Für „Sirāt“ legten Letellier und Laxe es darauf an, „Bilder und Musik zu einer Synästhesie zusammenzuschließen“, um der Story, die sich auf in eine immersive Erfahrung auflöst, zu entsprechen. Die Musik sollte nichts „begleiten“ oder „unterstreichen“, wie das im Hollywoodfilm üblich ist. „Wir konzipierten das wie ein Kunstinstallation. Es beginnt mit Techno, der sich immer mehr in etwas Spirituelles, in Ambient-Klänge auflöst.“ Der elektronische Soundtrack habe sich als ungeahnt mehrheitsfähig erwiesen. „Wir haben das System an dieser Front gehackt. Wir erreichen plötzlich auch Leute, die gedacht hatten, elektronische Musik sei unauthentisch oder bloß Lebenserleichterung für Drogenabhängige. Wir haben die Musik so sehr in den Film integriert, dass sie von ihm nicht zu trennen ist.“
Auf Wüsten-Techno-Festivals wie dem im Film anfangs dargestellten hat auch Kangding Ray, eigentlich eher in Clubs wie dem Berliner Berghain daheim, gespielt. Er trat am Land, in den Bergen, 2019 auch in der marokkanischen Wüste auf. Die Musik verändert sich an solchen Schauplätzen radikal: „Ich nenne das Wüsten-Techno: Es ist ein hypnotischer, psychedelischer Klang.“
Wie reagiert einer, der selbst mit digitalen Zufallsklängen arbeitet, auf Musik, die von künstlicher Intelligenz (KI) hergestellt wird? Eine KI müsse ja erst trainiert werden, sagt Letellier. „KI-Musik existiert nur, weil es schon davor Musik gab. Die KI erfindet nichts selbstständig. Die Tracks, die sie generiert, kommen aus einer Welt, die sich unaufhörlich selbst wiederaufbereitet.“ Daher glaube er nicht daran, dass KI musikalische Durchbrüche ermöglichen werde; „sie wird nichts Neues produzieren können.“ Es sei eben viel einfacher, durchschnittliche Musik herzustellen. „Aber die Frage ist nicht, ob künstlich generierte Musik gut oder schlecht sei, sondern: Warum gibt es sie überhaupt? Brauchen wir noch mehr synthetische Klangproduktionen? Es ist ja nicht so, dass uns elektronische Kompositionen ausgehen würden. Auf Spotify erscheinen jeden Tag 200.000 neue Tracks. Brauchen wir fünfmal so viele?“ Er misstraut dieser Idee der „Ultraproduktion“.
Die Logik der KI ist die der Konzerne, die sie entwerfen. Sie spart Kosten. Man muss Kangding Ray nicht erst anheuern, um Musik im Stil von Kangding Ray zu erhalten. Letellier bleibt davon unbeeindruckt: „Klar, wir alle sind ersetzbar. Aber wenn die Industrie alles aufsaugen und nichts übriglassen will, wird sie sehr bald keine Klientel mehr haben. Eine sehr intelligente Strategie scheint mir das nicht zu sein. Sie könnte kurzfristig aufgehen, aber langfristig wird sie nicht gewinnträchtig sein.“ Natürlich könnte jemand mit KI-Assistenz sich seine musikalischen Vorgaben aneignen; aber es würde etwas Entscheidendes fehlen: der Prozess nämlich, „der Kampf um eine Vision, die Freude an der künstlerischen Kreation, all die Zweifel und Gefahren, die für die menschliche Erfahrung grundlegend sind.“
Kangding Rays Musik ist großteils mechanisiert: Er verwendet auch aleatorische Systeme, willkürlich geordnete Klangerzeugung. „Aber ich habe die Kontrolle darüber. Ich liebe es, den Maschinen Raum zu geben, aber am Ende treffe ich die Entscheidungen.“ Mit Synthesizern arbeite er auch deshalb so gern, weil die Geräte das Ego des Komponisten kleinhalten, das künstlerischer Integrität und Ehrlichkeit im Weg stehe. „Diese Instrumente helfen einem dabei, weniger eitel zu arbeiten. Aber die gänzlich automatisierten Zugriffe der KIs verhinderten auch dies: Kunst ohne künstlerische Prozesse, das sei eben letztlich nicht denkbar.