Verlustanzeige: Fiktive Erzählungen aus einer sozial intakten Welt

Nachrichten aus dem Paralleluniversum des Menschengedränges.

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I

Wenn sie lachen musste, klang das bisweilen alarmierend. Die jähe Erheiterung schien ihr die Kehle abzuschnüren, und die Druckwellen ihres Gelächters produzierten eine Art Husten, ein ekstatisches Stottern in den Korridoren des Atmungsapparats. Die Luft blieb ihr vor Freude weg; man musste das schon kennen, um es nicht mehr unheimlich zu finden.

Es führte jedenfalls dazu, dass in ihrer Nähe niemand mehr ganz unbefangen scherzte. Ihre akute Reaktion auf situationskomische Vorkommnisse hatte nicht jene mitreißende Wirkung, die das spontane Lachen anderer so oft hervorrief, sondern eher befremdliche Züge. Aber man gewöhnte sich, wie an alles, auch daran.

Abends sahen sie gemeinsam einen Film, eine seltsame, fast wortlose Komödie, das Werk eines palästinensischen Regisseurs, von dem sie nie gehört hatte, der aber, wie eine schnelle Online-Recherche danach ergab, bereits seit ein paar Jahrzehnten an einer ganz eigenen Vision tragikomischer Kinoerzählungen arbeitete. Seine jüngste Produktion berichtete von der Reise durch eine fremd gewordene Welt, zeigte die irreale Schönheit menschenleerer Plätze in großen Städten, ein leergefegtes Paris. Das vollbesetzte Kino, in dem sie saßen, zwischen Unbekannten, von denen einige vernehmlich mit den Plastikverpackungen ihrer eingeschleppten Süßwaren raschelten, bildete einen heiteren Kontrast zur Einsamkeit des sich durch die Filmbilder schleppenden Touristen wider Willen.

Joggen mit dem Maschinengewehr und mit der Panzerfaust zum Gemüseregal des Supermarkts. Wenn das der Himmel sein sollte, konnte man es gut erwarten, dorthin vorzudringen.

„It Must Be Heaven“ hieß der Film, aber das konnte nur sarkastisch gemeint sein, denn himmlisch sah weder die gespenstisch entvölkerte Welt aus, die er präsentierte, noch die martialische Bewaffnung, die anderswo, in einer amerikanischen Metropole, zum Alltag geworden war: Joggen mit dem Maschinengewehr und mit der Panzerfaust zum Gemüseregal des Supermarkts. Wenn das der Himmel sein sollte, konnte man es gut erwarten, dorthin vorzudringen.

In einer der Pariser Szenen musste sich der verunsicherte Held des Films, arglos dargestellt vom Regisseur selbst, die evakuierten Waggons und Bahnsteige der Metro mit einem dosenbiertrinkenden jungen Mann teilen, der ihn nicht aus den Augen ließ, ihn aus kurzer Distanz durchdringend und hasserfüllt anblickte, ihm (ohne ihn je zu berühren) gefährlich naherückte, als wäre gerade dies – eine ungekannte neue Aggression – das notwendige Ergebnis des unerklärlichen Fehlens der Menschen in den Straßen der Stadt.

II

Er hört, während der erwartete Urteilsspruch ergeht, nur mit halbem Ohr hin, denkt bereits an die Haftbedingungen, die ihm nun, wenn er ein wenig Glück hat, allenfalls einige Monate lang zugemutet werden sollen. „Bei guter Führung“, klar, was immer das genau heißen mag. Sein Hausverstand erklärt ihm den Begriff so: unauffällig bleiben, die Regeln beachten, nicht aus der Rolle fallen.

Sein Vergehen ist gering (findet wenigstens er selbst), eine Haftstrafe wäre da nicht unbedingt nötig gewesen, aber gut, das hohe Gericht wollte das anders sehen. Mit gewissen Lockerungen des Strafvollzugs könne er immerhin rechnen, hat man ihm gesagt. Vorausgesetzt, er mache alles brav und richtig. Es werde beschränkten Ausgang geben, er werde tagsüber seine Wohnung oder auch seinen Arbeitsplatz ansteuern dürfen, von dem er gerade gar nicht weiß, ob es ihn noch gibt – aber er werde direkt gehen müssen, nicht auf irgendeiner Parkbank pausieren oder gar auf ein Bier einkehren dürfen.

Am Ende wird es zu einer Rückkehr kommen, zu dem, was man so technisch 'Resozialisierung' nennt.

Er wird seinen Freigang dennoch dringend einfordern, so viel ist sicher. Das Sozialleben hinter Gittern ist nämlich überschätzt. Zu viele schlecht gelaunte Menschen auf zu engem Raum. Wer da nicht krank wird, hat das Immunsystem eines Außerirdischen.

Am Ende wird es zu einer Rückkehr kommen, zu dem, was man so technisch „Resozialisierung“ nennt. Er wird zurück sein in einer „Gesellschaft“, die er angeblich gerade verlassen hat und die er nach den paar Monaten vielleicht dringender herbeisehnen wird, als er es sich im Augenblick vorstellen kann. Und er wird vielleicht feststellen, dass ihn dort niemand vermisst hat.

Er verscheucht den Gedanken mit einer unwillkürlichen Handbewegung, von der er sofort hofft, dass sie keiner gesehen hat, man könnte ihn ja für verwirrt oder geistesabwesend halten, wie er da sitzt neben seinem betrübt vor sich hin starrenden Pflichtverteidiger, dessen Namen er schon wieder vergessen hat. Nein, er muss das alles auf sich zukommen lassen. Neue Lage, unzählbare Tage.

III

Ob ich zufällig wüsste, was „AGesVG“ bedeute, fragte mich der uniformierte Mann mit siegessicherer Miene. Ich verneinte wahrheitsgemäß und lehnte mich möglichst entspannt gegen mein Fahrrad, schloss aber, nur um den Wichtigtuer ein wenig zu ärgern, gleich die Beobachtung an, dass die aparte Buchstabenkombination in ihrer phonetischen Ähnlichkeit mit dem geläufigeren Kürzel ASVG doch stark in den Sozialversicherungsbereich schimmerte, ich jedoch kaum Zweifel daran hegte, dass dies die falsche Fährte sei. Nein, er möge die Antwort auf die spannende Frage bitte nicht sofort verraten, mir noch ein paar Sekunden Bedenkzeit geben. Ich sei übrigens bereit, gegebenenfalls auch meinen Telefonjoker dafür einzusetzen.

Ich war nicht sicher, ob er mir überhaupt zugehört hatte, denn er fing, ohne auf meine spitzfindige Replik zu reagieren, damit an, in stark pädagogischem Tonfall zu erläutern, dass sich hinter der Abkürzung ein erst wenige Monate altes Bundesgesetz verberge: „AGesVG“, das stehe für Österreichs neues „Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz“, eine „die Integration fördernde Maßnahme“, wie er bedeutungsvoll hinzufügte. „Wer an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden seine Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände in einer Weise verhüllt oder verbirgt, dass sie nicht mehr erkennbar sind, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 150 Euro zu bestrafen“, deklamierte er mit Blick auf sein Smartphone, um mir anschließend triumphierend in die Augen zu schauen.

Erst ein paar Stunden später, längst wieder daheim angekommen, las ich jene Passage, die mir der Polizeibeamte aus gutem Grund vorenthalten hatte ...

Ich hatte nun noch weniger Lust, mir den Schal vom Gesicht zu nehmen, obwohl ich den Frost dieses Wintertags gar nicht mehr spürte. Widerwillig schob ich ihn mir unters Kinn, und erstmals konnte ich den üblen Atem des schulmeisternden Wachmanns riechen, der für meinen Geschmack deutlich zu nahe an mich herangerückt war. Großzügig beließ er es bei einer Verwarnung und wünschte mir noch sarkastisch einen schönen Tag.

Erst ein paar Stunden später, längst wieder daheim angekommen, las ich jene Passage, die mir der Polizeibeamte aus gutem Grund vorenthalten hatte: „Ein Verstoß gegen das Verhüllungsverbot gemäß Abs.1 liegt nicht vor, wenn die Verhüllung oder Verbergung der Gesichtszüge durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist, im Rahmen künstlerischer, kultureller oder traditioneller Veranstaltungen oder im Rahmen der Sportausübung erfolgt oder gesundheitliche oder berufliche Gründe hat.“

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.