Als ich 2010 in Dortmund ankam, war mir nicht klar, worauf ich mich einließ – ich wusste nur, dass mein Freund Kay, dessen Geschmack meinem ähnelte, der Musik in seinem Theater eine zentrale Rolle einräumen wollte. Und ich konnte entdecken, dass er ein äußerst neugieriger Mensch war, der Skepsis und Humor geschickt in den Dienst des Spektakels stellte. Nun, 15 Jahre später, kenne ich mich auf diesem Spielplatz einigermaßen aus – im Folgenden ein paar Gedanken zu all den Dingen, die hier gespielt werden.
Während wir 2019 an unserer apokalyptischen Oper „Dies Irae“ am Burgtheater arbeiteten, erhielt Kay den Zuschlag fürs Volkstheater, und ich war der Erste, den er bat, ihn dorthin zu begleiten. Ich sagte gerne zu, aber ich war etwas überrascht, dass Kay die Stelle angenommen hatte. Ich fragte mich, ob er es schaffen würde, die mit der Leitung eines solchen Hauses verbundenen politischen Herausforderungen mit den kreativen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen. Bei den Reisen in seinen geliebten amerikanischen Südwesten hatte Kay einst ein winziges, heruntergekommenes und verlassenes Wüstentheater entdeckt, von dessen Übernahme er gern scherzhaft sprach. Es schien nur eine Schnapsidee zu sein, aber je länger ich darüber nachdachte, desto entschiedener riet ich ihm, seinem Instinkt und seiner Leidenschaft zu folgen. Just go for it! Tat er natürlich nicht, das Volkstheater lag erst einmal näher.
Ambivalenz am Haus
Ich mietete eine kleine Wohnung, wenige Meter von der Nebenspielstätte Volx Margareten entfernt, wo wir unsere erste Produktion proben wollten. Vom Balkon meiner Wohnung aus hatte ich freie Sicht auf ein siebenstöckiges Haus mit einem Graffiti, das in drei Meter hohen Lettern das Wort „Ambivalenz“ buchstabierte. Der Bruno-Kreisky-Park war ganz in der Nähe, wo es öffentliche Hängematten und kostenloses Fahrradwerkzeug gab (beides undenkbar in den rauen Städten, die ich noch gewohnt war) und Kühlwasser-Nebelgeräte an heißen Sommertagen. An der Ecke gab es einen Pornoladen und ein Bordell, das, wie viele der interessanteren Geschäfte in Wien, die meiste Zeit geschlossen zu sein schien. Wie verdiente man hier seinen Lebensunterhalt? Musste man das nicht?
Wir mussten, aber unser Biotop, in dem kreative Menschen im subventionierten Stadttheatersystem zusammenarbeiten, ist einzigartig, erstaunlich und wunderbar; ich verstehe die staatliche Kulturförderung als eine Art Beweis für den zivilisatorischen Fortschritt. In den USA hat man entweder das Glück, mit einem Lied, einem Buch, einem Theaterstück oder einem Film einen Hit zu landen, oder man arbeitet in enervierenden Jobs, um seine Rechnungen zu bezahlen. Der Weg über die Schauspielschule zu einer großen Bühne existiert dort nicht. Es interessiert niemanden, ob man auf einer Schule war oder nicht. Nur 144 von fast 2300 US-Colleges und -Universitäten bieten Abschlüsse in Theater und Schauspiel an. Ich habe die Band Calexico nach Wien gebracht, um eine musikalische Version von Tennessee Williams’ „Camino Real“ zu schreiben und aufzuführen; Calexico-Frontmann Joey Burns hat immer wieder betont, wie sehr er es genieße, in einer Stadt zu sein, „in der Kultur offensichtlich so geschätzt wird“. Das Kulturbudget Wiens lag 2024 bei 338 Millionen Euro. Der Jahres-Kulturetat dieser Stadt ist damit fast doppelt so hoch dotiert wie der Subventionstopf des – nun auch von Donald Trumps Größenwahn existenziell bedrohten – National Endowment for the Arts, der einzigen staatlichen Bundeskulturförderungs-Institution der USA, eines Landes mit mehr als 340 Millionen Einwohnern. Hängt die Bedeutung der Kultur einer Gesellschaft von der Höhe des für ihre Förderung bereitgestellten Budgets ab?
Angesichts der gegenwärtigen politischen Spar-Kahlschläge dreht sich die Diskussion über Kultursubventionen darum, ob diese bloß Luxus oder doch ein Recht seien. Beides stimmt nicht, finde ich. Kultur ist ein wesentlicher Bestandteil des Menschseins. Sie prägt uns, kollektiv und individuell. Sie ist das, was wir gemeinsam schaffen. Die Vorstellung, dass es plötzlich keine Kultur mehr gäbe, wenn man alle Förderungen eliminierte, ist absurd. Kultur kann nicht nur ohne staatliche Unterstützung existieren, sie blüht und gedeiht sogar auch dann. Unsere Gesellschaft ist aber so spektakulär reich, dass glücklicherweise Geld für kreative Arbeit zur Verfügung steht. Von der Wirtschaft, der Industrie, den Nachbarn oder seinem Onkel abhängig zu sein, ist nicht einschränkender, als sich der Regierung verpflichtet zu fühlen. Der Lohn eines jungen Schauspielers, der in vier oder fünf Produktionen auftritt, sollte nicht unterhalb dessen liegen, was man bei McDonald’s verdienen würde, was im Stadttheatersystem aber oft der Fall ist.
Erfreuen wir uns doch daran, dass es eine öffentlich finanzierte Kultur gibt! Ich habe viele Pressekonferenzen in der Roten Bar erlebt, in denen das Programm für die jeweils kommende Saison präsentiert wurde. Ganz vorn saßen stets zwei namhafte Mitglieder der Wiener Kulturpresse. Diese beiden Herren beklagen fast alle Versuche, am Theater originell zu sein, und sie versuchen selten, ihre Leserschaft über Kontext oder gar Kultur aufzuklären. Sie sind vor allem daran interessiert, wie viel eine Produktion kostet und ob ihr Budget überschritten wurde. Sie sind besessen von Kasseneinnahmen und davon, wie viele Freikarten wir zur Verfügung stellen. Warum? Weil wir, wie sie Ihnen erklären werden, mit Steuergeld hantieren. Und sie haben ja recht. Theater in Wien wird in hohem Maß vom Staat subventioniert. Die erfolgreichste, ausverkaufte Show, die zwei Spielzeiten lang auf unserer Hauptbühne läuft, wird bestenfalls weniger Geld verlieren als eine Inszenierung, die achtmal vor halbvollem Haus gespielt wird. Ich finde es großartig, dass wir all diese Abende herstellen dürfen, ohne den kommerziellen Erfolg ins Zentrum stellen zu müssen. Der Haken ist nur, dass wir alle ständig auf Einspielergebnisse schielen, obwohl die Finanzierung immer da sein wird. Es ist, wie das französische Sprichwort sagt, ein Fall von „le cul entre deux chaises“: Man gerät zwischen zwei Stühle. Der Betrag, den das Publikum zahlt, ist nicht viel mehr als ein Rundungsfehler im Budget. Es ist, als gäbe es ein kollektives gesellschaftliches Schuldgefühl bezüglich der Subventionierung von Kultur. An einem Stadttheater sollten sämtliche Vorstellungen für alle kostenlos sein.
Proben ist politisch
Damit dieses System aber auch in Zukunft florieren kann, sollten wir uns das Beste aus der kommerziellen angloamerikanischen Welt leihen. Ich habe den Probenprozess, die gemeinsame Ideenfindung immer geliebt. Diese fließende Zeit des Entdeckens und Wachsens schweißt eine Performance-Gruppe eng zusammen. Sie ist von Natur aus auch politisch: eine lebendige Erwiderung auf Maggie Thatchers schockierendes Statement, dass es „so etwas wie Gesellschaft nicht gibt“. Und da die Premiere das erste Mal ist, an dem ein volles Haus mit dem Ensemble interagiert, erweisen sich bestimmte Änderungen oft erst dann als notwendig. Um das Publikumserlebnis sowie die Zukunftsfähigkeit und Relevanz des Stadttheaters zu verbessern, könnte man über ein paar grundlegende Änderungen nachdenken: Es sollten pro Spielzeit weniger Produktionen geplant werden. Die allfällige Verschiebung einer Premiere sollte nicht als Misserfolg gewertet werden. Manchmal könnte man sie sogar vorverlegen! Wie in London und New York üblich, sollten Vorpremieren ein Teil des kreativen Prozesses sein.
Nach wochenlanger Probenzeit findet eine Premiere statt, danach denkt niemand mehr an das Stück. Nie wieder. Nur das Ensemble und die Technik denken weiter drüber nach, da sie vor der mühevollen Aufgabe stehen, ihre Arbeit reproduzieren zu müssen, oft mit mehreren Wochen Pause zwischen den Aufführungen. Die Frische und Vielfalt des Repertoiretheaters ist ein exquisites Gegenmittel zum öden Kommerz von acht Vorstellungen desselben Stücks pro Woche. Andererseits ist eine tiefe Vertrautheit mit einem Werk nur durch Wiederholung möglich. Nur wenn man während eines Auftritts auch an die Dinge denken kann, die man im Haushalt noch erledigen muss, verwandelt sich Kompetenz in wahre Größe.
Es ist bemerkenswert, auf welch hohem Niveau bereits an deutschsprachigen Stadttheatern gearbeitet wird. Wie viel erfreulicher und erfolgreicher könnten die Ergebnisse mit ein paar kleinen Anpassungen noch sein! Ich bin Atheist, trage aber einen massiven Silberring mit dem Wort „Faith“ (Glaube, Vertrauen) an meiner Hand. Und es geht tatsächlich um Glauben: daran nämlich, dass die Leute kommen werden, auch wenn wir en suite spielen, daran, dass weniger mehr ist; es geht um Glauben an Flexibilität und Zusammenarbeit, lokal, national und international; um Glauben an Talent statt an Hierarchie und Referenzen; um den Glauben auch an die Bedeutung unserer Arbeit statt nur an deren Anerkennung durch öffentliche Gelder.
Kay Voges navigiert in diesem System so gut wie kaum ein anderer. Auf die Zusammenarbeit mit ihm in Köln freue ich mich. Und doch bin ich mir nicht sicher, ob der Weg in die Selbstständigkeit nicht der erfüllendere wäre. Wie das beispielsweise der britische Theaterautor und Regisseur Simon McBurney mit seiner Complicité-Truppe gemacht hat. Oder man bespielt eben doch einfach diese kleine Bühne in der Wüste, im Nirgendwo des amerikanischen Südwestens. Ich würde Kay dorthin zweifellos folgen.