Interview

Wie wird man kein alter weißer Mann, Herr Grönemeyer?

Der deutsche Rockmusiker Herbert Grönemeyer ist zurück mit einem neuen Album. Hier erzählt er von Widerstand und Altersradikalität – und erklärt, warum er auch als Autofan die Klimabewegung versteht.

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Herr Grönemeyer, Ihren großen Hit „Männer“ von 1984 haben Sie für den Weltfrauentag auf „Frauen“ umgedichtet. Wollen Sie den Text jetzt so belassen?
Herbert Grönemeyer
Da sind Sie einer Zeitungsente aufgesessen. Ich habe das Lied nicht umgeschrieben. Mir hat ein Radioredakteur an meinen Promotagen einen neuen Text quasi untergeschoben und mich gebeten, ob ich den mal kurz vor dem Studiomikro für den Weltfrauentag einsingen könne. Und plötzlich war das Thema für den einen Tag überall. 
Es gab auch gemischte Reaktionen auf diese Umdichtung …
Grönemeyer
… und das zu Recht. Ich habe damals versucht, ein mittelalbernes Lied über Männer zu schreiben. Und die Idee, den Song umzudichten, ist fast so alt wie dieser selbst. Besonders originell finde ich das nicht. Ich denke, es gibt auf meiner neuen Platte mit „Turmhoch“ ein viel schöneres Lied zum Thema Feminismus. 
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Gibt man die Deutungshoheit über einen Song ab, sobald er veröffentlicht ist?
Grönemeyer
Aus einer Platte wird nach Veröffentlichung allem Druck, den man selber hat, der Korken rausgezogen. Dann kriegt sie Sauerstoff, und es entwickeln sich auch Dinge, die man selbst davor nicht gesehen hat. 
Was meinen Sie damit?
Grönemeyer
Ich höre Musik, ich lese und gehe ins Kino, weil ich manchmal die Chance und die Zeit haben will, über mich nachzudenken. Es führt einen dazu, dass man zu sich kommt und bei einem Lied vielleicht abschweift. Leonard Cohen hat einmal gesagt, dass es einem dann „den Kopf durchspült“. Es macht den Kopf frei. Deswegen bin ich auch der Meinung, dass meine Musik „wichtiger“ ist als der Text.
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Kurz zurück zum Thema Feminismus: Ist „Männer“ nicht auch ein Lied, das den Typus „Alter weißer Mann“ kritisiert? 
Grönemeyer
Es ist zumindest von einem jetzt alten weißen Mann geschrieben. Ich habe damals versucht, mich mir selbst und einem Männerbild anzunähern. Das sind die Männer, die jetzt weltweit noch den Ton angeben. Das Paradoxe ist, dass die Männer, die in der Hippiezeit aufgewachsen sind, die mit Themen wie Gemeinschaftssinn, Umverteilung und Klimabewusstsein sozialisiert wurden, heute eher egozentrisch durchs Leben gehen und nur noch für sich selbst arbeiten. Man darf nicht vergessen: Dieses Ego-Denken führt auch zu diesen unglaublichen sozialen Missständen in der Gesellschaft. 
Wie schafft man es, kein alter weißer Mann zu werden?
Grönemeyer
Wenn man sich darüber im Klaren ist, dass man einer ist wahrscheinlich – und dazu muss man ständig in Selbstreflexion. Nur weil ich ein paar Liedchen schreibe oder den einen oder anderen klugen Satz sage, bin ich dennoch nicht davor gefeit, selbst ein alter weißer Mann zu werden. Ich wurde auch von einer neoliberalen Welt geprägt, die sich stets gewinnoptimiert nach vorne bewegt hat. Die Auseinandersetzung mit sich selbst darf nie aufhören. Sonst macht man den großen Fehler, sich einzureden, dass man ohnehin nicht dazugehört. Ich kenne das von meinem Vater. Er hat sich ständig, bis er 85 Jahre war, in Frage gestellt und sich bei seinen Söhnen entschuldigt und seine Zeit im Krieg hinterfragt.
Ihre Generation hat gegen die Eltern revoltiert und versteht jetzt die Jungen nicht mehr? 
Grönemeyer
Meine Generation nimmt noch immer für sich in Anspruch, die politisch denkende Elite zu sein, die Weisheit gepachtet zu haben. Das sieht man im konservativen Lager immer, aber auch an der Überheblichkeit der Sozialdemokratie, die komplett den Geist dafür verloren hat, füreinander verantwortlich zu sein. 
Sieht man das nicht auch jeden Tag auf den Straßen, wenn sich verzweifelte junge Menschen an Wänden und Straßen festkleben und protestieren?
Grönemeyer
Richtig. Der größte Zynismus für mich ist, wenn die deutsche Bundesregierung über die Menschen, die sich auf der Straße ankleben, erklären, das sei nicht zielführend. Jeder Protest ist da, um eine Regierung aufzuscheuchen.
Sie selbst sind großer Autofan. Können Sie das noch vertreten? 
Grönemeyer
Ich bin ein richtiger Auto-Nerd mit einer eigenen Autosammlung. In Essen im Ruhrgebiet gibt es jeden Samstag den größten Automarkt der Welt, da war ich früher immer, hab mir für ein paar Hundert Mark ein Auto gekauft und ein paar Monate später wieder weiterverkauft. Fakt ist: Wenn wir was ändern wollen, müssen wir das radikal machen. Wir brauchen eine Verkehrswende – und man kann die Wut der Menschen, die wegen der drohenden Klimakatastrophe ganz andere und reale Ängste haben, nicht einfach bagatellisieren. 
Hätten Sie denn bei der Klima-Protestaktion in Lützerath, wie die Band AnnenMayKantereit, ein Konzert gegeben? 
Grönemeyer
Ja, das hätte ich gemacht. Ich habe die Aktion auch unterstützt – und bin in meinem Leben immer wieder an Brennpunkten aufgetreten. 

Herbert Grönemeyer, 66,

der Sänger und Komponist hat es seit „4630 Bochum“ (1984) mit jedem Album auf Platz eins der deutschen Musikcharts geschafft. Sein erfolgreichstes Album „Mensch“ (2002) verkaufte sich 3,7 Millionen Mal. Grönemeyer war Theater- und Filmschauspieler („Das Boot“) und gründete das Label Grönland Records. 

Er engagiert sich in unterschiedlichen sozialen Projekten, im Kampf gegen Rechtsextremismus und ist in der Flüchtlingsbetreuung aktiv.

Muss man sich als Künstler:in zu politischen Themen äußern? 
Grönemeyer
Das halte ich für eine komplexe Frage. Es ist total arrogant zu sagen, dass sich jemand politisch äußern muss. Umgekehrt muss man sich aber immer die Frage stellen: Machst du dich mitschuldig, wenn du nichts sagst? Ich weiß, wie viel Mut es zum Teil kostet, sich zu äußern. Gerade in Bezug auf Künstlerinnen und Künstler aus Russland zum Beispiel können wir gar nicht nachvollziehen, welche Repressionen im Land ausgelöst werden und welche Gefahren das auch für die Familie bergen kann. Ich denke, die Grundaufgabe der Kunst ist es, sich zu artikulieren.
Dieser Grundaufgabe kommen Sie auch auf Ihrem dezidiert politischen neuen Album wieder nach.
Grönemeyer
Kunst ist politisch – das ist für mich aber auch jeder Mensch. „Das Politische“, das klingt so abgehoben, dabei regelt Politik einfach das Zusammenleben von Menschen. Für mich ist auch ein Liebeslied politisch, weil es versucht, die Notsituation des Herzens zu verstehen, aber gleichzeitig die Menschen auch in ihrer Trauer oder ihrem Glück bestärkt. Zudem bietet Kunst eine Zustandsbeschreibung, die uns sagt, wo wir stehen und wo es hingeht. In jeder Gesellschaft ist Kunst gemeinsam mit dem Journalismus eine treibende Kraft, um auf Missstände aufmerksam zu machen und Perspektiven aufzuzeigen. 
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Mit Ihren neuen Songs wollen Sie den multiplen Krisen entgegenwirken. Wie helfen diese Lieder Menschen, die sich das Essen, die Wohnung nicht mehr leisten können?
Grönemeyer
Ich halte keine Vorträge und bin kein Lebensratgeber. Das maße ich mir nicht an. Ich bin nur ein Bestandteil der Gesellschaft und versuche, mit den Menschen in Aktion zu treten. Ich bin der Trommler, der eine Öffentlichkeit hat und Probleme artikulieren kann. Das bedeutet nicht, dass ich besser, klüger und redlicher wäre als andere Menschen. Natürlich komme ich aus einer Bubble, weil ich keine sozialen Probleme habe, aber das heißt nicht, dass ich nicht mehr sehen könnte, wo in der Gesellschaft sich die Dramen abspielen. 
Sie sind also ein Chronist des Zeitgeists?
Grönemeyer
Ja, ich sehe meine Alben wirklich als Zeitdokumente und stark an die jeweilige Entstehungszeit gekettet. Und ich habe oft das Gefühl, dass ein Thema noch nicht ausdiskutiert ist. Der Rechtsruck, dem ich am letzten Album etwas entgegengesetzt habe, hat sich ja nicht erledigt, nur weil ich ihn benannt habe - die alten Geister tauchen wieder auf. 
Damals haben Sie recht deutlich vorgetragen: „Kein Millimeter nach rechts.“ Sind Sie in Ihren Texten auch konkreter geworden? 
Grönemeyer
Vielleicht ist es eine Form von Altersradikalität. Natürlich sind die Zeiten verschärfter, Standpunkte werden viel militanter verteidigt. Ich sehe meine Aufgabe darin, die gemeinschaftlichen Gesten in den Vordergrund zu stellen. Allein die Art, wie wir in Deutschland mit Flüchtlingen umgehen, finde ich historisch – bei allen Herausforderungen. Es gibt in unserer Gesellschaft einen Geist von Hilfsbereitschaft. Es ist nicht so, dass die Leute nur zu Hause vor dem Fernseher sitzen, sich einsperren und mit der Welt nichts zu tun haben wollen. Die Menschen versuchen, ihre Form der Nächstenliebe zu erhalten – und das stimmt mich positiv. 
Sie haben 2021, mitten in der Pandemie, mit den Arbeiten am neuen Album begonnen. Wollten Sie sich die latente Bedrohung von der Seele schreiben?
Grönemeyer
Es ist eher umgekehrt. Ich schreibe zuerst immer die Musik, das Texten kommt dann später. Ich habe eher Angst, was mir meine Texte über mich selbst erzählen. Wo befinde ich mich? Wo denke ich hin? Wie komme ich aus diesem Vakuum, dieser unsicheren Zeit? 
Wie viele Songs müssen Sie schreiben, damit sie dann am Ende eine Platte mit 13 Tracks herstellen können?
Grönemeyer
Ich bin an einigen gescheitert, vor allem an den Texten. Ich habe vielleicht acht oder neun zusätzliche Songs übrig. Das ist alles, was gekommen ist. 
Von „Angstfrei“ gibt es einen Edit vom DJ-Duo Miksu / Macloud, das ja sonst eher mit Deutschrap-Größen wie Sido oder Capital Bra zusammenarbeitet.
Grönemeyer
Ich habe die beiden schon früher getroffen, aber da ist dann erstmal nicht daraus geworden. Dann haben sie einen Remix gemacht von „Deine Hand“. Ich würde sie auch gerne mal im Studio treffen und schauen, was passiert. 
Man beobachtet gerade einen gewissen Trend der Generationenverständigung, wenn etwa Udo Lindenberg und Apache einen Song machen – oder wenn Sie mit Miksu / Macloud zusammenarbeiten. Sie wirken über die Generationen hinweg. Empfinden Sie das auch so?
Grönemeyer
Das kann man selbst schwer über sich sagen. Ich mache Musik, seit ich 13 bin, habe die absurdesten Stile ausprobiert. Wir haben immer mit Remixes gearbeitet, in den 1990er-Jahren habe ich eine Techno-Platte gemacht. Für einen Sänger gibt es nichts Schöneres, als sich mit allem zu beschäftigen. Ich hätte auch Freude daran, ein Telefonbuch zu singen. So hatte ich immer den Antrieb, mich mit Musik zu beschäftigen und Neues zu entdecken. Ich bin zum Beispiel auch ein großer HipHop-Fan, war gerade erst beim Kendrick-Lamar-Konzert in Berlin. Den halte ich für einen der Größten, der macht unglaublich erdige Musik. Auch Anderson.Paak und Stromae finde ich tierisch gut. Meine Art, mich am Leben und vor allem wach zu halten, geht so: Ich will die Dinge hinterfragen und meine eigenen Strukturen brechen. 
Gehen Sie nach so vielen Alben mittlerweile auch kalkuliert vor, um Hits für die Massen zu produzieren? Die Abstimmung zwischen Balladen und Tanzbarem stimmt.
Grönemeyer
Nein. Ich freue mich natürlich, wenn ich einen Hit schreibe. Auf dieser Platte stehen stabile, gleichberechtigte Songs nebeneinander, und sie sprechen alle für sich. Da sticht kein Lied besonders heraus. Ich gehe an ein Album nicht mit einer Vorannahme heran; wenn ich Glück habe, kommt etwas Gutes dabei raus. Ich dachte mir auch bei „Männer“ nicht, dass das ein Hit wird. Das wurde früher nicht einmal im Radio gespielt! Oder „Bochum“: So ein Text würde heutzutage bei mir direkt im Müll landen: „Bochum, ich komm aus dir, Bochum ich häng an dir, lalala, Bochum.“ Da würde ich keine Sekunde überlegen bei diesem Text! Aber damals hatte ich auch diese wunderbare Naivität, und dieses Sturm-und-Drang-Gefühl. Was kommt, kommt. Was nicht kommt, kommt nicht.
Und wann denken Sie: So – und jetzt ist es gut?
Grönemeyer
Zuerst ist eben die Musik da. Es gibt ganz wenige Lieder, bei denen Text und Musik wirklich direkt gekoppelt entstehen, bei dieser Platte war es zum Beispiel „Tonne Blei“, das kam in einem Rutsch. Und wenn ich dann mit dem Text an dem Punkt bin, wo ich weiß, er macht die Musik nicht kaputt, dann bin ich fertig. Zum Leidwesen aller um mich herum arbeite ich komplett chaotisch. Ich ändere Sachen im letzten Moment. Aber dieses Chaos macht den Spaß aus. Ich neige also zu pedantischer, chaotischer Arbeit, aber ich kann dann auch sagen: „So, Schluss. Besser wird’s nicht.“ Selbst wenn mir Leute aus dem Umfeld dann sagen, ich solle hier noch ein Wort und da noch eine Phrase ändern: Ist mir wurscht. Fertig. Schluss jetzt. Und dann übernehme ich dafür auch die Verantwortung.

Herbert Grönemeyer: „Das ist los“

(Universal)

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.

Lena Leibetseder

Lena Leibetseder

ist seit 2020 im Online-Ressort bei profil und Teil des faktiv-Teams. Schreibt über Popkultur und Politik.