Frau, die in der letzten Reihe einer Flugzeugkabine sitzt, blickt den Gang zwischen den sonst menschenleeren Sitzreihen entlang
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Lonely Planet: Die dystopische neue Serie „Pluribus“ wagt Bizarres

Nach 15 Jahren in der Welt von „Breaking Bad“ verschiebt Serien-Genius Vince Gilligan subtil die Perspektive: „Pluribus“ zeigt eine Menschheit im kollektiven Glücksvirusrausch – und eine Frau, die das nicht erträgt.

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Es liegt in der Natur des Freibriefs, dass er nicht allzu häufig erteilt wird. Vince Gilligan darf sich als erfolgreiche Ausnahme dieser Norm begreifen. Nach „Breaking Bad”, der vermutlich konsensfähigsten Serie des 21. Jahrhunderts, hätte der US-amerikanische Fernsehkreative de facto jede Idee problemlos realisieren können. Kein Sender oder Streaming-Anbieter, der ihn nicht mit blanko ausgestelltem Scheck engagiert hätte. Nachdem er mit „Better Call Saul” zunächst noch eine aller Ehren werte Bonusrunde auf dem vertrauten Terrain gedreht hatte, entbrannte beinahe unweigerlich ein heftiger Bieterstreit um sein nächstes Projekt. Apple TV setzte sich schließlich durch. Das Ergebnis „Pluribus” wartet nun darauf, erkundet zu werden.

Konkretere Ausführungen zu diesem Neustart sind freilich nur schwer zu tätigen. Einerseits hat Apple den Plot bis zur Unkenntlichkeit unter Embargo gestellt. Andererseits hat Gilligan seinen Freibrief umfassend ausgeschöpft – mit einem Werk, das Einordnungen lustvoll unterläuft. Dabei gemahnt die Prämisse zunächst an jene Sorte Science-Fiction, die er auch in seinen „Akte X”-Tagen ersonnen haben könnte. Ein außerirdisches Virus hat die Menschheit infiziert, was aber keine klar negativen Folgen zeitigt. Vielmehr sind nun fast alle Teil eines globalen Bewusstseins, sind allwissend, glücklich und empfindsam. Konflikte, Krisen und Verbrechen gehören der Vergangenheit an – mit ihnen allerdings auch das Individuum. Zu den wenigen Menschen, die gegen die Gleichschaltung immun sind, zählt die Kitsch-Bestsellerautorin Carol Sturka (Rhea Seehorn, wie immer brillant): eine griesgrämige Zweiflerin, die sich weigert, die schöne neue Welt hinzunehmen, auf ihrem Recht auf Unbehagen besteht.

Verzweifelt aussehende Frau in dunkler Nacht
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An den sogleich im Raum stehenden Konventionen solch dystopischer Narrative wird indes bald gerüttelt – und zwar mit nicht geringer Freude an Entschlackung und Entschleunigung. Wie seine Antiheldin widersteht Gilligan Erwartungen, räumt etwa dramaturgischen Verschnaufpausen wirklich großzügig Raum ein. Spannungsbögen mutieren hier zu Schwebezuständen, mit einer eigenwilligen, freidrehenden Offenheit verhandelt die Serie auf ausgesprochen amüsante Weise existenzielle Überlegungen: Ist allgemeine Glückseligkeit ein anzustrebender Segen oder nur die Preisgabe des Selbst? Wie viel Wir verträgt ein Ich, wie viel Einsamkeit die Autonomie?

Zwei Frauen, eine blickt misstrauisch, die andere freundlich-zugewandt, in einer Konversationssituation mit anderen
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In gewisser Weise darf man sich „Pluribus” wie ein trojanisches Pferd vorstellen, das sich in der Tarnung einer genreorientierten Konstruktion als raffinierte Meditation über Wahrnehmung selbst einschmuggelt. Ja, hier zählt womöglich weniger, was wir sehen, als wie wir schauen. Und was dieses Schauen in jeder und jedem einzelnen von uns auslöst. Zurück bleibt man mit einem im TV selten gewordenen Erleben von gedanklicher Weite – als hätte die Fernsehfiktion ein paar kostbare Momente lang die eigene Enge gesprengt.