Zwei junge Mädchen in einem Kettenkarussell, hoch über Wien
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Regiedebüts als Schwebezustände: hochklassiges junges Kino aus Wien

Solidarität in monströsen Zeiten: Österreichs junge Kinoszene traut sich neuerdings einiges zu. In ihren ersten großen Spielfilmen finden Marie Luise Lehner und Florian Pochlatko zu souveränen eigenen Handschriften.

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Die Welt ist zu kompliziert, um ihr mit simplen Gleichungen beizukommen. Warum sollten die Versuche, den Verhältnissen um uns gerecht zu werden, nicht ebenso unübersichtlich sein wie diese selbst? Schon die Titel jener beiden Filme, die dieser Tage in Österreichs Kinos gelangen, scheinen um die Ecke denken, über die Bande spielen zu wollen – in beiden steckt aber auch eine ironische Handlungsanweisung, eine Hilfeleistung für schwierige Momente: „Wenn du Angst hast, nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst“, so heißt der eine Film. Der andere nennt sich, nur unwesentlich schlichter, „How to be Normal and the Oddness of the Other World“.

So labyrinthisch die Titel, so anspielungsreich ihre Basisbotschaften: Das Unbehagen lässt sich im Zaum halten, und sonderbarer als der Wunsch nach Anpassungsleistung ans „Normale“ ist die Welt auf der anderen Seite, jenseits des Gewöhnlichen, auch nicht. Wer irrational, also „verrückt“ auf die Gegenwart reagiert, hat vielleicht mehr von ihr verstanden, als all die bestens Integrierten und amtlich Etablierten.

Junge Frau mit breitkrempigem weißem Hut, ihr Gesicht halb darunter verborgen
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Pia beispielsweise hat vieles begriffen. Sie ist Mitte 20 und kommt gerade aus der Psychiatrie (Diagnose: bipolar), um ihr altes Kinderzimmer wieder zu beziehen und Anschluss an Alltag, Liebe und Arbeit zu finden. Das ist aber nicht einfach, wenn einen kaum jemand mehr für „normal“ hält und das Stigma der Krankheit ihr überallhin vorauseilt wie eine Hiobsbotschaft. Florian Pochlatko, Regisseur und Autor von „How to Be Normal“, erzählt aus Pias Perspektive, porträtiert die Welt als Rätsel- und Splitterwerk.

Sein in Österreichs Kinos soeben gestarteter Film sei „sehr persönlich“, sagt Pochlatko, „aber nicht autobiografisch. Ich hatte genug Erfahrungen, um mir zuzutrauen, zu dem Thema etwas zu sagen.“ Die kaleidoskopische, nervöse Form habe sich „aus ebendieser Erfahrungswelt“ ergeben: „das Multiperspektivische, wenn Leute Zugriff auf einen haben und einem erklären, wie die Welt zu sein habe, dieses Flirrende, Manische.“ Die Schauspielerin Luisa-Céline Gaffron stellt Pia in „How to Be Normal“ nicht als Opfer der Umstände, sondern als eine Art Naturgewalt dar, die den Zumutungen ihrer Umwelt, den Vorurteilen, der Bürokratie und dem Medien-Overkill ihre innere Stärke, einen ganz speziellen Humor und eine Wildheit entgegensetzt, die man fatalerweise für Wahnsinn hält.

Normalität und Anderssein

Auch Anna kennt sich aus, obwohl sie erst halb so alt wie Pia ist. Die Zwölfjährige lebt mit ihrer gehörlosen Mutter in einer kleinen Wiener Wohnung, doch das Innenstadtgymnasium, in das sie nun kommt, ist primär von Kindern aus begüterten Haushalten besucht. Das verunsichert die selbstbewusste Anna wenig, zumal sie in der eigenwilligen Mara, die von ihrem queeren Vater erzogen wird, bald eine Verbündete findet. Grund zu leiser Verstimmung hat sie dennoch: Am Skikurs der Schule kann sie aus Geldnot nicht teilnehmen, und ihre Mutter bringt einen neuen Liebhaber mit nach Hause. Doch das Anderssein hat seine eigenen Glücksoptionen. Auch dem Film „Wenn du Angst hast …“ liegt die Überzeugung zugrunde, dass das „Normale“ ein vielleicht bequemeres, aber keineswegs besseres Leben ermöglicht.

Entspannt auf einer blauen Couch sitzende junge Frau blickt direkt in die Kamera
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„Themen, die mich immer beschäftigt haben, sind Klasse und Klassenunterschiede, darüber habe ich auch in meinen Romanen schon geschrieben“, sagt Marie Luise Lehner, die diesen Film erdacht, geschrieben und inszeniert hat. „An der Filmakademie habe ich mich selbst finanziert, wurde nicht von den Eltern unterstützt, was durchaus kompliziert ist, wenn man rund 70 Stunden die Woche studieren muss.“

Beide Produktionen, die ihre Weltpremieren im vergangenen Februar bei den Filmfestspielen in Berlin feierten, wirken ästhetisch so originell, wie sie politisch informiert sind. Ein aus den frühen 1930er-Jahren stammendes Zitat des italienischen Philosophen Antonio Gramsci steht am Anfang von „How to Be Normal“: Die alte Welt liege im Sterben, die neue sei noch nicht geboren: Dies sei „die Zeit der Monster“. Gramsci meinte damit den einst heraufdämmernden Faschismus, insofern passt der Satz auch gute 90 Jahre später noch bestens.

Dann aber dreht „How to Be Normal“ auf, mit Nachrichten aus der Psychoabteilung des Klinikums Süd, mit einer wilden Melange aus Mockumentary, Avantgarde- und Horrorfilm, mit assoziativen Querschlägern und scharfzüngigem Witz.

Jugendliche Lebensrealitäten

Lehner und Pochlatko forschen, gerade auch durch die Stilisierung ihres Kinos, nah an den jugendlichen Lebensrealitäten Mitte der bedrückenden 2020er-Jahre: Sie arbeiten sich an Themen wie psychischer Gesundheit, Diversität, Queerness und Klassismus mit sozialkritischer Verve ab.

Junger Mann mit Schirmkappe in der Hocke auf einer Wiese, neben ihm die Metallskulptur eines auf dem Rüssel stehenden Elefanten
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Florian Pochlatko, geboren 1986, spricht schnell und sprunghaft, wie sein Film, englische Begriffe fügt er spielerisch in seine manchmal ironischen, zuweilen auch angemessen zornigen Tiraden ein; das System müsse man challengen und sowieso out of the comfort zone arbeiten. Der enorme Enthusiasmus, den er seiner Arbeit entgegenbringt, ist greifbar, Pochlatko brennt für das Kino, für Eitelkeiten hat er weder Verwendung noch Eigenbedarf, als erster und schärfster Kritiker seiner selbst verfügt er über ein auf Hochtouren laufendes Über-Ich. 2013 legte er mit dem Teenager-Kurzfilm „Erdbeerland“ eine erste Talentprobe vor, erhielt dafür etliche Preise. Michael Haneke war sein Regieprofessor an der Wiener Filmakademie, zudem studierte er bei dem Poptheoretiker Diedrich Diederichsen an der Akademie der bildenden Künste. Ab 2013 verlagerte Pochlatko seinen Aktionsradius in den Musikvideobereich, während er über Jahre verzweifelt um die Chance kämpfte, sein Spielfilmdebüt zu drehen.

Stefan Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.