Michael Haneke "Happy End"
Ausbeutungsroutine

Kritik: „Happy End“ von Michael Haneke

Michael Hanekes neuer Film zeigt erneut, was die Menschen einander anzutun bereit sind.

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Die diskrete Scham der Bourgeoisie hat Michael Haneke stets fasziniert. Aus kritischer Distanz berichtet er seit mehr als 40 Jahren über das ihm Wohlvertraute, über bürgerliche Schuld und die tief sitzende Panik des Establishments. Hanekes Schatten ist lang; man muss dazu nur sehen, wie sehr hochbegabte jüngere Filmemacher, etwa der Grieche Yorgos Lanthimos in seinem radikalen Familienthriller „The Killing of a Sacred Deer“ (ebenfalls in Cannes), auf Hanekes Vorgaben zurückgreifen – das Weltkino spielt funny games, wohin man blickt. Hanekes Handschrift ist unverkennbar, deutlich weniger talentierte Regisseure imitieren inzwischen seinen prononcierten Stil, diesen aus langen Einstellungen und vorenthaltenen Informationen konstruierten gläsernen Realismus, der einen so unmittelbar in die Erzählung zieht, obwohl (oder weil) er einen auch so folgerichtig auf Abstand hält. Aus gutem Grund wird Haneke zu den großen Autoren des internationalen Kinos gezählt, in neueren filmgeschichtlichen Abrissen bereits mit großen Film-Formalisten und -Pessimisten wie Ingmar Bergman oder Michelangelo Antonioni verglichen.

Ausbeutungsroutine

In „Happy End“, jenem Werk, mit dem der zweifache Gewinner der Goldenen Palme nun erneut, fünf Jahre nach „Amour“, im Wettbewerbsprogramm des laufenden Festivals in Cannes antritt, versucht er seine Stammmotive allerdings ins Satirische zu wenden – mit Folgen, die auf ganz andere Weise verstörend erscheinen, als man erwarten mochte. Natürlich ist auch diese Arbeit, während sich die Szenen wie Puzzleteile in den Köpfen des Publikums langsam zu einer Story zusammensetzen, gewohnt kühl und mit der alten Präzision, mit großer Ruhe, Konzentration und Klarheit in Szene gesetzt. Und doch stimmt hier etwas nicht, und es dauert eine Weile, ehe man begreift, warum das so ist.

Die Story einer reichen Bauunternehmerfamilie, hinter deren Ausbeutungsroutinen und Überwachungssystemen Mordlust, Suizidgedanken und Gewaltfantasien lodern, trägt schließlich alle Zeichen ihres Schöpfers. Und auch das Personal erscheint geläufig: Eine gleichgültig-vereinsamte Zwölfjährige (Fantine Harduin), die das Display ihres daueraufzeichnenden Smartphones für deutlich relevanter hält als das Wohlbefinden ihrer Familie, trifft hier auf einen heimtückischen Großvater (Jean-Louis Trintignant), der seinen Abgang plant, während seine geschäftskalte Tochter (Isabelle Huppert) und deren neurotischer Bruder (Mathieu Kassovitz) auf je eigene Weise unter den monströsen, lebensunfähigen Kindern leiden, die sie hervorgebracht haben.

Großbürgerliche Selbstabschaffung

Diese Konstellation ergibt ein unerwartetes Pastiche aus bestens abgehangenen Haneke-Sujets: Amoral im Umgang mit Unterhaltungselektronik und Kommunikationstechnologie („Benny’s Video“, „Cache´“), Todessehnsucht („Der siebente Kontinent“), Sadomasochismus („Die Klavierspielerin“), Sterbehilfe („Amour“) und die täglichen Unzulänglichkeiten einer multiethnischen Gesellschaft („Code inconnu“). Hanekes emotional heruntergekühlten Figuren werden nicht (nur) selbst schuldig, sondern sind vor allem Produkte ihrer Umwelt, ihrer Familien, eines Denkens, das ihnen von den ersten Lebensjahren an gleichsam ins limbische System injiziert wird.

Michael Haneke hatte schon im Vorfeld indigniert reagiert, als manche mutmaßten, „Happy End“ werde, weil er in Calais spielt, wohl ein Film sein, der sich mit der Flüchtlingskrise befasse. Unsinn, hielt der Regisseur und Autor dagegen, die Malaise der Geflüchteten sei allenfalls der Hintergrund einer Erzählung von großbürgerlicher Selbstabschaffung. Das stimmt, Haneke bleibt bei seinen alten Themen, nur die Fallhöhe erscheint, wenigstens nach einer ersten Ansicht dieses Films, nach der Weltpremiere in Cannes am Montag dieser Woche, plötzlich erstaunlich gering – zumal der Ton der Inszenierung nur bedingt darauf schließen lässt, wie ernst der Regisseur all das noch meint (oder meinen kann); aber am Ende dieses Pandämoniums infernalischer Behauptungen ist es dann gar nicht mehr besonders wichtig, ob „Happy End“ als sarkastische Fingerübung begriffen werden soll oder als bittere neue Abrechnung mit der grundlegenden Abwesenheit emotionaler Intelligenz und sozialer Erwägungen in „uns allen“.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.