Reportage

Streitereien im Salzkammergut: Eine Rundreise durch die Kulturhauptstadt 2024

Um Sinn und Unsinn des Titels Kulturhauptstadt wird in dem Landstrich zwischen Seen und Bergen gerade heftig gerungen.

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Ein berstender Terminkalender und wenig Zeit. Die Tage von Elisabeth Schweeger im Postgebäude von Bad Ischl, auf dem die kaiserlich-königliche Inschrift „Post- u. Telegrafen-Amt“ prangt, haben nicht genügend Stunden. Die Kulturmanagerin ist die Intendantin des Unternehmens „Salzkammergut 2024“, für das sich 23 Gemeinden der Region mit ihren 140.000 Bewohnern zur europäischen Kulturhauptstadt 2024 zusammentun. „Das ist ein sehr großes Projekt, keine Frage, das jetzt an Fahrt aufnimmt“, sagt Schweeger, 69, in ihrem Büro. Sie hat das Schauspiel in Frankfurt geführt und etliche Großprojekte geleitet. Sie wirft große Fragen in den Raum: „Welchen Stellenwert hat die Kunst? Wo steht sie? Wie integriert sie sich in gesellschaftliche Prozesse? Ohne Kunst geht gar nichts.“

Ex-Cathedra-Verkündigungen, sagen in Bad Ischl viele, seien Schweeger nicht ganz fremd. Theater und Theorie könne sie, Bierzelt und Weinstube eher nicht, was vielleicht Teil jenes Fremdelns ist, mit dem die anrollende Kulturhauptstadt zu kämpfen hat. Im Land und bei den Leuten sei sie noch nicht angekommen. „Die Leute regen sich auf, was ja gesund ist, weil man so über die eigenen Konditionen nachdenkt: Was sind wir? Was können wir? Ist da noch mehr drin? Diesen Diskurs nenne ich einen demokratischen Vorgang.“ Alle Kulturhauptstädte hätten dasselbe Problem, sagt Schweeger, ehe wieder die Arbeit ruft: „Zwei Jahre vorher fangen alle an zu mosern, weil Ungewissheit herrscht, die Künstlerinnen und Künstler an ihren Projekten arbeiten und noch nicht öffentlich präsent sind. Die Projekte finden 2024 statt, nicht im Vorfeld. Die Vorbereitungszeit ist eine Zeit des Erarbeitens, des Miteinanderredens, des Vertrauenfassens.“

Bad Ischl ist die Bannerstadt. Gemeinsam mit Gmunden, Goisern, Ebensee, Hallstatt, Bad Aussee, Altaussee und anderen Gemeinden formt sich das Salzkammergut zur Kulturhauptregion, in der Ausstellungen, Theater- und Opernaufführungen, Lesungen und historische Projekte zu erleben sein werden. Im Jänner 2024 findet im Bad Ischler Kurpark die Eröffnung statt. Mit Musikkapellen aus Europa und dem Salzkammergut gemeinsam mit der US-Spektakeltruppe Itchy-O. Eine „riesige funky Konzertexplosion“ um rund 300.000 Euro, so steht das im sogenannten Bewerbungsbuch für die Kulturhauptstadt zu lesen. Derart riesig und funky dürften viele kommende Veranstaltungen nicht mehr ausfallen: 27 Millionen Euro stehen bereit, im Vergleich zu Graz 2003 mit rund 60 Millionen Euro und Linz 2009 (70 Millionen) eine mehr als überschaubare Summe.

Was die Salzkammergutwelt zusammenhält

Ein Weg führt ins Salzkammergut hinein und wieder hinaus. Man muss entlang der B 145 viele Menschen fragen und einige Umwege machen, um eine Ahnung davon zu bekommen, was die Salzkammergutwelt als Kulturhauptstadt zusammenhält. Salzkammergut, das sind traditionell Sommerurlaubsträume und Endlosnieselregen, Bergmassive vom Dachstein abwärts und Seen, wie für die Tourismusindustrie erfunden. Hallstatt am Hallstättersee wird von einem Strom von Besuchern aus Asien verstopft, seit in der chinesischen Provinz Guangdong ein Nachbau des österreichischen Dorfes steht und eine südkoreanische TV-Serie in Hallstatt gedreht wurde.

In Bad Ischl gehört Franz Joseph I. zur Stadtmöblierung. Es würde einen nicht wundern, bummelte der Kaiser samt Entourage plötzlich um die Ecke, was tatsächlich manchmal passiert, weil sich die Einheimischen gern als Franz Josephs und Sisis verkleiden. Man staunt, dass die Zeit so wenig von Kaisertum und Doppelmonarchie hinweggespült hat.

Das Großexperiment Kulturhauptstadt geht ungefähr so: Ein Sammelsurium von Good-Old-Salzkammergut-Bildern prallt auf Avantgarde und Urbanität. Das Salzkammergut, noch immer ein Hort des Konservativismus und der Selbstbezogenheit, probt Neues. Die Glorie der Vergangenheit wird durchlüftet, was nicht allen passt.

Es gilt, Puzzleteile zusammenzufügen. Es sind Geschichten zu erzählen. Vom Stänkern und Streiten in knurrigem Grundton. Von jener Lächerlichkeit, die überzogene Aufgeregtheit produziert. Von Poesie und Pornografie. Vieles im Salzkammergut passiert mit beträchtlicher Wucht, in maximalen Gegensätzen.

Bad Ischl summt vor Gerede und Gezische. Das Wetter hat an diesem Dienstagvormittag vergessen, dass Frühling ist. Wenn man über das große Ganze reden will, ist die Journalistin Doris Nentwich im Ischler „Café Ramsauer“ eine gute Gesprächspartnerin. Seit 2021 leitet sie die „Ischler Woche“, mit 20.000 Abonnentinnen und Abonnenten das beliebteste Medium des inneren Salzkammerguts. Für Nentwich ist der Titel eine „ungemein charmante Auszeichnung für die Region mit gewissen Unsicherheiten“: „Viele Menschen hier tun sich noch schwer mit der Vorstellung, was das Jahr alles bringen soll. Mit dem Open Call hätten heimische Kulturschaffende eingebunden werden sollen. Das ist nur zum Teil gelungen.“ 1000 Vorschläge trudelten ein, über 900 wurden abgelehnt.

Im weiteren Europa wiederum dürfte man sich ungläubig die Augen reiben, wenn man genauer auf die SPÖ-Hochburg Bad Ischl blickt. Hier zeigt sich, was passiert, wenn es der Politik um die Eroberung von Macht, Terrains, Claims, Begriffen geht. Der ehemalige Ischler Bürgermeister Hannes Heide, hauptverantwortlich für den Titel der EU-Kulturhauptstadt, wurde 2019 für die SPÖ ins EU-Parlament gewählt. Ines Schiller, langjährige Sozialstadträtin und Lebensgefährtin Heides, sowie Hannes Mathes, damals Landesgeschäftsführer der Salzburger SPÖ und davor als Fraktionschef in der Ischler SPÖ aktiv, meldeten ihre Ansprüche auf das Bürgermeisteramt an. Schiller setzte sich mit Unterstützung Heides durch. Erst Anfang 2020 wählte der Gemeinderat Schiller offiziell zur Bürgermeisterin. Mathes wiederum gründete die ÖVP-nahe Liste „Zukunft Ischl“ und bekleidet das Vizebürgermeisteramt, das er eher in der Rolle des Oppositionsführers ausführt. „Es herrscht eine vergiftete Stimmung und Stillstand im Ort, Schiller und Mathes agieren gegen- anstatt miteinander“, sagt Nentwich. In einem Interview der „Ischler Woche“ mit Hannes Heide fragte Nentwich fortgesetzt nach, ob, wie von Heide angekündigt, zusätzliche EU-Fördergelder für das Kulturjahr bereitstünden. Irgendwann resignierte Nentwich: „Sie haben damit immer noch nicht meine Frage beantwortet.“

Mehr und besser miteinander leben

Man kriegt interessantere Antworten, wenn man sich mit Mario Friedwagner im Studio des Freien Radios Salzkammergut triff. Friedwagner ist ehemaliger Geschäftsleiter des Vereins. „Damals hinterm Mond“ singt Sven Regener gerade on air. Friedwagner spricht davon, dass er Europa im Salzkammergut vermisse: „‚Auf dem Weg zur Kulturhauptstadt‘ ist auf den Plakaten zu lesen. Wo bleibt Europa?“ Zugleich wendet sich Friedwagner gegen jede „Empörungsbewirtschaftung“. Auf die Kulturhauptstadt will er genauso wenig draufhauen, wie er den Tücken der Vereinfachung erliegen möchte. „Das Projekt Europa wird nur dann erfolgreich sein, wenn es die Menschen in den Regionen und an den Rändern mit ins Boot holt. Es geht um hochpolitische Fragen: Wie wollen wir zusammenleben? Was ist mit den explodierenden Baulandpreisen? Was passiert mit dem öffentlichen Verkehr? Gerade die Kultur muss sich hier einmischen und Stellung beziehen.“ In Bad Ischl gibt es keinen Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst, kein offenes Kulturhaus, keine Stadtbibliothek, nur die öffentliche Büchersammlung der Pfarre. Europa heißt auch, mehr und besser miteinander leben. Friedwagner zitiert das Wort des Bad Ausseer Schriftstellers Alfred Komarek von den „Klein- und Kleinstkönigreichen“ innerhalb des Salzkammerguts. Jeder sein eigener König, jede ihre eigene Königin. Wenn es um den Anschein von Größe geht, kennt man hier kein Pardon.

Zwischenstation in Ebensee am Traunsee. Von dem ehemaligen Konzentrationslager Ebensee, einem Außenlager von Mauthausen, sind nur noch Spuren zu sehen, die sich auf mehrere Stationen verteilen. Vom Ebenseer KZ-Haupteingang steht noch der Torbogen mit der Inschrift, die verkündet, dass hier 8000 Menschen ermordet wurden. Der Ungeist, der im schwarzgrauen Stein steckt, steht in bizarrem Gegensatz zur pastellfarbenen Eigenheimlandschaft, die das Mahnmal umschließt. Ein Land verbaut, vermauert, verdrängt seine Geschichte, das Trauerspiel der austriakischen Nachkriegsnormalität. 2024 ist eine Installation im Stollen des KZ Ebensee geplant.

Weiter die 145 nach Bad Aussee, ins steiermärkische Salzkammergut. Hier warten in der Redaktion der „Alpenpost“ Lutz Maurer, 82, und Florian Seiberl, 47, seit 2007 Chefredakteur des Lokalblatts, das 14-täglich an 6300 Abonnenten verschickt wird. Lutz Maurer darf man Alpinlegende nennen. Er hat das ORF-Format „Land der Berge“ miterfunden und den Everest-Erstbesteiger Edmund Hillary interviewt. Auf Elisabeth Schweeger ist er nicht besonders gut zu sprechen. In Bad Ischl wurde er mit einem Buchprojekt über den jüdischen Textilkonzern Mautner vorstellig – und mit dürren Briefzeilen abgelehnt. „Ich bin nicht gekränkt, nur verwundert“, sagt Maurer: „Ein Buch ist viel nachhaltiger als jedes Konzert.“ Das Hauptstadtmotto „Kultur ist das neue Salz“ wischt Seiberl en passant vom Tisch: „Salz wird hier seit der Bronzezeit abgebaut. Was soll der Spruch?“

Seiberl sagt von sich selbst: „Ich bin ein großer Freund der Kulturhauptstadt – und der größte Kritiker ihrer Kommunikationspolitik.“ In der „Alpenpost“ berichtet er aufgewühlt von einem Vorfall im Ausseer Kurhaus: „Das Auditorium erlebte einen interessanten Abend mit einem äußerst unguten Ende, als dem Fragesteller Lutz Maurer das Mikrofon abgeschaltet wurde.“ Seiberl vermutet Schweeger dahinter, die taxfrei für vieles herhalten muss, was unrund läuft. Mit Grimm sagt Maurer: „So hat sich ein Gast in Bad Aussee nicht aufzuführen.“ Es gehe auch darum, wie gespürig man mit der Region umgehe, ergänzt Seiberl. Zum Abschied verteilt Maurer Haltungsnoten. „Im Eiskunstlauf war die Note sechs einst das Optimum. Frau Schweeger bekommt 3,4 Punkte.“

Marcel Prawy des Salzkammerguts

Zurück in Bad Ischl. Von den Schwierigkeiten, miteinander zu reden, weiß auch Alexander de Goederen, 55, zu berichten. Er betreibt wenige Meter Luftlinie vom Postgebäude entfernt, in dem Elisabeth Schweeger herrscht, die Buchhandlung „Kurdirektion“. De Goederen mischt gern mit und auf: Er gründete das Indie-Label Trost-Records und das Lokal Fluc am Wiener Praterstern. Nach 30 Jahren Wien lebt er heute in der Villa Blumenthal, die früher einem Sexpostillen-Verleger gehört hatte – und erregte mit einer schönen Aktion gleich öffentliches Ärgernis: „Von den 260 Straßen in Ischl tragen vier die Namen von Frauen: Oma, Frau, Geliebte und Tochter des Kaisers.“ In einer Klebaktion benannte de Goederen mit Gleichgesinnten unter anderem die Kaiser-Franz-Josef-Straße kurzfristig in Pippi-Langstrumpf-Straße um. Die Straßenumbenennung wurde im Open Call abgelehnt. Sie soll nun auf dem Umweg mit EU-Fördergeld realisiert werden. Es schadet nicht, den Franz-Stelzhamer-Kai, benannt nach einem antisemitischen Autor, in Resi-Pesendorfer-Platz umzutaufen, der lange übersehenen NS-Widerstandskämpferin.

Das Hauptstadtjahr lässt de Goederen an sich vorbeiziehen: „Man kann nicht kooperieren, wenn man nicht miteinander redet. Auf E-Mails wird nicht geantwortet, aus dem Postgebäude nebenan dringt wenig raus.“ Stefan Zweig als Stichwort: „Wir planen seit einem Jahr eine Zweig-Veranstaltung. Parallel veranstaltet die Kulturhauptstadt vier Zweig-Lesungen.“ 2024 macht de Goederen keine Veranstaltungen in der „Kurdirektion“. „2025 fangen wir wieder damit an. Ob das im Sinne des Kulturhauptstadtgedankens ist? Glaub ich eher nicht.“

Der Grafiker Jörg Hoffmann, 63, könnte als gut gelaunte Version des Sängers Waterloo durchgehen. Seit 20 Jahren lebt er in einem Hotel in Gosau am Dachstein. „Ich bin der Marcel Prawy des Salzkammerguts“, lacht er in der Bar des Bad Ischler „k. u. k. Hofbeisls“. Gemeinsam mit anderen hat er die Plattform „Soizkåumabessa“ – Salz kann man besser – gegründet; der offizielle Kulturhauptstadt-Claim lautet „salz kammer gut“. Hoffmann sagt: „Wir sind keine Gegenbewegung zu Intendanz und Geschäftsführung der Kulturhauptstadt, sondern bemühen uns gemeinsam mit der heimischen Gastronomie, Hotellerie und Wirtschaft um ergänzende Alternativprogramme mit heimischen Künstlern.“ Die Kulturhauptstadt erscheint ihm ohne Not aufgemöbelt, zu viele große Namen und Inszenierungen, zu wenig Narzissenfest und Scheibenschützen.

Hoffmann ist kein Kulturkonservativer. Das Salzkammergut kommt ihm 2024 dennoch zu kurz: „Die Kulturhauptstadt ist ein Kunstfestival. Natur, Alltagskultur und die soziografische Einmaligkeit des Salzkammerguts fallen leider unter den Tisch. Die Jahrhundertchance, eine kulturell gewachsene Region in ihrer Gesamtheit vorzustellen und weiterzuentwickeln, wird vertan.“ Und überhaupt: „St. Wolfgang findet im Programm keinerlei Erwähnung. Wie soll man da gut lustig sein?“, feixt er. Hoffmann hat hübsche Anekdoten parat, von denen man nicht immer weiß, ob sie wahr oder gut erfunden sind. Zum Beispiel diese: Hoffmann ist Heißluftballonpilot. In einem Gespräch mit Schweeger hat er, wie es so seine Art ist, nassforsch vorgeschlagen, die Hauptstadteröffnung  2024 mit einem Ballonballett zu bestreiten. Der Ballonflug, beteuert er, soll nun Teil des Jahresprogramms werden. 

Das ist ein Bild, das stehen bleibt, eine letzte Momentaufnahme. Die Kulturhauptstadt mit Startschwierigkeiten. Sie wird wohl dennoch abheben, in lichte Höhen von Kunst und Kultur.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.