Die Corona-Krise wird den Kinobetrieb nachhaltig beschädigen

Die Kinos sind geschlossen, alle Filmfestivals abgesagt. Was wird vom Erlebnis des kollektiven Filmsehens bleiben? Stefan Grissemann über den Verlust einer einzigartigen Kulturtechnik.

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Die Jubelmeldung klang zwiespältig, sogar bitter. Mitte vergangener Woche gab das Hollywood-Studio Universal bekannt, dass es mit einem Video-on-Demand-Angebot, das als programmierter Blockbuster eigentlich den großen Kinos zugedacht war, Rekordeinnahmen verbuchen konnte. Das neonfarbene Computeranimationsspektakel "Trolls World Tour", das infolge weltweit kaum noch verfügbarer Kinosäle in den USA und in Teilen Europas am 10. April als Netzpremiere gestartet wurde, brachte unerwartete Ergebnisse: Trotz weitgehend desillusionierender Rezensionen und trotz des stattlichen Online-Ticketpreises von 20 Dollar (in Europa: 15 Euro) fand sich für die synthetischen Trolls ein Massenpublikum, das in kaum drei Wochen allein im nordamerikanischen Raum mehr als 100 Millionen Dollar an Rückflüssen generierte.

Kulturkrieg in US-Filmbranche

Es war abzusehen, welche Denkprozesse ein solcher finanzieller Zwischenerfolg bei den Studiobossen auslösen würde. So gab Universal-CEO Jeff Shell neulich seine Entscheidung bekannt, aktuelle Filme nach der Krise zeitgleich in die (verbliebenen) Lichtspielhäuser zu bringen und ins Netz zu stellen - und eben nicht mehr, wie früher, ein paar Wochen oder gar Monate mit der digitalen Auswertung zuwarten zu wollen. Ein Kulturkrieg tobt seither in der US-Filmbranche: Die Kinokette AMC Theatres sowie die Vereinigung amerikanischer Kinobesitzer sprachen umgehend einen Bannfluch über alle künftigen Universal-Produkte aus, während das Unternehmen selbst beteuerte, weiterhin "absolut an die Kinoerfahrung" zu glauben. Aber Lippenbekenntnisse können nicht darüber hinwegtäuschen, dass parallele Online-Filmstarts die Kinos weiter entvölkern und auf Dauer in den Ruin treiben werden.

Allerdings ist die Rede vom Tod des Kinos, wie wir es kennen, mehr als ein Jahrhundert alt. Schon Louis Lumière, Miterfinder der ersten Apparate, die Laufbilder speichern und projizieren konnten, lag mit seinem Verdikt, diese Maschinen seien "eine Erfindung ohne kommerzielle Zukunft", erstaunlich daneben. Als in den späten 1920er-Jahren der Tonfilm zur Norm wurde, sagte man dem Kino erneut ein baldiges Ableben voraus; dasselbe geschah, als sich das Fernsehen global durchsetzte. Die düsteren Prognosen erfüllten sich nie. Das sinnliche Vergnügen, die Früchte eines technisch immer höher aufgerüsteten Mediums auf monumentalen Leinwänden und im Beisein Gleichgesinnter zu bestaunen, bleibt einzigartig - auch wenn es unter dem Druck allgegenwärtiger virtueller Laufbildangebote zuletzt an Attraktivität zu verlieren schien. Aber gegenwärtig ereignet sich etwas unvergleichlich Destruktiveres, das dem Kino seine Existenzberechtigung entziehen könnte.

Verschiebung ins Private

Die Kultur verschiebt sich in diesen Wochen notgedrungen ins Private, in digitale Museumsrundgänge, gestreamtes Theater und virtuelle Heimkonzerte. Man kann das als kreative Ausweichbewegungen während einer globalen Krise romantisieren, doch die Schubkraft, mit der sich dieser Prozess vollzieht, erscheint bereits jetzt kaum noch umkehrbar. Unsere Wahrnehmung dessen, was wir audiovisuelle Unterhaltung nennen, hat sich binnen weniger Monate fundamental verändert. Die Einübung ins digitale Filmschauen als eine scheinbar probate Alternative zum einstigen Kinobesuch ist abgeschlossen; es wird schwer werden, vom sorgenfreien Streaming, an das wir uns mit dem Ende des Corona-Spuks endgültig gewöhnt haben werden, wieder wegzukommen.

Denn den meisten Filmkonsumenten ist nicht ansatzweise bewusst, wie entscheidend die kulturelle Erfahrung ist, die sie verlieren, wenn sie auf das Phänomen Kino verzichten. Die Vorführung eines Films in einem dunklen Raum, in dem ein paar Hundert Menschen mit geschärften Sinnen und von außen unerreichbar auf das Gezeigte und Gehörte reagieren, gründet nämlich -wenigstens idealerweise, wenn nicht gerade telefonierende, googelnde oder popcornschmatzende Beisitzer stören -auf das Prinzip der Immersion, der Versenkung, der vollkommenen Hingabe an eine künstlerische Versuchsanordnung. Erst im quasi hypnotischen Kinoerlebnis wird das Denken wirklich aktiviert, werden Assoziationen geweckt und verborgene Sehnsüchte mobilisiert. Es ist kein Zufall, dass halbwegs komplexe Kinofilme sich online nicht recht mitteilen können - und dass umgekehrt die lineare Dramaturgie vieler populärer Serien in den Programmen der Streamingdienste auch bei stark verringerter Konzentration so gut funktioniert; sie sind - bei aller Raffinesse ihrer Fertigung -oft auf Zerstreuung, auf schnelleren Effekt, auf Nebenbeibetrieb angelegt.

"Nur Chance mit einem neuen Konzept"

Vor ein paar Tagen wurde der Regisseur Edgar Reitz ("Heimat ") im Rahmen einer gespenstischen Gala des Deutschen Filmpreises, die ohne Gäste auskommen musste und bei der all jene, die gewonnen hatten, per Video aus privaten Wohnzimmern zugeschaltet wurden, mit einem Ehrenpreis gewürdigt. In einem Interview mit der Berliner "tageszeitung" orakelte Reitz, 87, dass es "das klassische Kino mit 20- und 22.30-Uhr-Vorstellungen nicht mehr lange geben" werde - "nach Corona erst recht nicht". Das Kino sei in einer Krise, wie es sie noch nie gegeben habe. "Was danach übrig bleibt, hat nur mit einem neuen Konzept eine Chance." Über diesen potenziellen neuen Weg schwieg sich der Meister leider aus, vermutlich, weil er ihn selbst nicht kennt.

Aber wer wird, selbst wenn die Kinos wieder öffnen und sich mit Abstandsplänen wappnen, in einem hochgespielten Klima der äußersten Bedrohung noch Lust darauf haben, mit anderen Menschen gemeinsam einen Film zu sehen, wo man das zu Hause doch ebenso gut machen kann? Ehe die laufende Viruskrise durch die großflächige Verfügbarkeit eines Impfstoffs beendet werden kann - und das wird, selbst sehr optimistischen Schätzungen zufolge, noch mehr als ein Jahr dauern -, ist eine Rückkehr zur alten Kinoroutine undenkbar. Aber daran, was 2021 oder gar 2022 von der Erinnerung an die Bedeutung der Praxis des öffentlichen Filmsehens noch übrig sein wird, wagt man nicht zu denken.

Der New Yorker Regisseur Paul Schrader, 73, als Drehbuchautor von Martin Scorseses legendärem Film "Taxi Driver" und selbst als wechselhafter, aber stets inspirierender Regiekünstler bekannt ("Mishima","Light Sleeper","First Reformed"), beschwor in dem Online-Kulturmagazin "Vulture" unlängst ein drastisches Bild herauf: Seit Jahren sei das Kino schwer angeschlagen, es "hing bereits an seinen Fingernägeln über einem Abgrund"- und jemand habe diese Fingernägel gerade abgehackt. Tatsächlich hat sich dieser Abschied bereits seit Langem angekündigt, er hat sich nun nur ungeahnt beschleunigt. Das Kino werde "spezialisiert" neu auftauchen, mutmaßt Schrader; es werde sich auf ähnliche Art wiedererfinden "wie Blues-Clubs und Symphonien" - als Liebhaberei für eine feinsinnige Elite also. Möglicherweise würden sich kleine Filmclubs, die in Partnerschaft mit avancierteren Streamingdiensten arbeiten, halten können. Nur Kinderfilmvorführungen werde es wohl immer geben, denn Eltern hätten naturgemäß das dringende Bedürfnis, ihren Kindern Spaß mit anderen Kindern zu gewähren. Schraders lakonisches Fazit: Er gehe davon aus, dass es in Zukunft nur noch virtuelle Filmfestivals mit digitalen roten Teppichen, Online-Kritikern und Zoom-Gruppen geben werde.

Das Kino als gesellschaftliche Kraft steht vor dem Untergang. Aber Disneyland wird leben.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.