Eine telefonierende Frau in einem Kontrollzentrum mit Bildschirmen und Neonlichtern an der Decke
Bild anzeigen

Panik im Raum: Untergangsszenarien bei Venedigs Filmfestspielen

Das Grauen in Gaza, Atomkriegsangst und Faschismuswarnungen blitzten bei den 82. Filmfestspielen in Venedig allenthalben auf. Und die Ehrung einer alten Femme fatale öffnete den Blick zurück in die Geschichte des Kinos.

Drucken

Schriftgröße

Die Stimme eines fünfjährigen Mädchens, unter Beschuss der israelischen Armee, gefangen in einem Auto irgendwo in Gaza-Stadt: die einzige Überlebende inmitten der Leichen ihrer Familie, die vor den Aggressoren fliehen wollte. Über ein Mobiltelefon hält das Kind ein paar Stunden lang Kontakt mit einer palästinensischen Hilfsorganisation, die verzweifelt versucht, ihm einen Krankenwagen zu schicken, ohne auch diesen den Gewehren der Israelis auszuliefern. Man verhandelt, ringt um Straßenfreigaben, leistet Überzeugungsarbeit und nimmt fatale Risiken in Kauf: Die Bürokratie des Krieges ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten.

Drei Frauen stehen um einen sitzenden Mann, der auf ein Mobiltelefon blickt.
Bild anzeigen

Eine Nuklearrakete, anonym abgefeuert irgendwo im Pazifik, steuert auf die Millionenstadt Chicago zu. Weniger als 20 Minuten bleiben, um den Lenkflugkörper zu neutralisieren. Im Situation Room des Weißen Hauses geht man, während der Kurs der Rakete mit Countdown auf dem Großbildschirm verfolgt wird, in aller Eile Gegenmaßnahmen durch: Die tausendfach trainierten Abläufe greifen, die Hierarchiekette wird eingehalten, die von hochrangigen Militärs und Sicherheitsberatern bis zum Präsidenten der USA führt – und bis zur grauenerregenden Frage, ob der atomare Vergeltungsschlag sofort zu folgen habe. Eine andere Form der Bürokratie, apokalyptisch zugespitzt, nimmt Gestalt an.

Die Stimme eines Kindes in Todesangst hier, der Beginn eines atomaren Weltkrieges dort: Das scheinbar Geringste verschwindet nicht im Allergrößten, der Kampf um jedes Menschenleben ist so entscheidend wie jener um den ganzen Planeten, individuelle Empathie die Grundlage jedes Humanismus. Zwei Momente aus dem Wettbewerbsprogramm der 82. Filmfestspiele in Venedig, Szenen aus der tunesisch-französischen Produktion „The Voice of Hind Rajab“ und aus dem Netflix-Thriller „A House of Dynamite“.

Weiblich geführt sind beide Filme, die auf jeweils nur einen Raum konzentriert sind: Die Tunesierin Kaouther Ben Hania rekonstruiert mit einem – emotional groß aufspielenden – palästinensischen Ensemble das reale Drama in der Einsatzzentrale einer Organisation in Ramallah, die Hilfsmissionen koordiniert. Nicht ganz so konsequent wahrt die Amerikanerin Kathryn Bigelow die Einheit ihres Schauplatzes, aber auch sie konzentriert sich auf die nervenzerrüttende Spannung, die sich an einem Ort bilden kann, in dem eine Gruppe von Menschen um Rettungsmaßnahmen kämpft.

Die Entscheidung, die originalen Telefonaufzeichnungen, die Stimme des ums Überleben kämpfenden Mädchens zu verwenden, verleiht Ben Hanias Film enorme Dringlichkeit und auch hochmanipulative Wirkung, wirft zudem ethische Fragen auf: Sollen die flehentlichen Rufe eines Kindes in Todesangst Teil eines Spielfilms werden? Ben Hania enthält sich konkreter politischer Agitation, zeichnet aber das klar parteiische Bild eines Krieges, in dem die hilflose, unbewaffnete Zivilbevölkerung, Frauen, Kinder und Ambulanzfahrer beschossen und ermordet werden. In Venedig gab es dafür 23 Minuten lang Ovationen, Palästinaflaggen wurden geschwenkt, „Free Palestine!“-Rufe laut. Die Regisseurin hat für ihren Film prominente Rückendeckung aus Hollywood erhalten, die Schauspieler Joaquin Phoenix und Brad Pitt treten nun ebenso wie die Regisseure Jonathan Glazer und Alfonso Cuarón als executive producers auf. Nach der Uraufführung des beklemmenden Werks vor wenigen Tagen steht seiner globalen Erfolgstour nichts mehr im Weg.

„A House of Dynamite“ weist größere strukturelle Komplexität auf. Drehbuchautor Noah Oppenheim dehnt die gute Viertelstunde, die der Sprengkopf Richtung Chicago unterwegs ist, durch ständig wechselnde Blickwinkel und Figuren-Backstories (mit dabei: Rebecca Ferguson und Idris Elba) auf das etwa Doppelte aus – und wiederholt die zunehmend panischen Reaktionen auf die drohende Detonation dreimal hintereinander aus verschiedenen Blickwinkeln; eine gewissermaßen kubistische Perspektive auf die alarmierenden Prozesse. Bigelow verweigert Heroisierung ebenso konsequent wie Verurteilung, fiktionalisiert die Regierung der USA zu einer ratlosen, aber verantwortungsbewussten, um Menschlichkeit bemühten Instanz. So zeichnet die Regisseurin ein im Kino rares, zugleich utopisches und dystopisches Bild einer gefährlichen, nahen Zukunft.

Mussolini & Putin

Das diesjährige Programm des Filmfestivals am Lido hat sich auch abseits dieser beiden Produktionen als politisch wach und ästhetisch vielfältig erwiesen. Pietro Marcellos formidable Tragikomödie der späten Jahre der – von der Charakterdarstellerin Valeria Bruni Tedeschi in aller Flamboyanz dargestellten – italienischen Theater-Diva Eleonora Duse (1858–1924) führt in die Zeit des aufkeimenden Faschismus, also nicht nur zurück zu Mussolini, sondern auch in die Gegenwart: Der Idee einer „reinen“ Kunst, fernab ihrer Verantwortung für die Gesellschaft und den jeweils Mächtigen gegenüber, erteilt „Duse“ eine deutliche Absage. Weniger erfolgreich führt der Franzose Olivier Assayas in „Der Zauberer des Kreml“ in die Hinterzimmer der jüngeren russischen Geschichte: Angelehnt an die Biografie des Putin-Flüsterers Wladislaw Surkow tritt darin Paul Dano als politischer Konformist in Szene, an seiner Seite drosselt der Brite Jude Law als Wladimir Putin seine Ausdruckskraft jedoch zu wenig, um als frostklirrender Kreml-Chef glaubhaft zu wirken.

Männer in dunklen Anzügen und Uniformen bei einer Art Empfang, zwei davon tauschen Blicke aus.
Bild anzeigen

Und Streitbares wie Luca Guadagninos „After the Hunt“ – ein Film, in dem Julia Roberts als Uni-Professorin in die Unterströmungen eines Vergewaltigungsvorwurfs gegen einen Freund und Kollegen gezogen wird – lief zwar außer Konkurrenz, heizte aber die Debatten um politische Korrektheit absichtsvoll so weit an, dass die konsternierte Hauptdarstellerin sich bei der Pressekonferenz gegen die Unterstellung verteidigen musste, an einem antifeministischen Film mitgewirkt zu haben.

Stefan Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.