Nicole Krauss neuer Erzählband: Arme Würstel

Nicole Krauss, eine der bedeutenden Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur, geht mit der Spezies Mann ins Gericht.

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Die Ehe von Leonard und Monica nähert sich quälend langsam ihrem Ende. Sie versteinert, und zwar buchstäblich: Ihre Streitereien und Fehden sind im Lauf der Jahre „gleich einem Stalaktiten gewachsen“ – bis dieser „wie ein Dolch über ihren Köpfen hing“. Monica ist Literaturwissenschafterin, während sich der Archäologe Leonard berufsmäßig durch Gesteinssedimente wühlt: „Der Hügel unter seinen Füßen war menschengemacht, durch die langsame Akkumulation von Schichten des Lebens und deren Zerstörung gewachsen.“

Wie die Eltern, so die Tochter: In „Endzeit“, einer der zehn Geschichten im neuen Erzählband „Ein Mann sein“ der US-amerikanischen Autorin Nicole Krauss, erträgt es Noas Ehemann Gabe nicht, wenn ihn Goyas alter Mann auf einer Schaukel von einem Poster herab anstarrt: „Er nannte ihn Alter Eierkopf und beschuldigte ihn, alles zu verderben.“ Nachsatz: „Aber vor zwei Wochen hatte sie Schluss gemacht, und Noa ließ den Alten Eierkopf an der Wand.“ 

Die Geschichten in „Ein Mann sein“ berichten von Männern, deren patriarchales Selbstbild gebrochen ist, die etwas wunderlich im Kopf sind. Von schwermütig gewordenen Ex-Traumschwiegersöhnen, die Galgenhumor mit Verzweiflung verwechseln. Von armen Würsteln, die sich von ihrem Sozialverhalten her eher wie Rindviecher als wie Ehemänner verhalten.

In der Episode „Der Ehemann“ berichtet Tamar von ihren Männerbekanntschaften – von Musikern, mit denen sie ins Bett gestiegen ist und, als seltsamer Nebeneffekt, bald auch deren Schmutzwäsche in die Waschmaschine steckte; von einem Strafverteidiger, der „eine überdimensionierte Persönlichkeit, aber am Ende ein verkümmertes Herz besaß“.

Schließlich die Story „Die Schweiz“: Ein Banker, der das Fisch-Filetieren am Mittagstisch eigenmächtig zur Meisterschaft erhebt, sagt am Abend im Hotelzimmer zu Soraya, die auf dem Hotelbett vor ihm kniet, er bevorzuge Appartements mit Wasserblick: „Der gewaltige Strahl des Hunderte von Metern aufschießenden Springbrunnens“ errege ihn, erklärt er Soraya. Befreiende Blicke in die Untiefen der männlichen Psyche; ins verworrene Gefühls- und Denkdickicht der selbst ernannten Herren des Universums. 

Man darf Krauss, 47, ohne Übertreibung als Fachfrau zwischenmenschlicher Verwicklungen und Verwerfungen bezeichnen, als eine genaue Beobachterin der kleinen und großen Dramen auf den Beziehungsbühnen, die das Leben für uns Menschen bereithält. In mehr als 35 Sprachen wurden ihre Bücher bislang übersetzt. 

Mit 28 debütierte Krauss, deren Großeltern, europäische Juden aus Ungarn, Polen und Deutschland, vor dem Zweiten Weltkrieg nach London und Jerusalem geflüchtet waren, mit dem Roman „Kommt ein Mann ins Zimmer“ (2002): Dem Englischprofessor Samson Greene wird ein Hirntumor entfernt, worauf ihm allein seine Kindheitserinnerung bleibt. Auf der Basis wechselseitiger Fremdheit mit der Welt muss sich Greene ein neues Ich zusammenflicken. Steht er dann postoperativ vor seiner Ehefrau Anne, wirken nicht nur seine Beine und Arme, als gehörten sie einer Marionette. 

Der Roman „Die Geschichte der Liebe“, in dem ein im Holocaust verschwundenes Manuskript mehrere Menschen über Kontinente und Epochen hinweg schicksalsschwer verbindet, avancierte 2005 zum internationalen Bestseller. Liebessorgen standen erneut in „Waldes Dunkel“ (2017) im Mittelpunkt: Eine Schriftstellerin, die im Roman mit Krauss den Vornamen und das Alter teilt, flüchtet vor ihren Eheproblemen (Krauss war zwischen 2004 und 2014 mit dem Schriftsteller Jonathan Safran Foer verheiratet) nach Israel.

Dort angekommen, stellt sie überrascht fest, dass Franz Kafka seinen Tod Anfang Juni 1924 in Kierling bei Wien nur vorgetäuscht und in Palästina unter falscher Identität noch 20 Jahre inkognito als Gärtner gelebt hat. Um Kafkas „Verwandlung“ zu paraphrasieren: Als ein Mann eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht, findet er sich zu einem Floristen in der Wüste verwandelt. Das Hin und Her zwischen tragischen und komischen Konstellationen führt in Krauss’ Büchern selten zu einer beruhigenden Conclusio. 

Die Verbindung des Altbekannten mit dem Abenteuerlichen ist das Prinzip, dem Krauss in vielen ihrer Geschichten folgt. Alles Vergangene erzählt auch über die Gegenwart. Das Surreale schimmert hinter der sogenannten Normalität durch: So lauteten die weiteren Grundsätze, an die sich Krauss, eine pragmatische Euphorikerin der Liebe, in ihren formverspielten, von vielen Ortswechseln geprägten, bisweilen keineswegs kitschfreien Texten gern hält. In ihrer Prosa, in der häufig sehr kluge Sätze über jüdisches Leben in den USA, Israel und Europa zu finden sind, versucht die New Yorkerin, das Amalgam von Liebesqual und -lust in ein ausuferndes, manchmal unübersichtliches Erzählspiel hinüberzuretten – was viel öfter gelingt, als dass es danebengeht. Wie die meisten der Geschichten von „Ein Mann sein“, die zwischen 2002 und 2020 in renommierten US-amerikanischen Zeitschriften und Verlagen erstveröffentlicht wurden. 

„Ich schlafe, aber mein Herz ist wach“ und „Zukünftige Notstände“ sind diese Texte überschrieben, und sie fügen sich zum Eindruck einer gespenstisch großen Kluft des Nicht-Verstehen-Könnens zwischen Mann und Frau. Kein anderes Wort als „Ausnahmezustand“ passt auf die Situation jenes Kerls, der in der Krauss-Erzählung „Ein Mann sein“ die heimliche Hauptrolle innehat. Rafi ist Offizier in den Jahren der israelischen Besetzung des Südlibanons. Seine Einheit hat den Auftrag, den Hisbollah-Führer der Region mit einer Autobombe zu töten.

Rafi ist Mitglied der Einheit „Sayeret Golani“ mit Spezialausbildung: „Einmal verteilten die Offiziere Schokoladenkugeln. ,Nur eine kleine Leckerei‘, sagten sie, ,wir essen sie alle zusammen.‘ Auf drei nahmen sie alle ihre Kugel in den Mund und bissen auf das, was sich als Ziegenkötel erwies.“ Rafi wird trainiert, dass er „ein Tier werden würde, aber ein reines Tier, das nur nach dem Instinkt agiert, wie der fliegende Tiger, der das Symbol der Sayeret Golani war und deren Kampftruppen bei der Einführungszeremonie in Form einer kleinen Metallnadel verliehen wurde“. Männer als Archäologen, Musiker, Strafverteidiger, Banker und Soldatenkaiser. Und alle nackt.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.