Älterer Mann mit Brille fasst sich ans Kinn
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„Erdoğan wird eine Ruine hinterlassen“: Investigativlegende Can Dündar im Interview

Der türkische Dissident Can Dündar hat einen Mordversuch überlebt, inzwischen arbeitet er im Berliner Exil. Demnächst wird er bei einer profil-Veranstaltung in Wien über den Film „Narben eines Putsches“ sprechen. Interview mit einem Optimisten.

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Von den Spuren der Geschichte, die sich im Körper ihres Mannes finden, geht diese Erzählung aus: Nathalie Borgers’ Essayfilm „Narben eines Putsches“ ist eine persönliche Tiefenbohrung in die türkische Historie. Borgers, die aus Belgien stammt, ergründet die Ereignisse, die im September 1980 in einen Militärputsch mündeten, der die Demokratieträume der liberalen Türkei zunichtemachte. Die Traumata ihres Partners, mit dem sie in Wien lebt, sind auch 45 Jahre später noch präsent: Abidin Ertuğrul war in den 1970er-Jahren Teil der antifaschistischen Studentenbewegung in Ankara, bei einem Schusswaffenattentat wurde er schwer verletzt.

Ein Mann und eine Frau sitzen in einem Wohnzimmer nah nebeneinander.
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Am 12. September jährt sich der Beginn des Putsches zum 45. Mal. An jenem Abend werden, im Rahmen einer profil-Veranstaltung, Nathalie Borgers und Abidin Ertuğrul im Wiener Filmcasino eine Vorführung ihres Werks begleiten – und mit dem legendären türkischen Investigativjournalisten und Dokumentaristen Can Dündar, 64, ins Gespräch kommen.

Auch er hat die antidemokratische Repression in seinem Land am eigenen Leib zu spüren bekommen. Präsident Erdoğan ließ Dündar im November 2015 wegen dessen Enthüllungsartikeln festnehmen, im Mai 2016, während das Gerichtsverfahren gegen den Journalisten lief, entging dieser nur knapp einem Anschlag, dem Versuch seiner Erschießung. Im Sommer 2016 floh der zu sechs Jahren Haft verurteilte Dündar nach Deutschland, wo er seine journalistische Arbeit fortsetzte. Seit 2017 ist er Chefredakteur der mit dem Investigativ-Zentrum „Correctiv“ kooperierenden Online-Plattform „Özgürüz“.

Lächelnder Mann, Hände in seinen Hosentaschen, lehnt an einer Betonwand
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Wie haben Sie auf den Dokumentarfilm „Narben eines Putsches“ reagiert? Erinnert das Schicksal des Protagonisten Sie auch an Selbsterlebtes?

Can Dündar

Natürlich. Ich habe den Film mit meiner Frau gesehen, wir haben beide geweint, uns an die Tage erinnert, als unsere Freunde gefoltert wurden. Und wir haben erkannt, dass auch unsere Wunden, obwohl so viele Jahrzehnte vergangen sind, immer noch bluten. Ich war damals 19 Jahre alt. Wir leben immer noch mit diesen Erinnerungen und diesen Narben.

Sie waren mit 19 bereits politisch aktiv?

Dündar

Nein, ich war Journalist. Es war mein zweites Jahr in diesem Beruf. Plötzlich befand ich mich in einer Situation, in der ein Militärputsch stattfand. Und ich habe darüber berichtet. Mir kommt der Film auch deshalb so vertraut vor, weil ich dabei war, als Kenan Evren, der Anführer des Putsches, seine erste Pressekonferenz gab. Und ich war im Gerichtssaal, als das Militär Menschen vor Gericht stellte, darunter auch meine Freunde, ich habe ihre Verhandlungen verfolgt. Es war schockierend, das nun wieder zu sehen.

Das ist genau 45 Jahre her. Davor hatte in der Türkei eine Art Bürgerkrieg geherrscht?

Dündar

Ja. Und die Menschen hatten diesen Bürgerkrieg satt, lebten in großer Angst. Deshalb unterstützten viele die Armee. Das kommt im Film nicht vor, aber es gab starke Unterstützung für die Soldaten.

Auch in liberalen Milieus?

Dündar

Ja. Meine Familie zum Beispiel war froh, dass die Armee endlich die Macht übernommen hatte. Viele unserer Nachbarn sahen das auch so. Der Bürgerkrieg war derart blutig, zumindest würde er aufhören.

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Was verbindet den Film mit der heutigen Situation in der Türkei? Welche Rolle spielt das Militär in Erdoğans Regime?

Dündar

Erdoğan ist ein Produkt dieses Militärputsches. Denn damals inhaftierte die Armee Sozialisten, Kommunisten, sogar Mitglieder der faschistischen Partei – Ultralinke und Ultrarechte wurden in Gefängniszellen zusammengepfercht, während die Islamisten frei ihre Propaganda betreiben konnten. Die Bewegung Erdoğans wurzelt in jener Zeit. Die Türkei war damals schon für die USA außerordentlich wichtig: Man wollte eine stabile Türkei, keine demokratische, sondern eine mächtige Türkei. Um nach dem Iran und nach Afghanistan nicht auch noch sie zu verlieren. Deshalb haben die USA die türkische Armee unterstützt.

Stefan Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.