Mann mit weißem Haar und dunkler Sonnenbrille hält die goldene Statue eines geflügelten Löwen in seinen Händen
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Venedigs Filmfest 2025: Wie der Goldlöwe für Jim Jarmusch ein Dilemma auslöste

An einen Veteranen des US-Kinos verlieh die Jury der 82. Filmfestspiele in Venedig ihren Goldenen Löwen: Jim Jarmusch erhielt ihn für seine anekdotische Erzählung „Father Mother Sister Brother“. Die Entscheidung löste eine heftige Kontroverse aus.

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Eine überwunden geglaubte Debatte wurde in der Endphase des diesjährigen Filmfestivals in Venedig wieder laut: Sollte eine Jury, die sich selbst ästhetisch und politisch ernst nimmt, den politisch „wichtigsten“, „brisantesten“ Film des Wettbewerbs auszeichnen oder doch, ganz altmodisch, lieber jenes Werk, das sie für das künstlerisch beste hält? 

Den Streit löste ein Film aus, der das Grauen in Gaza ins Visier nimmt: „The Voice of Hind Rajab“, inszeniert von der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania, erzählt – wie berichtet – von dem realen Fall einer Fünfjährigen, die im zerschossenen Auto ihrer Familie als einzige Überlebende stundenlang telefonisch Kontakt zu einer weit entfernten palästinensischen Hilfsorganisation hielt, die ihr versprach, einen Krankenwagen ins Kriegsgebiet zu schicken. Ben Hania verwendete die telefonischen Originalaufzeichnungen des Mädchens und ein sich die Seele aus dem Leib spielendes exilpalästinensisches Ensemble, um die herzzerreißende Geschichte vom Jänner 2024 nachzuspielen.

Die sachkundig besetzte Jury – unter dem Vorsitz des US-Filmemachers Alexander Payne wirkten darin etwa der iranische Dissident Mohammad Rasoulof, sein rumänischer Kollege Cristian Mungiu, die brasilianische Charakterdarstellerin Fernanda Torres sowie die „Vermiglio“-Regisseurin Maura Delpero mit – entschied sich dafür, diesem doch zwiespältigen, sehr manipulativen Film „nur“ ihren Großen Preis in Silber, nicht allerdings den Goldenen Löwen zu verleihen, womit manche Beobachter angesichts von fast 24 Minuten Ovationen nach der Uraufführung aber offenbar gerechnet hatten.     

Minimalistischer Sieger

Die Preisgala am vergangenen Samstagabend in der Sala Grande des Kinopalais am Lido endete daher mit einer Überraschung – mit der Vergoldung eines Films, den kaum jemand als Favorit auf dem Radar hatte. Seine aus drei Episoden gebaute Erzählung von familiärem Zusammenhalt und intergenerationaler Befangenheit, die Jarmusch „Father Mother Sister Brother“ genannt hatte, ist denkbar unspektakulär, fast minimalistisch angelegt: Der New Yorker Filmemacher, inzwischen 72, kehrt damit in gewisser Weise zu seinem Frühwerk zurück, zu subkulturellen Charaktertragikomödien wie „Stranger Than Paradise“ (1984) oder „Down By Law“ (1986). Tatsächlich spielt auch der Musiker Tom Waits, Star im letztgenannten Film, eine der zentralen Rollen in „Father Mother Sister Brother“.

Geht es im ersten und zweiten Teil um die verlegenen Pflichtbesuche zweier Geschwisterpaare bei Vater (Waits) und Mutter (Charlotte Rampling), so dreht sich der dritte um ein Zwillingspaar, das den Unfalltod seiner Eltern zu verarbeiten hat.  Die drei Kurzgeschichten, erzählt mit großer Ruhe und präzisem Blick für menschliche Eigenheiten, hängen nur vage, bloß motivisch zusammen. Ein würdiger Sieger der Filmfestspiele in Venedig jedenfalls.

Die Schichten der Zeit

Mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie zeichnete man Jarmuschs jungen Kollegen Benny Safdie aus, für sein Indie-Sportlerdrama „The Smashing Machine”: Dwayne „The Rock“ Johnson spielt darin erstaunlich sensibel einen Mixed-Martial-Arts-Kämpfer, der sich in Drogensucht und Beziehungsproblemen verheddert. Das beste Drehbuch erkannte man in einer kleinen, aber im Gedächtnis bleibenden französischen Produktion: „À pied d’œuvre“ (An der Arbeit), geschrieben von Regisseurin Valérie Donzelli und Gilles Marchand, handelt vom Abrutschen eines erfolglosen Schriftstellers in das Prekariat der Gelegenheitsarbeit.
Den Spezialpreis der Jury vergab man an einen italienischen Dokumentarpoeten, an Gianfranco Rosi, der in „Unter den Wolken“ in schwarzweißen Bildern und fragmentarischer Erzählweise vom neapolitanischen Leben, von den Schichten der Zeit und der Erde, von Pompeji und dem Vesuv, von Archäologie und Kino berichtete. 

Im Schauspielbereich reüssierten die Chinesin Xin Zhilei, die in dem Trennungsmelodram „The Sun Rises on Us All” (Regie: Cai Shangjun) brillierte, sowie der Italiener Toni Servillo, der in Paolo Sorrentinos „La grazia” den fiktiven Ministerpräsidenten seiner Heimat darstellt. Den „Marcello Mastroianni“-Preis gewann die junge Schweizer Schauspielerin Luna Wedler, deren hintergründige Performance in Ildikó Enyedis auf drei Zeitebenen erzählter Pflanzenintelligenzstudie Film „Silent Friend“ faszinierte.

Stefan Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.