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„Hänsel und Gretel“: Halloween mit Stephen King, dem King of Horror
Was hier geschieht, lässt einen nicht so schnell mehr los. Es geht um Missachtung, Kannibalismus, Mord, Kindesweglegung, Folter, wilde Tiere, die Menschen zerreißen. Mittendrin in diesem Meer des Grausens: die zwei lieben Kinder Hänsel und Gretel, Brüderchen und Schwesterchen.
Kein Pfeifen hilft im stockfinsteren Wald, kein Flehen und Betteln, sobald die steinalte Frau, die sich bald als böse Hexe entpuppen wird, aus ihrem Knusperhäuschen schlurft, und das mit Riesenappetit: „Das wird ein guter Bissen für mich sein!“ Auf ihrem Speiseplan stehen die beiden Kinder. „Wenn eins in ihre Gewalt kam, da machte sie es tot, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag.“
„Hänsel und Gretel“ ist eines der bekanntesten deutschsprachigen Märchen, eine wenige Seiten umfassende Geschichte, deren vorrangiges Bezugssystem pures Erschrecken und Erstaunen sind, ihr Maß und ihre Mitte. Ein Es-war-einmal-gar-Schreckliches-Paradebeispiel – das allerdings seit seinem erstmaligen Erscheinen nie als reine Kinderlektüre intendiert war.
Es war einmal …
Jacob und Wilhelm Grimm wurden nicht über Nacht zu Klassikern. Die erste Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ mit „Hänsel und Gretel“ als Geschichte Nummer 15 erschien 1812. Der Verkauf lief schleppend, die Kritiken waren vernichtend. Die Zeitgenossen mokierten sich über den rohen Schreibstil und wunderten sich, dass zwei Geistesgrößen, immerhin die Gründerväter der Germanistik, Sprachwissenschaft und Volkskunde, sich mit solchem Tand abgaben.
Das Bild von der Großmutter am Herdfeuer, die ihren Enkeln jene Geschichten erzählt, die von den Grimms später nur noch aufgeschrieben werden mussten, stimmt außerdem nicht. Die Grimms selbst vermittelten den Eindruck, sie hätten die einzelnen Texte, Heide und Moor durchwandernd, in Feldforschung aufgespürt; der unermüdliche Grimm-Forscher Heinz Rölleke hat darauf hingewiesen, dass sich die Brüder so gut wie alle Märchen in ihrer Kasseler Wohnung erzählen ließen – und sich dann ans Umschreiben machten. Die berühmten Formeln „Und wenn sie nicht gestorben sind …“ und „Es war einmal …“ gehen auf Wilhelm Grimm zurück. Heute sind die „Kinder- und Hausmärchen“ mit Abstand das weltweit meistverbreitete Buch deutschsprachiger Herkunft, übersetzt in alle Kultursprachen, synonym für ein ganzes Genre.
Auf den US-Autor Stephen King geht nun die jüngste Interpretation von „Hänsel und Gretel“ zurück. Der Text dazu stammt vom landläufig „King of Horror“ genannten Schriftsteller, die Illustrationen vom 2012 verstorbenen Zeichner und Autor Maurice Sendak („Wo die wilden Kerle wohnen“), der in den 1990er-Jahren Bühnenbilder für eine „Hänsel und Gretel“-Opernadaption gestaltete, die nunmehr Kings Bearbeitung flankieren.