Sein Ensemble, das zum Großteil aus Laien- und Selbstdarstellern besteht, hat Laxe bei Raves gefunden, bei Musikfestivals im Nirgendwo der afrikanischen Wüsten. „Wir mussten von dieser Community erst akzeptiert werden, ihr Vertrauen gewinnen. Sie wollten korrekt repräsentiert, nicht karikiert werden.“ Er selbst lebe schon seit 20 Jahren in keiner Stadt mehr, erklärt Laxe. „Club Culture interessiert und betrifft mich nicht, auch weil es in meiner Nähe keine Clubs gibt.“ Er habe zehn Jahre in Marokko gelebt, jetzt lebe er am Land in Galizien, wo er herkomme. „Ich mag an der Rave-Kultur, dass sie mit der Welt derart verbunden ist. Die Raver, die ich kenne, neigen nicht zu neurotischer Selbstidealisierung, sie zeigen lieber ihre Wunden und Narben, ihre inneren und äußeren Verstümmelungen.“ Als Filmemacher mache er das ganz ähnlich, er stehe zu den eigenen Wunden, zu seiner Fragilität. „Mein Film zeigt, dass das Leben die Egos zerschmettert, einem ins Gesicht schlägt. Das hat die Leute, von denen ich erzähle, bescheiden und reif gemacht. Wir müssen erst an unseren Nullpunkt kommen, um freie Menschen werden zu können.“ Und Laxe wählt eine paradoxe Formulierung: „Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht frei sind, um frei sein zu können.“
Emotionale Fallhöhe
Die spirituelle Reise seiner Figuren hat er, wie immer, analog, auf Super-16mm-Film gedreht. Aber er verlangt seinem Publikum einiges ab. Die Dinge, die zur Mitte des Films und an seinem Ende stattfinden, müssen hier ungenannt bleiben, um seine Wirkung nicht einzuschränken, nur so viel sei angedeutet: Der gewaltigen emotionalen Fallhöhe, mit der Laxe hantiert, ist kaum gerecht zu werden. Natürlich fürchte auch er, sagt der Regisseur, dass sein Publikum in diesen drastischen Momenten aussteigen könnte. „Aber darum dreht sich Kunst doch: sich auf dünnem Eis zu bewegen, am Abgrund zu stehen, der Absturzgefahr ins Auge zu blicken.“ Er kalkuliere die Härte seiner Erzählung nicht, habe aber seine Absichten sehr genau erforscht – „und ich weiß, dass ich kein Sadist bin. Ich will dem Publikum bestmöglich dienen. Ich bin 43 Jahre alt, ich bin kein Nihilist, ich bin gläubig und sicher, dass meine Intentionen gut und richtig sind.“ Das habe ihm das Vertrauen gegeben, diese Szenen zu drehen.
Laxe spricht von „konstruktiver Härte“ und verweist auf den Psychiater Viktor Frankl, der in seinen KZ-Memoiren „… trotzdem Ja zum Leben sagen“ (1946) zur Erkenntnis gekommen sei, dass uns erst die Grenzen, die uns gesetzt werden, wirklich läutern. „Denken Sie an die Menschen, die 1972 nach einem Flugzeugabsturz 72 Tage in den Anden verbringen und ihre Toten essen mussten, um zu überleben; viele von ihnen wollten später zu diesem so einschneidenden Moment zurück. Sie vermissten das Erleben des Todes unter diesen unvorstellbaren Umständen. Denn nie waren sie stärker mit dem Leben verbunden als in jenem Moment.“ Erst durch die direkte Konfrontation mit dem Tod, meint Laxe, erreiche man eine andere existenzielle Ebene, werde dieser „starke Dialog mit dem Leben“ möglich.
Auch wir beide werden sterben, lacht Laxe noch. Insofern sei es gut, täglich über den Tod zu meditieren, ihn kennenzulernen. Und nirgendwo könne man metaphysische, existenzielle Erfahrungen sicherer als im Kino machen. Wo man allerdings gemeinhin heikle Naheverhältnisse zu Theater, Literatur und Fernsehen hege. „Ich kann Bilder herstellen, die wie Worte funktionieren. Sie erzählen, an und durch sich. Ich brauche keine große Story, denn meine Bilder sind machtvoll, sie evozieren mehr noch, als sie zeigen.“ Natürlich könne man auch „klarer“ argumentieren, Figuren „entwickeln“. Aber „die Stille dieser Menschen, ihre Gesichter, ihre Gesten charakterisieren sie. Ich muss nichts mehr erklären, keine Beziehungen erläutern und Hintergrundgeschichten liefern.“
Eine Art „Mad Max Zero“
Laxes Kino erscheint fremd, im gleichen Maß konkret und abstrakt. Die Allegorien, die er entwirft, treten hinter den Körpern, Landschaften und Gesichtern zurück. „Sirāt“ ist auch ein Spiel mit den vielfältigen Krisen der Gegenwart, mit der eskalierenden Konfrontation von Mensch und Natur, mit den Schrecken der Migration. „Mein Kino ist geerdet, in der Wirklichkeit fixiert.“ Daran hat auch der vorantreibende Electro-Soundtrack Kangding Rays wesentlichen Anteil. „Die Balance von Transzendenz und Erdigkeit ist schwierig zu finden. Am Set scherzten wir immer, dass wir eine Art ,Mad Max Zero‘ drehten, eine Gegenwartsversion jener apokalyptischen Abenteuerreise. Der Existenzialismus hält die Tür zur Metaphysik weit offen.“
Als Künstler bewege er sich gern auf Wegen, für die es keine Landkarten gebe. „Nur der Blick nach innen kann uns transzendieren.“ Als Künstler könne er Erfahrungen vermitteln, „die wir real niemals hätten“. Die meisten von uns lebten „extrem thanatophob“, verdrängten aus panischer Angst den nahenden Tod. „Wir weigern uns, nach innen zu schauen. Weil es schmerzhaft ist.“
Ob er „Sirāt“ als einen letztlich religiösen Film begreift? Ja, sagt er, nach ein paar langen Sekunden des Nachdenkens. Das lateinische „religare“ bedeute ja „verbinden“ – und das ist es, was auch die Kunst praktiziere; man bindet aneinander, was getrennt erscheint, aber zusammengehört.
„Mein Film ist verbunden mit den heiligen Heldensagen, mit dem Gilgamesch-Epos und der Legende der Gralssuche etwa. ,Sirāt‘ ist wie diese ein Epos, ein physisches, zugleich metaphysisches Abenteuer, das all jene, die es erleben, nach innen blicken lässt. Das ist wichtig. Denn es ist das einzige Instrument, das wir besitzen.“