"Kindeswohl": Der neue Roman von Ian McEwan

Literatur. In seinem neuen Roman erweist sich der britische Romancier Ian McEwan einmal mehr als hellsichtiger Zeitdiagno

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Fiona Maye, 59, pflegt ihren Job als Familienrichterin mit einer Genauigkeit, die an Pedanterie grenzt: Protokolle schreiben, Debatten zusammenfassen - darin liegt ihr Glück. In ihren Urteilen erweist sie sich als Architektin verschachtelter Argumentationen, als Verteidigerin der Wehrlosen, die am Ende auf komplizierte Sachverhalte eindeutige Antworten finden muss. Soll den Mädchen von streng orthodoxen Juden Bildung erlaubt sein? Darf die Klinik einem jungen Zeugen Jehovas die lebensrettende Bluttransfusion verabreichen - auch wenn die Sekte jede Form der Fremdblutspende strikt verbietet? Es bedarf keiner großen Fantasie, sich vorzustellen, dass Maye, die Protagonistin aus Ian McEwans jüngstem Roman "Kindeswohl“, ihren Job zuweilen als ganz eigenen Kreis der Hölle betrachtet - zumal auch ihr Privatleben in Mitleidenschaft gezogen wird: Mayes Mann rechnet der Richterin, die von ihren Mitarbeitern "Mylady“ genannt wird, die Sexlosigkeit von sieben Wochen und einem Tag vor.

McEwan, 66, pflegt einen traditionellen Prosabegriff. Die Bücher des Romanciers sind so etwas wie bissige Anklageschriften, die rezente soziale und politische Unruhegebiete thematisieren. Engagierte Literatur, die sich seit Jahrzehnten zu einen Panorama drängender gesellschaftspolitischer Fragen verdichtet - von der 68er-Bewegung ("Amsterdam“) über Klimawandel ("Solar“) bis zum religiösen Terrorismus ("Saturday“). Auch in die Seiten von "Kindeswohl“ mischen sich McEwans Erwägungen zu Selbstmordattentätern in Pakistan und Irak, der Bombardierung von Wohnhäusern in Syrien, zum Krieg des Islam gegen sich selbst, mit seinen zerfetzten Autokarosserien, zu Schutt geschossenen Häuserfassaden und den über Marktplätze verstreuten Leichenteilen.

Im Mittelpunkt von "Kindeswohl“ stehen aber die Skandale, die sich auf dem Feld des Familiären bündeln, mit all ihren kniffligen Paradoxien des Moralischen. McEwan schreibt so wohlüberlegt wie auf den Kern der Sache konzentriert über Familienrecht, Rechtshilfeansuchen und die ungezählten Stunden gelehrten Juristengerangels, als sei er selbst gelernter Rechtsvertreter. "Kindeswohl“ ist ein Roman, der vom familiären Klein-Klein bald ins Große erweiterter Zusammenhänge gerät: "Das komplizierte Gewebe der Beziehungen eines Kindes zu Familie und Freunden war das Entscheidende. Kein Kind eine Insel.“

Ian McEwan: Kindeswohl. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes, 223 S., EUR 22,60

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.