Robert Treichler: Abdoullakh war nicht allein

Ein islamistisches Milieu war der Nährboden für den Mord an einem Lehrer in Frankreich. Dagegen vorzugehen ist heikel, aber notwendig.

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War es ein Einzelfall? Auf den ersten Blick ja. Abdoullakh Anzorov, ein 18 Jahre alter Russe tschetschenischer Herkunft, der als Flüchtling seit sechs Jahren in Frankreich lebt, hat am 16. Oktober den 47 Jahre alten Mittelschullehrer Samuel Paty getötet und enthauptet. Paty hatte im Unterricht seinen 13 Jahre alten Schülerinnen und Schülern im Rahmen einer Diskussion über Blasphemie zwei Mohammed-Karikaturen gezeigt. Anzorov kannte Paty nicht, er hatte keinen Bezug zu der Schule; er fuhr 180 Kilometer, wartete vor dem Gebäude, gab Schülern Geld, damit sie ihm zeigten, wer Paty sei. Dann zog er ein 35 Zentimeter langes Messer. 


Der Täter ist tot, von der Polizei bei der Festnahme erschossen.


Doch die Tat hatte einen Nährboden. Zu dem Zeitpunkt, als Anzorov den Lehrer erstach, war dieser bereits massiv unter Druck gesetzt worden.


Es begann mit dem Vater einer Schülerin, der gegen Paty zu agitieren begann. Er postete zwei Videos, in denen er Paty beschimpfte und dazu aufrief, gegen ihn vorzugehen. Dann forderte der Vater die Schuldirektorin auf, Paty zu maßregeln; es hagelte anonyme Drohungen. Schließlich erstattete Paty Anzeige wegen Verleumdung. Die Videos gingen unter Muslimen und islamischen Institutionen viral. Auf der Facebook-Seite der Großen Moschee des Pariser Vorortes Pantin etwa wurde eines geteilt.


Auch der spätere Attentäter wurde durch die Videos auf Paty aufmerksam. Die Ermittler fanden heraus, dass er den erbosten Vater per WhatsApp kontaktierte.


So entstand ein Klima der Einschüchterung gegenüber einem Lehrer, der nichts anderes gemacht hatte als seinen Job – und der ist keine Kleinigkeit: Heranwachsenden mit unterschiedlichem religiösen und kulturellen Hintergrund die Begrifflichkeiten von Toleranz, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit nahezubringen.

Die breite Öffentlichkeit hätte von der Kampagne gegen Paty nichts erfahren, wenn nicht am Ende der barbarische Mord die Nation schockiert hätte. Jetzt allerdings muss sich die französische Regierung dem Vorwurf stellen, bisher zu wenig gegen ein islamistisches Milieu unternommen zu haben, das sich den Werten der Republik widersetzt, deren Institutionen attackiert und systematisch an einer Parallelwelt baut.


Ein Beispiel: Weil der Staat in den Schulen das Tragen von Kopftüchern (und anderen religiösen Zeichen) verboten hat, organisieren islamistische Gruppierungen Schulen außerhalb des staatlichen Einflusses. Neben offiziell gelisteten Privatschulen sind dies auch Schulen, die nicht als solche gemeldet sind. Muslime geben gegenüber den Behörden an, ihre Kinder im Homeschooling selbst zu unterrichten, schicken sie tatsächlich aber in klandestine Einrichtungen, die ihre Schüler im Sinne des politischen Islam indoktrinieren.


Die Regierung will solchen Umtrieben ein Ende setzen. Staatspräsident Emmanuel Macron spricht von einem „islamistischen Separatismus“, der den Staat unterminiere, und setzt auf strengere Gesetze und Härte. Islamische Organisationen, die sich an Kampagnen wie jener gegen den Mittelschullehrer Paty beteiligen, sollen geschlossen werden – etwa auch die Große Moschee von Pantin. 


Der prominente Islamforscher Gilles Kepel schreibt in einem Kommentar in der Tageszeitung „Le Monde“ von einem „atmosphärischen Dschihadismus“, gegen den die bisher angewandten Anti-Terror-Maßnahmen wirkungslos seien. Es brauche neue Strategien.


Das jedoch ist rechtstaatlich diffizil und politisch heikel: Die Behörden zielen nicht mehr auf eine kleine Gruppe von Terroristen ab, sondern auf einen viel größeren Kreis von Personen, die islamistische Ideen – absichtlich oder gedankenlos – verbreiten; manchmal durch bloßes Teilen eines Videos. 


Die Regierung darf dabei jedoch nicht den Verdacht wecken, sie wolle Muslime in Bausch und Bogen kriminalisieren. Um möglichst viele der französischen Muslime auf die Seite der Republik zu bringen – und da auch zu halten–, braucht es die Kooperation islamischer Institutionen. Die Große Moschee von Pantin hat inzwischen das Verbreiten des Hetzvideos gegen Paty bedauert und ihre Gläubigen aufgerufen, an einer Demonstration zur Unterstützung „der Meinungsfreiheit und des Lehrpersonals der Schulen der Republik“ teilzunehmen. Das ist ein Anfang, aber der Staat muss von muslimischen Einrichtungen noch mehr verlangen: Sie sollen ganz konkret klarmachen, dass sie keinen Einwand gegen die Straffreiheit von Blasphemie haben; dass Lehrer Mohammed-Karikaturen als Anschauungsmaterial verwenden dürfen und dass die Werte der republikanischen Erziehung durch den Islam nicht infrage gestellt werden dürfen.


Das hat nichts mit einem Generalverdacht gegenüber Muslimen zu tun. Der Großteil von ihnen hat mit den Grundwerten der Republik kein Problem. Doch wenn virale Stimmungsmache von Islamisten unter Muslimen Verbreitung findet, haben islamische Institutionen die Verantwortung, etwas dagegen zu unternehmen.


Hetze gegen Muslime macht es politisch schwer, solche Forderungen zu erheben. Aber wenn der Staat glaubhaft gegen antimuslimische Diskriminierung vorgeht, kann er auch Forderungen an Muslime richten.

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Twitter: @robtreichler

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur