Egon Christian Leitner

Egon Christian Leitner: Urschreibtherapie

Es ist hoch an der Zeit, dass der Grazer Schriftsteller endlich die große Leserschaft bekommt, die er verdient.

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Egon Christian Leitner lebt in Graz, wo die Stadt langsam ausfranst. Vor 20 Jahren hat er sich am zentrumsnahen Augartenpark für seine Schreibarbeiten und Ruhepausen in einer Praxis von Psychotherapeutinnen einquartiert. Im Park scheint an diesem Februartag die Sonne, als wisse sie nicht, dass noch Winter ist, und Leitner, 61, spricht darüber, wie er vor mehr als 40 Jahren mit dem Schreiben anfing. „Aus Notwehr und Nothilfe. Aus Lebensfreude“, sagt er auf einer Parkbank, charmantes Kopfwackeln und heiseres Zwischendurchlachen: „Das Wort ,retten‘ bedeutet ursprünglich: befreien. Als hoffentlich befreiend verstand ich auch das Schreiben. Und Schreiben natürlich mitunter als Schreien. Um Hilfe, für sich selber und für andere.“

Leitner liebt es, den Wörtern auf den Grund zu gehen, das Herkunftswörterbuch ist sein ständiges Handwerkszeug. Er wird an diesem Nachmittag noch viele Begriffe von ihren Wurzeln her erklären. Pseudoabgeklärte Schlaumeierei ist ihm ebenso sehr ein Gräuel wie superlativistischer Bombast. Besonnen und klar muss der Blick auf die Welt sein.

Der Humanist Erasmus von Rotterdam und der französische Soziologe Pierre Bourdieu sind seine Lieblingsbrüder im Geiste. Sein eigenes Schreiben sei „Stegreifübersetzen“: „Unvorbereitet mit der Wirklichkeit konfrontiert sein. Aus dem Bisschen, das man versteht und weiß, wird immer mehr – und dann, plötzlich, das Insgesamt, klar und deutlich.“ 

Leitner hat in den vergangenen Jahrzehnten eine veritable Literaturlandschaft erschaffen, die sich inzwischen auf über 2000 Druckseiten zu einem Ereignis ausbreitet, einem Statement, einem Lesefest. Dem großen und entsprechend weitverbreiteten Missverständnis vom Roman als literarischer Königsdisziplin wirkt Leitner mit seinen Textgebirgen zwischen Diarium und Dokumentation, Essay und Erinnerung, Witz und Widerspruch fröhlich entgegen, indem er immer neue Wege des Erzählens sucht und findet, die auf keiner Prosalandkarte verzeichnet sind. Mit dem sogenannten „Sozialstaatsroman“ schuf er sich konsequenterweise ein eigenes Genre.

Der Ausgangspunkt war das Sozialstaatsvolksbegehren im Jahr 2002. „Vorher habe ich natürlich auch gewusst, dass es ums und aufs Ganze geht“, sagt Leitner: „Der Genrebegriff ist mir in diesem Jahr eingefallen – und dass derlei für mich zu schreiben unausweichlich ist. Mein sozialstaatliches Ziel sei, schien mir, nicht anders erreichbar, weil über die diversen Defekte und Defizite schlicht und einfach sich niemand wirklich zu reden getraut hat.“

Vier Bücher umfasst der zwischen 2012 und 2021 publizierte Sozialstaatsroman mit dem schönen Übertitel „Des Menschen Herz“ samt kleinerer und größerer Ausflüge in die neuere und neueste Zeitgeschichte. „Monument“ wurde „Des Menschen Herz“ in einer Kritik genannt, was die Sache nur halb trifft. Leitner operiert nicht im Areal des Statuarischen, eher auf dem Spielfeld des Quicklebendigen.  

„Lebend kriegt ihr mich nie“, Teil eins des Sozialstaatsromans, handelt von Menschen in ihren Familien, von Leitners eigenem Kindheitsmartyrium mit einem Vater, der vor lauter Watschenausteilen Hornhaut auf den Handflächen hatte. Leitner führt seinen Schattenkampf mit dem Vater fort, in Bildern dunkler, schmerzender Intimität. „Er musste sich durchs Leben schlagen, mich auch“, schreibt Leitner.

An anderer Stelle: „Und wenn ich sehr allein war, tat ich so, als ob meine Finger Menschen wären, und dann war ich nicht so allein, sondern wir waren elf Menschen, die miteinander redeten und freundlich waren.“ Schließlich liegt der Vater sterbenskrank im Spital: „Als ich ihn besuchte, warf er mich hinaus. Er wolle mich nie mehr sehen. Ich solle ihn nie mehr besuchen kommen. ,Du und ich haben nichts mehr zu schaffen miteinander‘, sagte er. ,Mir graust vor dir!‘, schrie er.“

Leitner arbeitet auch als Kranken- und Flüchtlingshelfer. Der Folgeband „Furchtlose Inventur“ berichtet von karitativen Hilfseinrichtungen, die viele Menschen vielleicht irgendwann brauchen werden – ein Buch als Nachschlagewerk und Navigator durch die Aufs und Abs fremder Lebensläufe. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, notierte der Philosoph Martin Buber. „Menschen einander verständlich zu machen, gehört sowieso zum Schönsten“, sagt Leitner.

Das ganze Ausmaß des Glücks wie des Unglücks entfaltet sich erst, wenn diejenigen, die es betrifft, sichtbar werden. In „Des Menschen Herz“ lässt Leitner Aberhunderte Zeitgenossen vor den Vorhang treten, in ganz eigener Balance zwischen Nähe und Distanz, in seltener Konsequenz und Kompromisslosigkeit. „Kompromiss heißt wortwörtlich: zusammen einander etwas versprechen und das dann auch halten“, sagt Leitner im Augartenpark, während die Enten auf dem Wasser ihre Runden ziehen. „Dafür bin ich sehr. Ich war stets gegen das Im-Stich-Lassen und das Unwahr-Reden, Verletzen, Schaden. Mein Plan war immer nur, dass am Leben geblieben werden kann. Von anderen wie von mir.“

Das Kernstück des Projekts Sozialstaatsroman sind Leitners Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 2004 bis zu dem Abschlussband „Ich zähle jetzt bis 3 und dann ist Frieden“ (2021). „Journal für aktuelle Ewigkeitswerte“ nennt er dieses wunderbar-wunderliche Sammelsurium aus Aufgeschnapptem und Aufgelesenem, Reflexionen und Maximen („Pataphysische Thesen“).

„Alternativzeitung“ sagt Leitner zu seinen Aufzeichnungen im Park. Die Nöte und Zwänge quer durch Milieus und Metiers treiben ihn auch in diesem Abschnitt um: „Man darf die Leute nicht verrückt machen, und man darf sie nicht im Stich lassen. Das ist alles. Die ganze Kunst ist das.“ Ein Brevier zum Besseren.

Literatur als Satz-, Zitat- und Wortschatztruhe für den Langzeitgebrauch: „Ich habe keinerlei Plan. Nur gut ausgehen soll alles. Früher höre ich nicht auf.“ – „Alles Besondere ist 08/15.“ – „Einer sagt: ,Entscheiden Sie sich!‘ Und ich verstehe aber: ,Entscheißen Sie sich!‘“ – „So nicht und so auch nicht. So, und was jetzt? Immer freundlich bleiben.“ So geht das Seite um Seite, mal zeilenkurz, dann wieder seitenlang. Das letzte Wort in „Ich zähle jetzt bis 3“ nach über  1000 Seiten Leitner-Literatur gehört Karl Valentin, einem weiteren Geistesbruder: „Und zum Schluss muss ich schlusseln.“ Gut geschlusselt. 

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.