Junge Frau sitzt auf einem Sideboard unter einem bunten Wandbild, blickt unverwandt und ernst in die Kamera
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Körper als Schlachtfelder: Inna Shevchenko über Religion und Frauenrechte

Die Aktivistin Inna Shevchenko, die – als Teil der ukrainischen Protestbewegung Femen – einst drastische Performances durchführte, ergründet in dem Film „Girls & Gods“ nun die prekären Zusammenhänge von Feminismus und Glauben.

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Die Kunst der produktiven Debatte beherrscht sie wie wenige sonst. Ihre rhetorische Begabung sorgt nicht nur dafür, dass sie weltweit für Vorträge und Keynote-Speeches gebucht wird, sie ist auch die perfekte Basis für jene hart, aber gerecht geführten Streitgespräche, die sie so virtuos über die Bühnen bringt. Inna Shevchenko, 35, geboren in der ukrainischen Hafenstadt Cherson, hat das Prinzip agree to disagree verinnerlicht: Man kann im Fall divergierender Meinungen den Holzhammer getrost im Werkzeugkasten lassen. Es ist möglich, in Gesprächen Haltung zu zeigen, ohne Aggression und Untergriffe zu bemühen, gegenläufige Ansichten zu akzeptieren, ohne vor diesen zu kapitulieren.

Eine Reihe ideologisch stark besetzter Gespräche führt Shevchenko in einem neuen Dokumentarfilm, der „Girls & Gods“ heißt (Regie: Arash T. Riahi und Verena Soltiz; Österreich-Kinostart: 10. Oktober): Im Rahmen einer Reise durch Europa und die USA richtet sie feministische Grundfragen an religiös bewegte Frauen, iranische Frauenrechtlerinnen, muslimische Konvertitinnen, an Priesterinnen und Rabbinerinnen, aber auch an Abtreibungsgegnerinnen, Künstlerinnen wie ihre Pussy-Riot-Kollegin Nadya Tolokonnikova oder die genüsslich blasphemisch arbeitende „Charlie Hebdo“-Cartoonistin Coco. Als Mitglied der ukrainischen Aktivistinnengruppe Femen, die ab 2008 eine neue Form feministischer Agitation am eigenen Leib, auf ihren beschrifteten nackten Körpern öffentlich austrug, musste Inna Shevchenko 2012 vor der politischen Repression nach Europa fliehen. Inzwischen lebt sie in Wien und Paris.

Frau richtet ihren entschlossenen Blick in die Kamera
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Wie kamen Sie dazu, das Thema Religion feministisch neu zu durchleuchten?

Inna Shevchenko

Ehe ich wusste, was Feminismus überhaupt war, hatte ich schon erlebt, wie Religion mir als Mädchen zahllose Einschränkungen auferlegte. Für mich war dieser Zusammenhang stets offensichtlich. Der politische Einfluss, den die Kirche in autoritären oder diktatorischen Regimes oft ausübt, ist unübersehbar. Und natürlich üben sie diesen in erster Linie über die Körper und die Freiheit der Frauen aus.

Hat sich das nicht stark verändert, als Sie nach Europa geflohen waren?

Shevchenko

Als ich begann, unsere Bewegung in Paris aufzubauen, hörte ich, dass ich meine ukrainische Agenda dort nicht einbringen könne. In Europa herrsche ein anderer Kontext. Stimmt. Aber manche Dinge sind universell – wie das religiöse Interesse daran, Frauen zu kontrollieren und zu unterwerfen. In Westeuropa sind es nur andere Institutionen und Männer in anderen Anzügen. Sie tragen keine Roben wie Patriarch Kyrill, aber Machthaber tragen immer Kostüme.

In westlichen feministischen Diskursen spielt Religion eine eher untergeordnete Rolle.

Shevchenko

Ja, weil zu viele Menschen – und sehr oft Feministinnen – sich scheuen, dieses schwierige und gefährliche Thema anzugehen. Sie fühlen sich viel wohler dabei, die katholische Kirche anzugreifen als etwa den Islamismus. Weil sie befürchten, politisch inkorrekt zu sein, als weiße Unterdrücker oder Rassisten gesehen zu werden. Um dieses Thema ins Auge zu fassen, braucht man eine Liebe zu Nuancen und die Bereitschaft zu komplexen Gesprächen. Deshalb ist „Girls and Gods” entstanden. Denn als Aktivistin und Feministin bin ich an den Punkt gekommen, an dem ich verstanden habe, dass mein ständiges Schreien nicht dazu führen wird, mehr Menschen zu erreichen.

Eine Rückkehr zu ruhigen Debatten statt der Eskalation des Aktivismus?

Shevchenko

Es ist sehr schwer, in den öffentlichen Raum zu gehen und vor einer desinteressierten Welt seine Überzeugungen hinauszuschreien. Aber es ist noch mühevoller, einfach da zu sein und zuzuhören. Zu hören, was deine ideologischen Feinde zu sagen haben. Das ist eine sehr schwierige Übung. Aber Nuancen und Zweifel bringen uns voran.

Im Film diskutieren Sie schwer lösbare Probleme.

Shevchenko

Es ist unangenehm, keine Antwort parat zu haben. Ich hoffe, dass unser Film die Kraft hat, den Menschen das Unbehagen angenehm zu machen. Ich habe als Aktivistin während des Janukowitsch-Regimes in der Ukraine gelebt. Er war nur eine Marionette des Kremls. Aber sein Regime hat uns verfolgt. Für andere kann eine Diktatur sehr angenehm sein, weil man nichts hinterfragen muss. Man darf es nicht. Man muss nicht viel nachdenken, muss keine Verantwortung übernehmen. Man kann keine Entscheidungen treffen. Freiheit ist an sich unbequem. Sie bringt Unbehagen mit sich. Denn sie fordert Verantwortung, Entscheidungen und das Hinterfragen der eigenen Überzeugungen ein.

Sie haben einmal gesagt, das Kopftuch, das Frauen im Islam auferlegt werde, sei mit einem Konzentrationslager vergleichbar.

Stefan Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.