehr kontrolliert in Szene gesetzte Charakterstudie, einen bewusst reduzierten Liebesfilm, der durch die Zeitschichten springt, aber die grauen Mauern der Haftanstalt erst im Finale hinter sich lassen kann. Mit der späten Abschaffung des Paragrafen 175, der homosexuelle Handlungen ächtete und im deutschen Strafgesetzbuch bis 1994 gültig war, endet der Film nicht. Die große neue Freiheit, die diese Gesetzesänderung dem stillen Hans verschafft, verblasst vor der Intimität, die er mit seinem Geliebten teilt. Das Cannes-Publikum wusste „Große Freiheit“ jedenfalls zu honorieren: Mit minutenlangen Ovationen für Meise und sein Team endete die Vorführung.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.