Regisseur Alexander Charim bei der Nestroy-Gala 2016

Regisseur Alexander Charim: Jugendstil

Um am Theater erfolgreich zu sein, braucht man Sinn für die Absurditäten des Lebens und eine Portion Musikalität.

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Es schadet nicht, die eigenen Kinder zu überfordern. Oder wenigstens: sie in Stücke mitzunehmen, die nicht ganz jugendfrei sind. In Peter Zadeks gefeierter "Lulu"-Inszenierung, die 1991, gute drei Jahre nach der Uraufführung, bei den Wiener Festwochen zu besichtigen war, stand Hauptdarstellerin Susanne Lothar über weite Strecken nackt auf der Bühne. Dr. Schön, ein reicher Journalist, gespielt von Ulrich Wildgruber, hatte sie von der Straße geholt und zur Prostitution gezwungen. Am Ende sieht man - bei Zadek sehr realistisch in Szene gesetzt - einen Serienkiller wüten, der seinen Opfern die Vagina aus dem Körper schnitt. Das war selbst für Erwachsene harter Stoff.

Aber woran erinnert sich ein Zehnjähriger, der damals zum ersten Mal im Theater saß? "Ich war fasziniert davon, wie grazil dieser dicke Schauspieler Ulrich Wildgruber eine Treppe hinunterstürzen konnte." So beschrieb der Regisseur Alexander Charim die ungewöhnliche Initialzündung für seine Theaterbegeisterung, als er vor ein paar Wochen für seine Inszenierung "Lichter der Vorstadt" mit dem Nestroy-Preis für die beste Bundesländerproduktion ausgezeichnet wurde. Während andere sich bei der Gala darauf beschränkten, brav ihre Dankesworte abzuliefern, stürmte der junge Mann auf die Bühne, erzählte höchst pointiert eine private Geschichte und schuf mit wenigen Worten ein ganzes Universum, das den Zauber des Theaters beschwor, es als einen Ort auswies, an dem die Gesetze der Schwerkraft keine Rolle zu spielen scheinen, an dem Charisma und Wandlungsfähigkeit alles möglich machten: wo die 1999 verstorbene Schauspieler-Naturgewalt Wildgruber eben plötzlich das anmutigste Wesen der Welt sein konnte.

Ich war immer ein wahnsinnig schlechter Schüler. Im Theater merkte ich, dass es eine extreme Freiheit gibt. Ich kann jemand ganz anderer sein. Das hat mich fasziniert. (Alexander Charim)

Alexander Charim, 1981 in Wien geboren, Sohn eines renommierten Anwalts und einer nicht weniger bekannten Galeristin, ist Spezialist für Anekdoten mit Tiefgang. Er ist ein freundlicher Mensch, zugleich ein scharfer Beobachter, dem keine Absurdität, kein menschlicher Abgrund entgeht. Wenn er spricht, schaltet sich beim Zuhörer automatisch das Kopfkino ein: Man sieht Wildgruber förmlich fallen. Charim ist als Redender wie auch als Regisseur auf der Suche nach starken, überraschenden Bildern. Theater sei jener Ort, an dem man seine eigene Wahrheit erzählen, eine Haltung zur Welt einnehmen könne, fügte er in seiner Dankesrede hinzu - und verschwand ebenfalls ziemlich leichtfüßig von der Bühne. Im profil-Gespräch legt er wenig später den autobiografischen Kern dieser Geschichte offen: "Ich war immer ein wahnsinnig schlechter Schüler. Im Theater merkte ich, dass es eine extreme Freiheit gibt. Ich kann jemand ganz anderer sein. Das hat mich fasziniert."

"Lichter der Vorstadt", als Abschiedspremiere der Intendantin Bettina Hering am Landestheater St. Pölten 2016 entstanden, ist ein typischer Charim-Abend, geschmeidig und doch raffiniert, sehr musikalisch komponiert. Vier der lakonischen Filme des Finnen Aki Kaurismäki sind darin zu einem Bühnenstück ineinandergeblendet, das Schlaglichter auf verzweifelte, einsame Figuren wirft, die trotz widriger Umstände ihren Stolz bewahren. "Das bestens eingespielte Ensemble des Landestheaters präsentiert sich in der punktgenauen Bilderbogen-Inszenierung in Höchstform", befand die "Wiener Zeitung". Und die Nestroy-Jury lobte: "Alexander Charim gelingt es, den 'Spirit', diese spezielle Atmosphäre der Kaurismäki-Filme, auf die Bühne zu übertragen." Für seine jungen Jahre verfügt der Regisseur über ein erstaunlich ausgeprägtes Formbewusstsein. Früh inszenierte er sowohl Schauspiel als auch Oper - eine durchaus ungewöhnliche Doppelbegabung, von der beide Sparten profitieren.

"Charim ist im Schauspiel ein Opernregisseur, er gibt den Akteuren musikalisches Gefühl für die Rolle", sagt Andreas Beck, mittlerweile Leiter des Theater Basel, der als Intendant am Wiener Schauspielhaus Charim früh gefördert hat. "Als Opernregisseur wiederum weiß er genau, wie wichtig gutes Schauspiel ist." Alexander Charim selbst bringt den Unterschied zwischen beiden Sparten anhand eines praktischen Beispiels auf den Punkt. "Ich habe heute Vormittag mit einer Schauspielerin und einem Sänger geprobt. Auf der Bühne stand eine wackelige Stiege. Der Sänger meinte:'Pass auf, sie fällt um.' Die Schauspielerin sagte: 'Ist doch egal, wir schmeißen uns einfach runter.'"

Als ich reinkam, lag Zadek nackt im Wohnzimmer auf seiner Couch und sah mir in die Augen. (Alexander Charim)

Erste Erfahrungen am Theater sammelte Charim als Hospitant. Peter Zadek, der ihn schon als Kind begeistert hat, arbeitete gerade am Burgtheater, der neue Hospitant wurde in die Wiener Wohnung des deutschen Regisseurs gebeten, um sich vorzustellen. "Als ich reinkam, lag Zadek nackt im Wohnzimmer auf seiner Couch und sah mir in die Augen", erinnert sich Charim. "Er hat sichtlich genossen, dass ich mich total geschämt habe." Und klar habe er später, wie alle im Team, vor Zadek Angst gehabt. "Wenn er auf die Probe kam, fielen die Fliegen tot von der Wand. Er war schon brutal, hatte Lust, alles auf den Kopf zu stellen, ein Macho zu sein", erinnert er sich an den 2009 verstorbenen Regie-Giganten. "Aber die Bühne war ein heiliger Ort, es war wichtig, dass man auf den Proben nicht nur so tut als ob, dass man Theater ernst nimmt. Diese Erfahrung hat mich sehr geprägt."

Mit 18 bewarb sich Charim am Reinhardt Seminar, wurde aber nicht genommen, weil er zu jung war. Luc Bondy lud ihn ein, bei ihm zu hospitieren. "Ich zehre bis heute von dieser besonderen Stimmung aus Erotik und Hingabe, die bei den Proben herrschte; Bondy hat seine Schauspieler geliebt und getragen." An der Ernst-Busch-Schule in Berlin hatte Charim dann mehr Glück bei der Aufnahmeprüfung, er studierte dort zwischen 2003 und 2007 Regie. Nach wie vor lebt er in Berlin - es sei wichtig gewesen, in eine Stadt zu gehen, wo keiner nach seinen bekannten Eltern fragt. "In der ewig gleichen Suppe zu schwimmen, finde ich gefährlich", sagt er. "Wien ist klein, wie man hier über Theater denkt, verändert sich nicht sehr schnell."

Charim hat an vielen kleinen und mittleren Bühnen in Deutschland inszeniert; für den berüchtigten "Gang durch die Provinz" ist er sich nicht zu schade. "Gerade dort sitzen doch Leute, die etwas wollen", sagt er mit Elan; an Orten wie Osnabrück, Aachen oder Trier hat er sich schon sperrige Stoffe wie "Don Carlos", Jelineks "Winterreise" oder Peter Handkes "Immer noch Sturm" vorgenommen. "Wenn man das Publikum erst verführt hat, ist es treu", davon ist er überzeugt.

Als frühe Karrierestation war Österreich wichtig. Thomas Ostermeier, Leiter der Berliner Schaubühne, hatte seinen Studenten Andreas Beck empfohlen. Beck war begeistert von dem "immer eloquenten" jungen Mann, von dessen Sprachtalent und Schmäh. "Er ist ein sehr sinnlicher Regisseur, ein Genießer, der eine große Liebe zum Metier hat, das wissen auch die Schauspieler zu schätzen." Zu einem Höhepunkt dieser Zusammenarbeit geriet Ende 2014 die Uraufführung der Verbrecher-Ballade "Johnny Breitwieser" von Autor Thomas Arzt und Musiker Jherek Bischoff am Schauspielhaus, einer Art Wiener "Dreigroschenoper". Breitwieser hatte während des Ersten Weltkrieges geholfen, die Not in den Vorstädten zu lindern, indem er mit seiner Bande auf Raubzug ging. "Ein kleiner Meteor am Wiener Theaterhimmel", schrieb "Der Standard". Hauptdarsteller Martin Vischer gelang nach seiner Performance als Wiener Strizzi der Sprung ins Burgtheater-Ensemble.

Charim studiert auch abseits des Theaters soziale Konstellationen, ihm wird alles zum Stoff. Seine Tochter wurde gerade eingeschult, vor einigen Wochen war er zum Elternabend eingeladen, wo er zunächst Angst hatte, es würde langweilig werden. "Aber dann merkte man die Hackordnung: wer die Reicheren waren und wer die Ärmeren, wer die Führung übernahm und wer nur zuschaute. Das war ein unglaublich spannender gesellschaftlicher Raum." Zu Hause habe ihn seine Frau dann gefragt, was an diesem Elternabend genau besprochen worden sei. Er habe aber keine Ahnung gehabt, hatte nur die Leute beobachtet, erzählt er amüsiert.

Es sind Beobachtungen wie diese, die letztlich den Rohstoff darstellen, aus dem spannende Inszenierungen gemacht werden. Theater eben, das eine Wahrheit erzählt.

Karin   Cerny

Karin Cerny