II. Öde im IKEA-Regal!
Die Tatsachen mögen bitter sein, lassen sich aber nicht leugnen: Die Katastrophenmeldungen über das „Ende des Lesens“ und das alarmierende Sinken der Lesekompetenz nehmen kein Ende. Laut der jüngsten OECD-Untersuchung haben mehr als ein Viertel der Erwachsenen in Österreich Probleme beim Lesen; die Zahl der funktionalen Analphabeten steigt, also jener Zeitgenossen, die einzelne Wörter und Sätze lesen und schreiben können, aber nicht mehr in der Lage sind, zusammenhängende Texte zu verstehen. Vorbei auch die Zeit, als Universitäten noch als Bastionen der Lesekompetenz galten. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels wiederum ermittelte, dass die Bucheinkäufe in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren von 37 auf 26 Millionen abgenommen haben.
Miniaturen einer Kulturtechnik in Gefahr: An Post- und Bankschaltern spielen sich beim Entschlüsseln von Dokumenten seitens der leseschwächelnden Kundschaft zuweilen herzbewegende Dramen ab; Filme lassen sich inzwischen in ein Vorher (= Passanten in U-Bahn-Szenen lesen Bücher oder Zeitungen) und Nachher (= Epoche des Smartphone-Starrens) datieren; die Billy-Regal-Buchrückenmeter in IKEA-Katalogen nehmen gefühlt stetig ab.
Der Weg in die Postalphabetisierung scheint unabwendbar. Postalphabetisierung? Frage an ChatGPT! „Postalphabetisierung bedeutet, dass eine Person zwar irgendwann in ihrem Leben lesen und schreiben gelernt hat, diese Fähigkeit aber später im Lauf der Zeit weitgehend wieder verlernt oder stark eingeschränkt hat.“ Fast schon optimistisch gestimmt, schickt die KI hinterher: „Postalphabetisierung = Wiedererlernen bzw. Auffrischen.“ Anders gesagt: Wer weniger liest, liest mit der Zeit schlechter.
Das Lesen in der Krise ist ein Topos, der so alt ist wie das Lesen selbst“, beruhigt der deutsche Medienwissenschafter Christoph Engemann in seinem neuen – lesenswerten – Buch „Die Zukunft des Lesens“. Nicht ohne zu menetekeln: „Gerade in den letzten Jahren gibt es aber Anhaltspunkte dafür, dass an diesem Topos tatsächlich etwas dran sein und sich die Krise des Lesens noch verschärfen könnte.“ Engemann verweist in diesem Zusammenhang auf die sogenannten Large Language Models (LLMs), die bald schon ganze Zeitungen und Bücher im Handumdrehen automatisiert herstellen werden können, sowie das Überhandnehmen der „Plattform-Oralität“, jenes Online-Dauergequatsches, dem viele gebannt auf Kosten des Lesens zusehen und lauschen! „Da les’ ich lieber was“, verkündet ein Aluminiumschildchen auf der Rückenlehne einer Parkbank im Wiener Volksgarten.
Ehe das Zeitalter der Postalphabetisierung endgültig anzubrechen droht, ein Zwischenruf: „Print lebt!“, sagt Gustav Soucek, seit 2017 Geschäftsführer des Hauptverbands des Österreichischen Buchhandels: „Dem Buch geht’s gut. Lesen ist und bleibt eine Schlüsselkompetenz und ein Anker für Orientierung in einer komplexen Welt. Bei jungen Menschen konkurriert das Buch zwar mit vielen digitalen Angeboten – wenn Geschichten aber ihre Lebensrealität berühren, greifen sie mit Begeisterung zum Buch.“
Im deutschsprachigen Raum erscheinen jährlich rund 80.000 neue Bücher; im Vorjahr wurden in Österreich, stationär und online, 22.611.000 Bücher verkauft, nicht inkludiert Schulbücher sowie Ankäufe für Bibliotheken und Büchereien; 2023 erschienen 9225 Buchneuheiten österreichischer Verlage (2020: 8686). Im Bereich der sogenannten Young-Adult-Literatur, in der die Heldinnen und Helden in der Regel zwischen 18 und 30 Jahre alt sind (und sich mit Studium, Berufseinstieg und ersten Beziehungen herumschlagen müssen), ist seit Jahresanfang 2025 ein Umsatzplus von knapp 32 Prozent feststellbar. Die Jungen lesen nicht? Iwo.
III. Bookies und Bookwives
Auf Online-Podien wie BookTok, BookTube und Bookstagram wird die Leidenschaft zur Literatur irgendwo zwischen sozialen Netzwerken, Shopping-Schwärmerei und Videocasts ausgelebt. Viele Rädchen halten die Belletristik-Online-Maschine in Bewegung. Ein Teil davon sind die Wiener Schwestern Nina und Maiken Greimel, die als „The Bookwives“ den laut Eigenbeschreibung „geilsten Buchclub auf diesem Planeten“ betreiben: Online werden für den monatlichen „ReadUp.Club“ Tickets vergeben, anschließend trifft man sich mit dem Lieblingsbuch zum Austausch en face.
„Bücher sind wie das Internet – beides wird immer existieren“, mailen die Bookwives. „Nur die Art, wie man Bücher konsumiert, verändert sich – und das nimmt unweigerlich Einfluss auf das Hobby Lesen.“ Steckenpferd also? „Lesen ist nicht nur ein guter Zeitvertreib, um der Realität zu entfliehen. Für viele Menschen ist es eine Identitätsfrage. Wer liest, ist belesen. Was man liest, gestaltet die eigene Identität ebenso mit wie die Kleidung, die man trägt, oder die Marke des Handys.“ Lesen sei nicht mehr nur für „Nerds“ oder „Langweiler“, sondern für alle: „Das zeigt doch, dass die digitale Welt auch positiv Einfluss nehmen kann.“ Werden wir in 200 Jahren überhaupt noch Bücher lesen? „Ja. Das Ökosystem rund um das Medium wird sich jedoch verändern müssen, um mithalten zu können.“
Längst denken die Schwestern Greimel für ihre Follower, liebevoll „Bookies“ genannt, über einen „Buch-Ball“ und „Buch-Yoga“ nach.
IV. Buchseiten-Bonustrack
Was soll man lesen? So ziemlich alles, was einem in die Finger fällt, was über Bildschirme irrlichtert, noch lieber aber: was zwischen zwei Buchdeckeln Objekt geworden ist, womit keineswegs der Habitus der alten Zeit zelebriert werden soll.
Früher war alles besser? Herrje. Die bräsige Prosalandschaft von einst, als die Provinzbuchhändlerin mit strenger Hornbrille darüber entschied, was auf den Tisch kommt, ist glücklicherweise von Lektüremenüs à la carte abgelöst, einerlei, ob das Schriftgut – was für ein Wort! – digital oder auf Papier serviert wird, aus Buchhandlungen oder Online-Shops stammt.
Der österreichisch-amerikanische Kulturkritiker Ivan Illich notierte vor 30 Jahren: „Inzwischen ist das Buch längst nicht mehr die wichtigste Grundlage des Bildungswesens. Wir haben die Kontrolle über sein Wachstum verloren. Medien und Kommunikation, der Bildschirm haben die Buchstaben, die Buchseite und das Buchlesen verdrängt.“
Geschmackspolizei ade! Man darf die eine oder andere Melodie auf der Klaviatur des zweifelhaften Geschmacks getrost anstimmen: Thomas Mann und Stephen King können gut miteinander, Ingeborg Bachmann verträgt sich einen Lesenachmittag lang mit Bestsellerautorin Gaby Hauptmann. Lesen heißt, sich am Kanonischen – Kafka, Musil, Schnitzler, Vicki Baum, Ilse Aichinger, Christine Lavant und so weiter, ad infinitum – entlang zu hangeln, zugleich lustvoll im Randständigen und Raren zu wildern: Man lese „Ich erinnere mich“, die autobiografische Vergangenheitsumkreisung des US-Autors Joe Brainard, die „Geschichte der Eisenbahnreise“ des 2023 verstorbenen Historikers Wolfgang Schivelbusch, den Franz-Ferdinand-Roman „Der Thronfolger“ des nahezu vergessenen Schriftstellers Ludwig Winder.
Man lese, was von 26 klapprigen Buchstaben samt Kommata, Bei- und Gedankenstrichen auf Papier und Kindle zusammengehalten wird. Um es mit Miguel de Cervantes’ Bild vom traurigen Ritter Don Quijote zu sagen: Wen kümmert’s, wohin ein Buch einsortiert wird, solange es uferlose Lektüre garantiert.
V. Eiffelturm erlesen!
20.000 Bücher, heißt es, könne ein Mensch in seinem Leben lesen. Angenommen, die durchschnittliche Buchstärke beträgt 1,5 Zentimeter: Der Lesepapierberg wäre rund 300 Meter hoch, was ungefähr der Spitze des Pariser Eiffelturms entspricht. ChatGPT hat sich das Millionenfache des Leselebens eines einzigen Menschen einverleibt und ist imstande, in Sekundenbruchteilen auf eine Anfrage hin Digitalbibliotheken zu durchmustern. Eiffelturm versus Marsflug, so ungefähr. Goethe hat den Begriff der „Weltliteratur“ eingeführt. Er wusste, dass Lesen viel mit der Welt und wenig mit dem Mars zu tun hat.